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Bundesstrafgericht Urteil

Kopfdaten
Instanz:Bundesstrafgericht
Abteilung:Beschwerdekammer: Strafverfahren
Fallnummer:BB.2009.76
Datum:21.12.2009
Leitsatz/Stichwort:Säumnis (Art. 105bis Abs. 2 BStP).
Schlagwörter : Beschwerde; Bundes; Beschwerdeführer; Beschwerdegegnerin; Bundesstrafgericht; Kammer; Einstellung; Bundesstrafgerichts; Anklage; Beschwerdekammer; Bundesanwalts; Partei; Säumnis; Sachverhalte; Bundesanwaltschaft; Verfahren; Entscheid; Verfahren; Parteien; Steinmann; Formelle; Gerichtskosten; Frist; Rechtsverweigerung; Urkunden; Rechtsverzögerung; Verteidiger; Verfolgung
Rechtskraft:Kein Rechtsmittel gegeben
Rechtsnorm: Art. 13 StGB ; Art. 2 BV ; Art. 22 StGB ; Art. 25 StGB ; Art. 29 BV ; Art. 3 BV ; Art. 31 StGB ; Art. 6 EMRK ; Art. 66 BGG ; Art. 68 BGG ;
Kommentar zugewiesen:
Steinmann, Kommentar, 2. Aufl., Zürich, Art. 29 BV, 2008
Vest, Kommentar, 2. Aufl., Zürich, Art. 32 BV, 2008
Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017
Entscheid

Bundesstrafgericht

Tribunal pénal fédéral

Tribunale penale federale

Tribunal penal federal

Geschäftsnummer: BB.2009.76

Entscheid vom 21. Dezember 2009
I. Beschwerdekammer

Besetzung

Bundesstrafrichter Emanuel Hochstrasser , Vorsitz,

Tito Ponti und Alex Staub ,

Gerichtsschreiberin Tanja Inniger

Parteien

A. ,

vertreten durch Fürsprecher Stephan Schmidli,

Beschwerdeführer

gegen

Bundesanwaltschaft,

Beschwerdegegnerin

Gegenstand

Säumnis (Art. 105 bis Abs. 2 BStP)


Sachverhalt:

A. Die Bundesanwaltschaft eröffnete am 16. Dezember 2004 ein gerichtspolizeiliches Ermittlungsverfahren gegen A. und einen Mitbeschuldigten wegen des Verdachts auf Sich-Bestechen-Lassen (Art. 322 quater StGB ) sowie ungetreue Amtsführung (Art. 314 StGB ). Am 11. März 2005 dehnte die Bundesanwaltschaft das Verfahren gegen A. auf den Tatbestand des Amtsmissbrauchs (Art. 312 StGB ) aus. Im Rahmen der Voruntersuchung verfügte der Eidgenössische Untersuchungsrichter im Weiteren die Ausdehnung auf die Tatbestände der Veruntreuung (Art. 138 StGB), der Unterdrückung von Urkunden (Art. 254 StGB ), der Urkundenfälschung im Amt (Art. 317 StGB ) und der Widerhandlung gegen das ANAG (heute: AuG).

B. Die Bundesanwaltschaft erhob am 18. August 2009 bei der Strafkammer des Bundesstrafgerichts Anklage gegen A. wegen Urkundenfälschung im Amt (Art. 317 StGB), versuchter Urkundenfälschung im Amt (Art. 317 i.V.m. Art. 22 Abs. 1 StGB ), Sich-Bestechen-Lassens (Art. 322 quater StGB ), eventuell Vorteilsannahme (Art. 322 sexies StGB) sowie Widerhandlung gegen das ANAG (heute: AuG) (act. 6).

C. A. erhob mit Eingabe vom 4. September 2009 Beschwerde bei der I. Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts und stellte folgenden Antrag (act. 1):

Die Beschwerdegegnerin sei anzuweisen, umgehend das Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer betreffend all diejenigen Sachverhalte einzustellen, weswegen zwar in den Vorverfahren die Strafverfolgung eröffnet oder ausgedehnt worden ist, welche aber keinen Niederschlag in der Anklageschrift an das Bundesstrafgericht gefunden haben, unter Kosten- und Entschädigungsfolge.

In der innert erstreckter Frist (act. 5) eingereichten Beschwerdeantwort vom 7. Oktober 2009 beantragte die Bundesanwaltschaft, die Beschwerde sei abzuweisen und die ausgelösten Anwalts- und Gerichtskosten seien dem Beschwerdeführer oder dessen Verteidiger aufzuerlegen (act. 7).

Mit Replik vom 16. Oktober 2009 hielt A. an dem in der Beschwerde gestellten Antrag fest und schloss auf Abweisung der Anträge der Bundesanwaltschaft (act. 11).

Auf die Ausführungen der Parteien sowie die eingereichten Akten wird, soweit erforderlich, in den rechtlichen Erwägungen Bezug genommen.

Die I. Beschwerdekammer zieht in Erwägung:

1.

1.1 Gegen Amtshandlungen und wegen Säumnis des Bundesanwalts ist die Beschwerde nach den Verfahrensvorschriften der Art. 214 - 219 BStP an die I. Beschwerdekammer des Bundesstrafgerichts zulässig (Art. 105 bis Abs. 2 BStP i.V.m. Art. 28 Abs. 1 lit. a SGG i.V.m. Art. 9 Abs. 2 des Reglements vom 20. Juni 2006 für das Bundesstrafgericht; SR 173.710). Die Beschwerde steht den Parteien und einem jeden zu, der durch eine Verfügung oder durch die Säumnis des Bundesanwalts einen ungerechtfertigten Nachteil erleidet (Art. 214 Abs. 2 BStP ). Beschwerden gegen Säumnis unterliegen keiner Frist; sie können erhoben werden, solange die Säumnis andauert (vgl. Bänziger/Leimgruber , Das neue Engagement des Bundes in der Strafverfolgung, Bern 2001, N 259, 268; Entscheid des Bundesstrafgerichts BB.2004.36 vom 20. Januar 2005, E. 1.2, m.w.H.).

1.2 Bei der Anklageerhebung im Verfahren gegen den Beschwerdeführer wurde lediglich ein Teil der ihm vorgeworfenen Straftaten zur Anklage gebracht, ohne über die restlichen, gegen ihn bestehenden Vorwürfe zu befinden. Der Beschwerdeführer ist somit von einer allfälligen Säumnis des Bundesanwaltes betroffen und als Partei zur Beschwerde legitimiert. Auf die Beschwerde ist demnach einzutreten.

2.

2.1 Der Beschwerdeführer wirft der Beschwerdegegnerin Säumnis vor, da sie die Einstellungsverfügung betreffend diejenigen Sachverhalte unterlassen habe, weswegen die Strafverfolgung zwar eröffnet oder ausgedehnt worden sei, die aber nicht mehr Gegenstand der vorliegenden Anklageschrift seien. Es fehle an jeder Stellungnahme bezüglich dieser Sachverhalte. Bereits auf vorangehend gestellte Einstellungsbegehren habe die Beschwerdegegnerin nicht reagiert. Gemäss telefonischer Nachfrage sehe die Beschwerdegegnerin momentan keinen Handlungsbedarf. Damit verletze sie das Grundrecht auf rechtliches Gehör sowie das fair trial-Gebot gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK , wonach der Beschwerdeführer das Anrecht habe, dass alle ihm zur Last gelegten Sachverhalte innerhalb angemessener Frist erledigt werden. Zudem seien die Art. 120 ff . BStP verletzt, da die Einstellung vor dem Verfahren vor der Strafkammer hätte verfügt werden müssen (act. 1).

2.2 Unter Säumnis ist eine Unterlassung durch die Ermittlungs- und Untersuchungsbehörden zu verstehen ( Bänziger/Leimgruber , a.a.O., N. 258, 268). Es kann sich dabei um eine formelle Rechtsverweigerung oder eine ihr nahe stehende Rechtsverzögerung handeln. Gemäss Art. 29 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK hat jede Person Anspruch auf Beurteilung innert angemessener Frist, wobei das Verbot der formellen Rechtsverweigerung und das Verbot der Rechtsverzögerung darin enthalten sind (vgl. Hauser/Schweri/Hartmann , Schweizerisches Strafprozessrecht, 6. Aufl., Basel 2005, S. 16/17 N. 3). Eine formelle Rechtsverweigerung liegt vor, wenn eine Behörde auf eine entsprechende Eingabe fälschlicherweise nicht eintritt oder eine solche ausdrücklich oder stillschweigend nicht an die Hand nimmt und behandelt, obwohl sie dazu verpflichtet wäre ( Steinmann , Die schweizerische Bundesverfassung, Kommentar, 2. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2008, Art. 29 BV N. 10; Hauser/Schweri/Hartmann , a.a.O., S. 17 N. 4, je m.w.H.), und insbesondere bei vollständigem Fehlen eines Entscheides der zuständigen Behörde ( TPF 2008 86 E. 2.4 S. 88). Eine Rechtsverzögerung der Behörde liegt vor, wenn ihr Entscheid über Gebühr verschleppt wird ( Steinmann , a.a.O., Art. 29 BV N. 11 f.; Hauser/Schweri/Hartmann , a.a.O., S. 17 N. 6; TPF 2008 86 E. 2.3 S. 87/88; Entscheid des Bundesstrafgerichts BB.2008.48 vom 16. September 2008, E. 4.2, je m.w.H.).

2.3 Die Voruntersuchung wurde mit Schlussverfügung vom 12. Dezember 2008 abgeschlossen. Diese Verfügung war der I. Beschwerdekammer gemäss Art. 119 Abs. 3 BStP kommuniziert worden. Der Beschwerdeführer bringt in der Beschwerde und wiederholt in der Replik vor, dass schon mehrfach schriftliche Anträge um (Teil-) Einstellung der Strafverfolgung gestellt worden seien, und zwar schon anlässlich des Abschlusses der Voruntersuchung und am 28. Juli 2009 (act. 1, S. 3, Ziff. 1, S. 5, Ziff. 7; act. 11, S. 1, Ziff. 1, S. 2, Ziff. 4, S. 3, Ziff. 6). Die konkreten Anträge werden zwar vom Beschwerdeführer nicht mittels Kopien belegt, jedoch seitens der Beschwerdegegnerin nicht bestritten. Die I. Beschwerdekammer kann daher von der vom Beschwerdeführer geschilderten Sachlage ausgehen.

Die Beschwerdegegnerin reagierte daraufhin nur insoweit, als sie am 18. August 2009 gegen den Beschwerdeführer Anklage bezüglich einzelner, ihm zur Last gelegter Straftaten erhob. Die Frage nach der Einstellung derjenigen ihm vorgeworfenen Straftaten, die nicht in der Anklage enthalten sind, blieb somit nach wie vor unbeantwortet. Hierbei ist zusätzlich anzumerken, dass im Zeitpunkt der Teilanklage die Beschwerdegegnerin bezüglich des verbleibenden Teils des Strafverfahrens zumindest klar über dessen Schicksal kommunizieren muss, falls keine gleichzeitige Erledigung - sei dies durch Einstellung oder Abtrennung - erfolgt. Denn diesbezüglich besteht seitens der beschuldigten Partei ein Interesse auf Information und Klarheit (vgl. Vest , Die schweizerische Bundesverfassung, Kommentar, 2. Aufl., Zürich/Basel/Genf 2008, Art. 32 BV N. 23).

Nach der Teilanklage, und zwar am 24. August 2009, führte der Verteidiger des Beschwerdeführers mit der Beschwerdegegnerin ein Telefongespräch, welches beide Parteien in ihren Eingaben aus ihrer Sicht schildern (act. 7; act. 11; act. 11.1). Unabhängig vom konkreten Inhalt des Gesprächs, welcher aufgrund der äusserst widersprüchlichen Darlegungen der Parteien nicht eruierbar ist, steht zumindest fest, dass wiederum die (fehlende) Einstellung der nicht zur Anklage gebrachten Sachverhalte das Thema des Telefonats war und das Gespräch in Anbetracht der Beschwerde vom 4. September 2009 offensichtlich zu keinem Ergebnis führte.

Nebst der Behauptung, dass dem Verteidiger des Beschwerdeführers während dem Telefongespräch die Einstellung der nicht zur Anklage gebrachten Sachverhalte vor der Hauptverhandlung in Aussicht gestellt worden sei (act. 7, S. 2, Ziff. 4), was vom Verteidiger vehement bestritten wird (act. 11, S. 2, Ziff. 3), liegt seitens der Beschwerdegegnerin einzig die Bemerkung in der Beschwerdeantwort vor, dass eine Teileinstellung des Strafverfahrens vor der Hauptverhandlung nie bestritten gewesen und nicht bestritten sei (act. 7, S. 3, Ziff. 5). Tatsache ist jedoch, dass bis anhin weder eine Erledigung noch eine klare Information gegenüber dem Beschwerdeführer, mithin keine verbindliche Antwort, bezüglich der nicht angeklagten Sachverhalte erfolgte. Ausgehend von den (Teil-) Einstellungsanträgen ist die Beschwerdegegnerin demnach seit langer Zeit säumig. Dieses Verhalten der Beschwerdegegnerin verletzt nicht nur den Anspruch auf rechtliches Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV (vgl. Steinmann , a.a.O., Art. 29 BV N. 25-27; Entscheid des Bundesstrafgerichts BB.2008.90 vom 12. Mai 2009, E. 1.1, Abschnitt 4 f. e contrario), sondern stellt auch eine formelle Rechtsverweigerung oder zumindest eine Rechtsverzögerung und damit eine Verletzung von Art. 29 Abs. 1 BV dar (vgl. Steinmann , a.a.O., Art. 29 BV N. 10; zum Ganzen TPF 2008 86 E. 2.4 S. 88, m.w.H.; Hauser/Schweri/Hartmann , a.a.O., S. 17 N. 7).

2.4 Aufgrund der vorangehenden Ausführungen ist die Beschwerde gutzuheissen. Die Beschwerdegegnerin, welche der I. Beschwerdekammer im Rahmen der Beschwerdeantwort implizit die Einstellung der gegen den Beschwerdeführer nicht zur Anklage gebrachten Sachverhalte in Aussicht stellt (act. 7, S. 3, Ziff. 5), wird angewiesen, diese Einstellungsverfügung ohne Verzug zu erlassen (vgl. Steinmann , a.a.O., Art. 29 BV N. 10 in fine).

3.

3.1 Bei diesem Ausgang des Verfahrens ist die Beschwerdegegnerin die unterliegende Partei. Ihr dürfen aber in der Regel keine Gerichtskosten auferlegt werden (Art. 245 Abs. 1 BStP i.V.m. Art. 66 Abs. 4 BGG ), weshalb keine Gerichtskosten zu erheben sind. Die Bundesstrafgerichtskasse ist anzuweisen, dem Beschwerdeführer den geleisteten Kostenvorschuss in der Höhe von Fr. 1'500.-- zurückzuerstatten.

3.2 Die Beschwerdegegnerin hat den obsiegenden Beschwerdeführer für das vorliegende Beschwerdeverfahren mit einer Parteientschädigung von Fr. 1'500.-- (inkl. Auslagen und MwSt.) zu entschädigen (Art. 245 Abs. 1 BStP i.V.m. Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG i.V.m. Art. 3 des Reglements vom 26. September 2006 über die Entschädigungen in Verfahren vor dem Bundesstrafgericht; SR 173.711.31).


Demnach erkennt die I. Beschwerdekammer:

1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Die Beschwerdegegnerin wird angewiesen, die in Aussicht gestellte Einstellungsverfügung unverzüglich zu erlassen.

2. Es werden keine Gerichtskosten erhoben. Die Bundesstrafgerichtskasse wird angewiesen, dem Beschwerdeführer den geleisteten Kostenvorschuss von Fr. 1'500.-- zurückzuerstatten.

3. Die Beschwerdegegnerin hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor der I. Beschwerdekammer eine Entschädigung von Fr. 1'500.-- (inkl. Auslagen und MwSt.) zu bezahlen.

Bellinzona, 22. Dezember 2009

Im Namen der I. Beschwerdekammer
des Bundesstrafgerichts

Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin :

Zustellung an

- Fürsprecher Stephan Schmidli

- Bundesanwaltschaft

Kopie zur Kenntnis an

- Strafkammer des Bundesstrafgerichts

Rechtsmittelbelehrung

Gegen diesen Entscheid ist kein ordentliches Rechtsmittel gegeben.

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