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Bundesverwaltungsgericht Urteil D-3130/2019

Kopfdaten
Instanz:Bundesverwaltungsgericht
Abteilung:Abteilung IV
Dossiernummer:D-3130/2019
Datum:27.06.2019
Leitsatz/Stichwort:Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dublin-Verfahren)
Schlagwörter : Beschwerde; Beschwerdeführerin; Menschenhandel; Italien; Vorinstanz; Recht; Opfer; Frauen; Gehör; Dublin; Verfahren; Verfügung; Ständig; Frauenteam; Akten; Befragung; Angehört; Behörden; Bundesverwaltungsgericht; Sachverhalt; Menschenhandels; Reinen; Schweiz; Asylgesuch; Erweiterte; Person
Rechtsnorm: Art. 48 VwVG ; Art. 52 VwVG ; Art. 61 VwVG ; Art. 63 VwVG ; Art. 83 BGG ;
Referenz BGE:-
Kommentar zugewiesen:
Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017
Weitere Kommentare:-
Entscheid

B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t

T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i f f é d é r a l

T r i b u n a l e a m m i n i s t r a t i v o f e d e r a l e T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i v f e d e r a l

Abteilung IV D-3130/2019

vao

U r t e i l  v o m  2 7.  J u n i  2 0 1 9

Besetzung Einzelrichter Hans Schürch,

mit Zustimmung von Richter William Waeber, Gerichtsschreiberin Regula Aeschimann.

Parteien A. , geboren am ( ), Nigeria,

vertreten durch MLaw Denise Baltensperger, Berner Rechtsberatungsstelle für Menschen in Not, Beschwerdeführerin,

gegen

Staatssekretariat für Migration (SEM), Quellenweg 6, 3003 Bern,

Vorinstanz.

Gegenstand Nichteintreten auf Asylgesuch und Wegweisung (Dublin-Verfahren);

Verfügung des SEM vom 11. Juni 2019 / N ( ).

Das Bundesverwaltungsgericht stellt fest,

dass die Beschwerdeführerin von Italien her kommend in die Schweiz einreiste und am 19. Februar 2019 im Empfangsund Verfahrenszentrum (EVZ) B. um Asyl nachsuchte,

dass sie am 1. März 2019 im Rahmen einer Befragung zur Person (BzP) zu ihren persönlichen Umständen, zum Reiseweg sowie summarisch zu ihren Asylgründen befragt wurde, wobei ihr auch das rechtliche Gehör zu einer möglichen Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylund Wegweisungsverfahrens gewährt wurde,

dass gleichentags im Anschluss an die BzP ein "Erweitertes rechtliches Gehör Dublin" stattfand,

dass die Beschwerdeführerin geltend machte, sie stamme aus C. (D. ) und habe dort bei ihren Eltern gewohnt sowie von deren Unterstützung gelebt,

dass ihr Onkel aufgrund von Landstreitigkeiten ihre Eltern im Jahr 2013 umgebracht und ihr gedroht habe, er werde auch sie töten,

dass sie daraufhin nach E. gegangen sei, wo sie obdachlos gewesen sei und sich mit dem Verkauf von Wasser durchgeschlagen habe,

dass eine Frau sie eines Tages angesprochen und gefragt habe, weshalb sie nicht zur Schule gehe,

dass ihr diese "Madame" Unterstützung angeboten und gesagt habe, sie könne sie nach Italien bringen, damit sie dort eine Schule besuchen könne,

dass sie zusammen nach Libyen gereist seien, wo sie (die Beschwerdeführerin) gegen eine Geldzahlung einer anderen "Madame" übergeben worden sei, welche dann darauf bestanden habe, dass sie ihr das Geld zurückzahle,

dass sie diese Madame zur Prostitution gezwungen und - als sie dies nicht habe machen wollen - mit dem Tod bedroht habe; zudem habe sie ein Ritual durchführen und habe einen Schwur leisten müssen,

dass die Madame sie schliesslich nach Italien geschickt habe, da das Geld noch nicht vollständig abbezahlt gewesen sei,

dass sie sich auch in Italien habe prostituieren müssen, wobei die Madame in Libyen sie ständig telefonisch kontaktiert habe,

dass ihr Körper diese Arbeit irgendwann nicht mehr mitgemacht habe und es ihr gesundheitlich schlechter gegangen sei,

dass sie dies der Madame gesagt habe, welche ihr aber damit gedroht habe, wenn sie nicht weitermache, würde sie ihre Leute nach Italien schicken, damit diese sie umbringen würden,

dass sie sich daraufhin entschieden habe, Italien zu verlassen und in die Schweiz zu kommen,

dass die italienischen Behörden das SEM auf ein entsprechendes Informationsersuchen hin darüber in Kenntnis setzten, dass die Beschwerdeführerin am 16. Oktober 2018 illegal in Italien eingereist sei,

dass das SEM daraufhin am 3. April 2019 gestützt auf Art. 13 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (nachfolgend: Dublin-III-VO) die italienischen Behörden um Übernahme der Beschwerdeführerin ersuchten,

dass die italienischen Behörden innerhalb der festgelegten Frist zum Übernahmeersuchen keine Stellung nahmen,

dass das SEM mit Verfügung vom 11. Juni 2019 - eröffnet am 13. Juni 2019 - in Anwendung von Art. 31a Abs. 1 Bst. b AsylG (SR 142.31) auf das Asylgesuch vom 19. Februar 2019 nicht eintrat, die Wegweisung nach Italien verfügte, die Beschwerdeführerin - unter Androhung von Zwangsmitteln im Unterlassungsfall - aufforderte, die Schweiz am Tag nach Ablauf der Beschwerdefrist zu verlassen, den Kanton B. mit dem Vollzug der Wegweisung beauftragte, der Beschwerdeführerin die editionspflichtigen Akten gemäss Aktenverzeichnis aushändigte und feststellte, eine allfällige Beschwerde gegen die Verfügung habe keine aufschiebende Wirkung,

dass das SEM seine Verfügung im Wesentlichen damit begründete, dass die Beschwerdeführerin das Hoheitsgebiet der Dublin-Mitgliedsstaaten erstmals in Italien betreten habe und mit der fehlenden Stellungnahme der

italienischen Behörden auf das Übernahmeersuchen die Zuständigkeit zur Durchführung des Asylund Wegweisungsverfahrens auf Italien übergegangen sei,

dass nicht davon auszugehen sei, dass die Beschwerdeführerin bei einer Überstellung nach Italien gravierenden Menschenrechtsverletzungen im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO und Art. 3 EMRK ausgesetzt werde, in eine existenzielle Notlage geriete oder ohne Prüfung ihres Asylgesuchs und unter Verletzung des Non-Refoulment-Gebots in ihren Heimatrespektive Herkunftsstaat überstellt werden würde; zudem lägen in Italien keine systemischen Mängel im Asylund Aufnahmesystem vor,

dass Italien die Konvention des Europarates gegen Menschenhandel ratifiziert habe und vom SEM darüber in Kenntnis gesetzt worden sei, dass die Beschwerdeführerin ein potenzielles Opfer von Menschenhandel sei,

dass sie die Gelegenheit habe, in Italien ein Asylgesuch einzureichen, und die von ihr geltend gemachten Straftaten im Zusammenhang mit Menschenhandel, dessen Opfer sie angeblich geworden sei, bei den dafür zuständigen Behörden vorzubringen,

dass sie zudem die Möglichkeit habe, sich an diverse Organisationen in Italien zu wenden, welche sich Opfern von Menschenhandel annähmen,

dass sich somit keine Gründe ergeben würden, welche die Anwendung der Souveränitätsklausel angezeigt erscheinen liessen,

dass die Beschwerdeführerin - handelnd durch ihre Rechtsvertreterin - gegen diesen Entscheid mit Eingabe vom 19. Juni 2019 beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde erhob und beantragte, die angefochtene Verfügung sei aufzuheben und die Sache sei zur vollständigen und richtigen Feststellung des Sachverhalts an die Vorinstanz zurückzuweisen, eventualiter sei die Vorinstanz anzuweisen, auf ihr Asylgesuch einzutreten, subeventualiter sei die Vorinstanz anzuweisen, effektive, individuelle Zusicherungen bezüglich Zugang zu einem Schutzprogramm für Opfer von Menschenhandel und adäquater medizinischer Versorgung sowie Unterbringung von den italienischen Behörden einzuholen,

dass in verfahrensrechtlicher Hinsicht beantragt wurde, der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zu gewähren und es seien die Vorinstanz

und die Vollzugsbehörden im Rahmen von vorsorglichen Massnahmen unverzüglich anzuweisen, bis zum Entscheid über das vorliegende Rechtsmittel von jeglichen Vollzugshandlungen abzusehen,

dass zudem um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege, Verzicht auf die Erhebung eines Kostenvorschusses und Beiordnung der unterzeichnenden Juristin als amtliche Rechtsbeiständin ersucht wurde,

dass auf die Begründung der Beschwerde - soweit entscheidrelevant - in den nachfolgenden Erwägungen einzugehen ist,

dass die Rechtsvertreterin zur Erstellung des Sachverhalts hinsichtlich Menschenhandel sowie zur Einschätzung der Gefährdungslage am

18. Juni 2019 entsprechende Abklärungen bei der Fachstelle ( ) in F. initiierte (vgl. Beschwerdebeilage 4),

dass der Instruktionsrichter mit superprovisorischer Massnahme vom

21. Juni 2019 gestützt auf Art. 56 VwVG den Vollzug der Überstellung per sofort einstweilen aussetzte,

dass die vorinstanzlichen Akten am 24. Juni 2019 beim Bundesverwaltungsgericht eintrafen (aArt. 109 Abs. 1 AsylG),

und zieht in Erwägung,

dass das Bundesverwaltungsgericht auf dem Gebiet des Asyls in der Regel

- so auch vorliegend - endgültig über Beschwerden gegen Verfügungen (Art. 5 VwVG) des SEM entscheidet (Art. 105 AsylG, i.V.m. Art. 31-33 VGG; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG),

dass für das vorliegende Verfahren das bisherige Recht gilt (vgl. Abs. 1 der Übergangsbestimmungen zur Änderung des AsylG vom 25. September 2015),

dass die Beschwerdeführerin am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen hat, durch die angefochtene Verfügung besonders berührt ist, ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise Änderung hat und daher zur Einreichung der Beschwerde legitimiert ist (Art. 105 AsylG und Art. 48 Abs. 1 VwVG),

dass somit auf die fristund formgerecht eingereichte Beschwerde einzutreten ist (aArt. 108 Abs. 2 AsylG und Art. 52 Abs. 1 VwVG),

dass über offensichtlich begründete Beschwerden in einzelrichterlicher Zuständigkeit mit Zustimmung eines zweiten Richters beziehungsweise einer zweiten Richterin entschieden wird (Art. 111 Bst. e AsylG) und es sich, wie nachfolgend aufgezeigt wird, um eine solche handelt, weshalb das Urteil nur summarisch zu begründen ist (Art. 111a Abs. 2 AsylG),

dass gestützt auf Art. 111a Abs. 1 AsylG auf die Durchführung eines Schriftenwechsels verzichtet wurde,

dass mit Beschwerde die Verletzung von Bundesrecht (einschliesslich Missbrauch und Überschreiten des Ermessens) sowie die unrichtige und unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt werden können (Art. 106 Abs. 1 AsylG),

dass bei Beschwerden gegen Nichteintretensentscheide, mit denen es das SEM ablehnt, das Asylgesuch auf seine Begründetheit hin zu überprüfen, die Beurteilungskompetenz der Beschwerdeinstanz grundsätzlich auf die Frage beschränkt ist, ob die Vorinstanz zu Recht auf das Asylgesuch nicht eingetreten ist (vgl. BVGE 2017 VI/5 E. 3.1; 2012/4 E. 2.2, je m.w.H.),

dass sich demnach die Beschwerdeinstanz - sofern sie den Nichteintretensentscheid als unrechtmässig erachtet - einer selbstständigen materiellen Prüfung enthält, die angefochtene Verfügung aufhebt und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückweist (vgl. BVGE 2014/39 E. 3 m.w.H.),

dass in der Beschwerde insbesondere geltend gemacht wird, die Vorinstanz habe das rechtliche Gehör der Beschwerdeführerin verletzt,

dass sich die Beschwerdeführerin bereits in der BzP als Opfer von Menschenhandel zu erkennen gegeben und auf entsprechende Nachfrage des SEM ihren Willen bekundet habe, von einem reinen Frauenteam angehört zu werden,

dass im Anschluss an die BzP gleichentags das erweiterte rechtliche Gehör Dublin stattgefunden habe, wobei die Beschwerdeführerin eingangs erneut auf ihr Recht, von einem gleichgeschlechtlichen Team angehört zu werden, aufmerksam gemacht worden sei,

dass sie daraufhin geantwortet habe, sie könne reden, weil sie davon ausgegangen sei, es handle sich dabei um die Fortsetzung der BzP und es werde später noch eine Anhörung in einem reinen Frauenteam stattfinden,

dass vor diesem Hintergrund die Aussage der Beschwerdeführerin, sie könne reden, nicht als ausdrückliche Verzichtserklärung auf ihr Recht, von einem geschlechtsspezifischen Team angehört zu werden, angesehen werden könne,

dass das erweiterte rechtliche Gehör Dublin in der Folge nicht in einem reinen Frauenteam stattgefunden habe, wodurch das SEM den Wunsch der Beschwerdeführerin, von einem Frauenteam angehört zu werden, bewusst missachtet habe, was eine Verletzung des rechtlichen Gehörs darstelle,

dass das SEM sodann den Sachverhalt in verschiedener Hinsicht nicht ausreichend abgeklärt habe,

dass die Vorinstanz insbesondere ihrer Identifizierungspflicht nicht nachgekommen sei, obwohl sich die Beschwerdeführerin als Opfer von Menschenhandel zu erkennen gegeben habe,

dass sich den Akten nicht entnehmen lasse, dass die Vorinstanz den vorliegenden Fall intern der Federführung für Opfer von Menschenhandel weitergeleitet habe oder eine erweiterte Befragung OMH durch eine spezialisierte Fachperson durchgeführt worden sei, wie dies üblicherweise der Fall sei,

dass ausserdem anzumerken sei, dass die Befragung von Opfern von Menschenhandel durch speziell geschulte Personen erfolgen sollte,

dass nicht ersichtlich sei, dass vorliegend die Befragung von einer Person durchgeführt worden sei, welche über die Fachausbildung in Befragungstechnik bei Opfern von Menschenhandel verfüge, über die sie gemäss Art. 10 Abs. 1 des Übereinkommens zur Bekämpfung des Menschenhandels vom 16. Mai 2005 (sog. Europarats-Übereinkommen [EKM, SR 0.311.543]) und dem internen Leitfaden des SEM zu potenziellen Menschenhandelsopfern verfügen müsste,

dass weiter der Vollständigkeit halber darauf hinzuweisen sei, dass gemäss Art. 13 Abs. 1 EKM jede Vertragspartei in ihrem internen Recht die Einräumung einer Erholungsund Bedenkzeit von mindestens 30 Tagen

vorsehen müsse, wenn es konkrete Anhaltspunkte dafür gebe, dass die betreffende Person Opfer von Menschenhandel geworden sei,

dass nicht ersichtlich sei, inwiefern im vorliegenden Fall eine Erholungsund Bedenkzeit gewährt worden sei, nachdem zwischen der Ankunft der Beschwerdeführerin in der Schweiz und der Befragung zur Person nur wenige Tage gelegen hätten,

dass die Beschwerdeführerin zudem gegenüber ihrer Rechtsvertreterin erwähnt habe, sie leide regelmässig an Albträumen, Flashbacks und Erinnerungslücken, womit Anzeichen für eine Traumatisierung vorlägen,

dass unter Berücksichtigung der aktuellen Aktenlage zum heutigen Zeitpunkt nicht davon ausgegangen werden könne, dass der Sachverhalt bezüglich der Ereignisse in Italien vollständig erstellt worden sei, weshalb die Vorinstanz ihr Ermessen hinsichtlich der Anwendung der Souveränitätsklausel nicht pflichtgemäss ausgeübt habe,

dass die Vorinstanz demzufolge anzuweisen sei, den Identifizierungsprozess nach Art. 10 Abs. 1 und 2 EKM einzuleiten und in diesem Sinne die Sache zur vollständigen und richtigen Feststellung des Sachverhalts an die Vorinstanz zurückzuweisen sei,

dass das Bundesverwaltungsgericht in einem Grundsatzurteil vom 18. Juli 2016 (BVGE 2016/27) einen Überblick über die völkerrechtlichen Verpflichtungen gibt, die sich für die Schweiz bei Vorliegen konkreter Anhaltspunkte für Menschenhandel aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 4 EMRK i.V.m. dem Zusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbesondere des Frauenund Kinderhandels vom 15. November 2000 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die grenzüberschreitende organisierte Kriminalität (sog. Palermo-Protokoll; SR 0.311.542) und aus dem EKM ergeben,

dass die Schweiz in solchen Konstellationen eine prozessuale Untersuchungspflicht trifft, was bedeutet, dass staatliche Stellen, sobald sie von einem mutmasslichen Menschenhandelssachverhalt Kenntnis erhalten, von Amtes wegen und unverzüglich wirksame Ermittlungen einzuleiten haben, ohne dass dazu eine Anzeige des Opfers erforderlich wäre,

dass überdies angesichts der häufig grenzüberschreitenden Natur des Menschenhandels eine Pflicht zur zwischenstaatlichen Zusammenarbeit

besteht, etwa indem Beweise gesichert oder Rechtshilfegesuche gestellt respektive zügig beantwortet werden,

dass im Einzelfall eine Pflicht zur Ergreifung von Schutzmassnahmen für tatsächliche und potenzielle Opfer von Menschenhandel entsteht, wenn die Behörden von Umständen wussten oder wissen mussten, die den glaubhaften Verdacht („credible suspicion“) begründen, dass eine Person Opfer von Menschenhandel ist oder sich in einer realen und unmittelbaren Gefahr („real and immediate risk“) befindet, dem Menschenhandel beziehungsweise der Ausbeutung im Sinne des Palermo-Protokolls und des Europarats-Übereinkommens ausgesetzt zu sein,

dass eine Verletzung von Art. 4 EMRK vorliegt, wenn dies der Fall ist und es die Behörden unterlassen haben, alle angemessenen, möglichen und zumutbaren Massnahmen zu ergreifen, um die Gefahr von der Person abzuwenden (vgl. Urteil des EGMR Rantsev gegen Zypern und Russland vom 7. Januar 2000, 25965/04, §§ 286 f., 294-298),

dass die Schweiz gemäss Art. 10 des Europarats-Übereinkommens ausserdem eine ausdrückliche Identifizierungspflicht gegenüber Betroffenen des Menschenhandels hat (vgl. BVGE 2016/27 E. 5.2.4-5.2.6 und E. 6.1 je m.w.H.),

dass sich vorliegend aus den Akten konkrete Hinweise ergeben, wonach die Beschwerdeführerin Opfer von Menschenhandel geworden sein könnte,

dass sich den vorinstanzlichen Akten entnehmen lässt, dass beim SEM intern offenbar eine Meldung an die Sektion Federführung Menschenhandel erfolgte und das Fedpol (mit entsprechender Zustimmung der Beschwerdeführerin) über den Fall in Kenntnis gesetzt wurde,

dass sich in den Akten sodann eine kurze Information von Seiten des Fedpol findet, wonach "ungenügend Kriterien" ersichtlich seien, um weitere Überprüfungen durchzuführen,

dass weder erkennbar ist, welche konkreten Abklärungen von der Vorinstanz vorgenommen wurden noch wie das Fedpol zu seiner Einschätzung gelangt ist, weshalb fraglich ist, ob das SEM seiner Verpflichtung zur Identifikation von Menschenhandelsbetroffenen in genügendem Masse nachgekommen ist,

dass die entsprechenden Aktenstücke (Weiterleitung an die Federführung Menschenhandel sowie Antwort des Fedpol) als interne Kommunikation eingestuft und somit nicht ediert wurden, womit die Beschwerdeführerin keine Kenntnis von den erfolgten Abklärungen erhielt,

dass angesichts des Verfahrensausgangs vorliegend jedoch offen gelassen werden kann, ob das SEM den sich aus dem Völkerrecht ergebenden Verpflichtungen bei Menschenhandel ausreichend nachgekommen ist (vgl. BVGE 2016/27 E. 5 ff.) und die Vorinstanz insbesondere mit Blick auf eine allfällige Gefahr des Re-Trafficking in Italien genügend adäquate Massnahmen getroffen hat, da sich - wie nachstehend aufgezeigt wird - eine Rückweisung der Sache bereits aus anderen Gründen aufdrängt,

dass das SEM die Beschwerdeführerin bei der BzP darauf aufmerksam machte, dass sie das Recht habe, ausschliesslich in Gegenwart von Frauen angehört zu werden, woraufhin diese ausdrücklich erklärte, sie möchte gerne von einem reinen Frauenteam angehört werden (vgl. A8, Ziff. 8.01),

dass im Anschluss an die BzP im gleichen Team (weibliche Befragerin, männlicher Dolmetscher) ein erweitertes rechtliches Gehör Dublin durchgeführt wurde, bei welchem der Beschwerdeführerin insbesondere verschiedene Fragen zu ihren Vorbringen betreffend Zwangsprostitution gestellt wurden,

dass die Beschwerdeführerin zwar beim erweiterten rechtlichen Gehör Dublin einleitend erneut auf ihr Recht, von einem Frauenteam angehört zu werden, aufmerksam gemacht wurde,

dass ihr gleichzeitig angeboten wurde, die Befragung abzubrechen und eine neue Befragung mit einem Frauenteam anzusetzen, woraufhin die Beschwerdeführerin erklärte, sie könne jetzt reden (vgl. A9, S. 1),

dass die BzP jedoch erst um 10:15 Uhr (exkl. Rückübersetzung) beendet wurde und das erweiterte rechtliche Gehör Dublin bereits kurz darauf um 10:55 Uhr stattfand,

dass es somit nachvollziehbar erscheint, dass die Beschwerdeführerin davon ausging, es handle sich beim erweiterten rechtlichen Gehör Dublin um eine blosse Fortsetzung der BzP und sie werde zu einem späteren Zeitpunkt noch von einem reinen Frauenteam angehört werden, zumal sie diesen Wunsch zuvor ausdrücklich geäussert hatte,

dass somit ihre Aussage, sie könne reden, unter den konkreten Umständen nicht als Verzicht auf eine Befragung durch ein rein weibliches Team angesehen werden kann,

dass das SEM in Anbetracht der Schutzvorschrift von Art. 6 AsylV 1 gehalten gewesen wäre, die Beschwerdeführerin in einem reinen Frauenteam zu den geltend gemachten geschlechtsspezifischen Vorbringen zu befragen,

dass die Vorinstanz den Anspruch der Beschwerdeführerin auf rechtliches Gehör verletzt hat, indem sie dieser entgegen ihrem ausdrücklichen Wunsch zu keinem Zeitpunkt die Gelegenheit einräumte, sich in einem reinen Frauenteam zu äussern, wodurch der rechtserhebliche Sachverhalt unrichtig beziehungsweise unvollständig festgestellt worden ist,

dass das SEM daher aufzufordern ist, die notwendigen Verfahrenshandlungen nachzuholen und gestützt darauf allenfalls auch weitergehende Abklärungen vorzunehmen, welche mit Blick auf die Verpflichtungen aus dem Palermo-Protokoll (insbesondere zur Einleitung von wirksamen Ermittlungen, zur zwischenstaatlichen Zusammenarbeit und zur Gewährleistung der physischen Sicherheit des Opfers) und dem Europarats-Übereinkommen (insbesondere zur Identifikation von Menschenhandelsbetroffenen) möglicherweise erforderlich werden (vgl. in diesem Sinne auch Urteile des BVGer F-5209/2018 vom 27. September 2018 S. 9 f. und E-1499/2016 vom 25. Januar 2017 E. 4.3.2),

dass die Beschwerde somit gutzuheissen und die angefochtene Verfügung vom 11. Juni 2019 aufzuheben ist,

dass die Sache in Anwendung von Art. 61 Abs. 1 in fine VwVG zur vollständigen Sachverhaltsermittlung und Neubeurteilung im Sinne der vorstehenden Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen ist,

dass mit dem vorliegenden Entscheid sowohl die Gesuche um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung, amtliche Verbeiständung und Verzicht auf die Erhebung eines Kostenvorschusses gegenstandslos geworden sind,

dass bei diesem Ausgang des Verfahrens keine Verfahrenskosten aufzuerlegen sind (Art. 63 Abs. 1 und 2 VwVG),

dass der vertretenen Beschwerdeführerin angesichts ihres vollständigen Obsiegens in Anwendung von Art. 64 VwVG und Art. 7 Abs. 1 des Reglements vom 21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht (VGKE, SR 173.320.2) eine Entschädigung für die ihr notwendigerweise erwachsenen Parteikosten zuzusprechen ist,

dass mit der Beschwerde eine Kostennote eingereicht wurde, in welcher ein Aufwand von 5.5 Stunden à Fr. 150.- zuzüglich Mehrwertsteuer geltend gemacht wurde,

dass dieser Aufwand angemessen erscheint, weshalb die vom SEM zu entrichtende Parteientschädigung auf Fr. 889.- (gerundet, inkl. Mehrwertsteuer) festzusetzen ist.

(Dispositiv nächste Seite)

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1.

Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2.

Die angefochtene Verfügung vom 11. Juni 2019 wird aufgehoben und die Sache im Sinne der Erwägungen zur Neubeurteilung ans SEM zurückgewiesen.

3.

Es werden keine Verfahrenskosten auferlegt.

4.

Das SEM wird angewiesen, der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 889.- auszurichten.

5.

Dieses Urteil geht an die Beschwerdeführerin, das SEM und die zuständige kantonale Behörde.

Der Einzelrichter: Die Gerichtsschreiberin:

Hans Schürch Regula Aeschimann

Versand:

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