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Bundesverwaltungsgericht Urteil D-6936/2014

Kopfdaten
Instanz:Bundesverwaltungsgericht
Abteilung:Abteilung IV
Dossiernummer:D-6936/2014
Datum:01.05.2015
Leitsatz/Stichwort:Wegweisung und Wegweisungsvollzug (Beschwerde gegen Wiedererwägungsentscheid)
Schlagwörter : Beschwerde; Beschwerdeführer; Vorinstanz; Verfügung; Wiedererwägung; Bundesverwaltungsgericht; Wiedererwägungs; Entscheid; Wegweisung; Behinderung; Behinderungsgrad; Wiedererwägungsgesuch; Recht; Türkei; Beschwerdeführers; Bericht; Sachverhalt; Behandlung; Wegweisungsvollzug; Verfahren; Akten; Schweiz; Beziehungsweise; Abklärung; Staatlich; Prozent; Pflege; Abklärungen; Frist; Zeitpunkt
Rechtsnorm: Art. 390 ZGB ; Art. 395 ZGB ; Art. 52 VwVG ; Art. 61 VwVG ; Art. 63 VwVG ; Art. 66 VwVG ; Art. 83 BGG ;
Referenz BGE:127 I 133; ;
Kommentar zugewiesen:
Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017
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Entscheid

B u n d e s v e r w a l t u n g s g e r i c h t

T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i f f é d é r a l

T r i b u n a l e a m m i n i s t r a t i v o f e d e r a l e T r i b u n a l a d m i n i s t r a t i v f e d e r a l

Abteilung IV D-6936/2014

U r t e i l  v o m  1.  M a i  2 0 1 5

Besetzung Richterin Contessina Theis (Vorsitz),

Richter Walter Stöckli, Richter Fulvio Haefeli, Gerichtsschreiberin Norzin-Lhamo Dotschung.

Parteien A. , geboren ( ), Türkei,

vertreten durch Samuel Häberli, ( ),

Beschwerdeführer,

gegen

Staatssekretariat für Migration (SEM; zuvor Bundesamt für Migration, BFM), Quellenweg 6, 3003 Bern,

Vorinstanz.

Gegenstand Wegweisung und Wegweisungsvollzug (Beschwerde gegen Wiedererwägungsentscheid); Verfügung des BFM vom 29. Oktober 2014 / N ( ).

Sachverhalt:

A.

    1. Der Beschwerdeführer suchte am 4. April 2011 im Empfangsund Verfahrenszentrum (EVZ) B. um Asyl nach. Am 12. April 2011 wurde er zur Person befragt und am 14. September 2011 eingehend zu seinen Asylgründen angehört.

    2. Dabei machte der Beschwerdeführer im Wesentlichen geltend, er sei türkischer Staatsangehöriger kurdischer Ethnie und alevitischen Glaubens mit letztem Wohnsitz in C. . Nach dem Tod seines Vaters im Jahr 2010 habe ihn seine Stiefmutter (seine leibliche Mutter sei im Jahr 1987 oder 1988 verstorben) vor die Türe gestellt. In der Folge habe er sich kurdischen Aktivisten angeschlossen, die ihn im Sommer 2010 an eine Protestveranstaltung mitgenommen hätten. Bei dieser Veranstaltung in D. sei er von Polizisten festgenommen, in ein Auto gesteckt und derart stark auf Kopf und Rücken geschlagen worden, dass er ohnmächtig geworden sei. Im Spital seien auch Schnitte am Hals festgestellt worden. Es seien ihm dann zwei Medikamente ( ) verschrieben worden, welche bewirkt hätten, dass er sich nun an nichts mehr erinnern könne. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus, welches einen ( ) diagnostizierte und einen Aufenthalt vom ( ). November 2010 bis ( ). Dezember 2010 bestätigte, habe er bei einem Onkel väterlicherseits Unterkunft gefunden. Mit dessen Unterstützung habe er Ende März 2011 die Türkei verlassen und sei in einem Lastwagen versteckt durch ihm nicht namentlich bekannte Länder bis in die Schweiz gefahren. Am 3. April 2011 in der Schweiz angekommen, sei er von seiner seit ( ) Jahren im Kanton E. wohnhaften, über eine Aufenthaltsbewilligung verfügenden Schwester abgeholt worden.

    3. Mit Verfügung vom 23. November 2011 - eröffnet am 28. November 2011 - lehnte die Vorinstanz das Asylgesuch mit der Begründung ab, die Vorbringen des Beschwerdeführers hielten den Anforderungen an die Glaubhaftigkeit nicht stand. So seien die Umstände und Folgen der angeblichen Beteiligung an der Demonstration widersprüchlich geschildert worden; namentlich sei auch die Ursache der in diesem Kontext erlittenen Verletzung am Hals völlig unklar geblieben, soll diese doch einerseits auf polizeiliche Übergriffe, anderseits jedoch auf einen ( ) zurückzuführen sein. Gleichzeitig ordnete es die Wegweisung des Beschwerdeführers aus der Schweiz an und stellte fest, der Vollzug der Wegweisung sei zulässig, zumutbar und möglich.

    4. Die gegen den vorinstanzlichen Entscheid erhobene Beschwerde vom

22. Dezember 2011 wies das Bundesverwaltungsgericht mit Urteil D-6891/2011 vom 21. Mai 2013 vollumfänglich ab.

B.

Mit Eingabe vom 3. Dezember 2013 reichte der Beschwerdeführer bei der Vorinstanz ein gegen die Verfügung vom 23. November 2011 gerichtetes Wiedererwägungsgesuch ein, worin er die Feststellung der Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs verbunden mit der Erteilung einer vorläufigen Aufnahme beantragte. Mit Eingabe vom 4. Dezember 2013 ergänzte er das Gesuch um Wiedererwägung.

C.

Am 3. Dezember 2013 setzte die Vorinstanz den Wegweisungsvollzug einstweilen aus.

D.

Mit Eingabe vom 30. Juli 2014 reichte der Beschwerdeführer den Entscheid der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) F. vom ( ). Juli 2014, aus welchem die Anordnung einer Vertretungsbeistandschaft hervorgeht, zu den Akten.

E.

Am 22. August 2014 ersuchte die Vorinstanz die Schweizerische Botschaft in Ankara um Abklärungen.

F.

Die Schweizerische Botschaft teilte der Vorinstanz am 15. Oktober 2014 das Ergebnis der Abklärungen mit.

G.

Mit Verfügung vom 29. Oktober 2014 - eröffnet am 30. Oktober 2014 - wies die Vorinstanz das Wiedererwägungsgesuch des Beschwerdeführers vom 3. respektive 4. Dezember 2013 ab und bestätigte die Rechtskraft und Vollstreckbarkeit ihrer Verfügung vom 23. November 2011. Sie erhob eine Gebühr von Fr. 600.- und stellte fest, dass einer allfälligen Beschwerde keine aufschiebende Wirkung zukomme.

H.

Der Beschwerdeführer erhob hiergegen mit Eingabe seines Rechtsvertreters vom 27. November 2014 Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht

und beantragte die Aufhebung der angefochtenen Verfügung, die Rückweisung der Sache zur vollständigen Abklärung des Sachverhalts an die Vorinstanz sowie eventualiter die Anordnung einer vorläufigen Aufnahme infolge Unzumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs. In formeller Hinsicht ersuchte er um Gewährung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde, um Anweisung an das Migrationsamt des Kantons E. , im Sinne einer vorsorglichen Massnahme den Vollzug während des Beschwerdeverfahrens auszusetzen, um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung sowie um Befreiung von der Kostenvorschusspflicht.

Als Beweismittel wurden ein Bericht des behandelnden Psychiaters datiert vom ( ). Februar 2013, eine Verfügung der Sozialversicherungsanstalt (SVA) E. vom ( ). Oktober 2013 sowie eine IV-Anmeldung bei der SVA E. vom ( ). Oktober 2014 und deren Eingangsbestätigung vom ( ). November 2014 zu den Akten gereicht.

I.

Die Instruktionsrichterin setzte den Vollzug der Wegweisung per Fax vom

  1. Dezember 2014 einstweilen aus (Art. 56 VwVG).

    J.

    Mit Verfügung vom 2. Dezember 2014 wurde das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung gutgeheissen und auf die Erhebung eines Kostenvorschusses verzichtet. Zudem wurde die aufschiebende Wirkung der Beschwerde hergestellt und die Vorinstanz zur Einreichung einer Vernehmlassung eingeladen.

    K.

    In ihrer Vernehmlassung vom 18. Dezember 2014 hielt die Vorinstanz an ihren Erwägungen fest und beantragte die Abweisung der Beschwerde.

    L.

    Die Vernehmlassung wurde dem Beschwerdeführer am 5. Januar 2015 zur Kenntnisnahme zugestellt.

    M.

    Mit Verfügung vom 9. März 2015 wurde dem Beschwerdeführer Gelegenheit eingeräumt, innert Frist den IV-Entscheid nachzureichen, andernfalls das Verfahren gestützt auf die Aktenlage fortgesetzt werde.

    N.

    Mit Eingabe vom 13. März 2015 teilte der Beschwerdeführer mit, dass es

    gemäss Abklärungen noch etwa zwei bis drei Monate in Anspruch nehme, bis der IV-Entscheid vorliege. Er ersuche deshalb um Ansetzung einer entsprechenden Nachfrist.

    Das Bundesverwaltungsgericht zieht in Erwägung:

    1.

    1. Gemäss Art. 31 VGG beurteilt das Bundesverwaltungsgericht Beschwerden gegen Verfügungen nach Art. 5 VwVG. Das SEM gehört zu den Behörden nach Art. 33 VGG und ist daher eine Vorinstanz des Bundesverwaltungsgerichts. Eine das Sachgebiet betreffende Ausnahme im Sinne von Art. 32 VGG liegt nicht vor. Nachdem gemäss Lehre und Praxis Wiedererwägungsentscheide grundsätzlich wie die ursprüngliche Verfügung auf dem ordentlichen Rechtsmittelweg weitergezogen werden können, ist das Bundesverwaltungsgericht für die Beurteilung der vorliegenden Beschwerde zuständig. Es entscheidet auf dem Gebiet des Asyls - in der Regel und auch vorliegend - endgültig (Art. 105 AsylG [SR 142.31]; Art. 83 Bst. d Ziff. 1 BGG).

    2. Die Beschwerde ist fristund formgerecht eingereicht. Der Beschwerdeführer hat am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen, ist durch die angefochtene Verfügung besonders berührt und hat ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung beziehungsweise Änderung. Er ist daher zur Einreichung der Beschwerde legitimiert (Art. 105 und 108 Abs. 1 AsylG; Art. 48 Abs. 1 sowie Art. 52 Abs. 1 VwVG). Auf die Beschwerde ist einzutreten.

2.

    1. Das Asylgesetz vom 26. Juni 1998 ist mit Änderung vom 14. Dezember 2012 teilrevidiert worden; die Änderung, die unter anderem auch neue Bestimmungen zur Wiedererwägung (insb. Art. 111b AsylG) umfasst, ist am 1. Februar 2014 in Kraft getreten. Gemäss dem Übergangsrecht zu dieser Änderung gilt bei Wiedererwägungsund Mehrfachgesuchen für die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Änderung hängigen Verfahren bisheriges Recht (vgl. Abs. 2 der Übergangsbestimmungen zur Änderung des Asylgesetzes vom 14. Dezember 2012). Nachdem das Wiedererwägungsverfahren am 3. Dezember 2013 angehoben wurde, findet demnach bisheriges Recht Anwendung.

    2. Mit Beschwerde im Bereich des Ausländerrechts kann die Verletzung von Bundesrecht, die unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts und die Unangemessenheit gerügt werden (Art. 49 VwVG; vgl. auch BVGE 2014/26 E. 5.5 betreffend die in ausländerrechtlichen Fragen nicht geltende asylrechtliche Kognitionseinschränkung).

3.

    1. Die Wiedererwägung war im Verwaltungsrespektive Asylverfahren bis zu der am 1. Februar 2014 in Kraft getretenen Revision des AsylG ein gesetzlich nicht geregelter Rechtsbehelf, auf dessen Behandlung durch die verfügende Behörde grundsätzlich kein Anspruch bestand. Gemäss herrschender Lehre und ständiger Praxis des Bundesgerichts wurde jedoch aus Art. 29 BV unter bestimmten Voraussetzungen ein verfassungsmässiger Anspruch auf Wiedererwägung abgeleitet (vgl. BGE 127 I 133 E. 6 m.w.H.). Demgemäss ist auf ein Wiedererwägungsgesuch einzutreten, wenn sich der rechtserhebliche Sachverhalt seit dem ursprünglichen Entscheid beziehungsweise seit dem Urteil der mit Beschwerde angerufenen Rechtsmittelinstanz in wesentlicher Weise verändert hat und mithin die ursprüngliche (fehlerfreie) Verfügung an nachträglich eingetretene Veränderungen der Sachlage anzupassen ist. Nach dieser Rechtsprechung können auch Revisionsgründe einen Anspruch auf Wiedererwägung begründen, sofern sie sich auf eine in materielle Rechtskraft erwachsene Verfügung beziehen, die entweder unangefochten geblieben oder deren Beschwerdeverfahren mit einem formellen Prozessurteil abgeschlossen worden sind. Ein derartiges qualifiziertes Wiedererwägungsgesuch ist grundsätzlich nach den Regeln des Revisionsverfahrens gemäss Art. 66 ff. VwVG zu behandeln. Ebenfalls im Rahmen einer Wiedererwägung geprüft werden können Beweismittel, die erst nach einem materiellen Beschwerdeentscheid des Bundesverwaltungsgerichts entstanden sind und daher revisionsrechtlich nicht von Relevanz sein können (vgl. BVGE 2013/22, insb. E. 12.3). Eine Wiedererwägung fällt jedoch nicht in Betracht, wenn lediglich eine neue Würdigung der beim früheren Entscheid bereits bekannten Tatsachen herbeigeführt werden soll oder Gründe angeführt werden, die bereits in einem ordentlichen Beschwerdeverfahren gegen die frühere Verfügung hätten geltend gemacht werden können.

    2. Die Einreichung eines Wiedererwägungsgesuches hemmt den Vollzug in der Regel nicht, es sei denn, die für die Behandlung zuständige Behörde setze ihn auf Ersuchen wegen einer konkreten Gefährdung der gesuchstellenden Person im Herkunftsoder Heimatstaat aus.

Das Bundesverwaltungsgericht hat am 1. Dezember 2014 den Vollzug der Wegweisung einstweilen provisorisch ausgesetzt. Sodann wurde mit Verfügung vom 2. Dezember 2014 die aufschiebende Wirkung der Beschwerde hergestellt.

4.

Das Wiedererwägungsgesuch richtete sich ausdrücklich nur gegen den mit Verfügung vom 23. November 2011 angeordneten Wegweisungsvollzug. Nachdem die Vorinstanz den Anspruch des Beschwerdeführers auf Behandlung seines Wiedererwägungsgesuchs nicht in Abrede gestellt hat und darauf eingetreten ist, hat das Bundesverwaltungsgericht vorliegend zu prüfen, ob die Vorinstanz sein Gesuch zu Recht abgewiesen hat.

5.

    1. Das Wiedererwägungsgesuch wurde im Wesentlichen damit begründet, dass das Bundesverwaltungsgericht im Zeitpunkt des Urteils am

      21. Mai 2013 vom Bestehen eines tragfähigen sozialen Netzes in der Türkei ausgegangen sei. Entsprechende Abklärungen bei Verwandten vor Ort im Juli und August 2013 hätten jedoch ergeben, dass der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in die Türkei auf kein solches Beziehungsnetz mehr zurückgreifen könne. Die Familie der Stiefmutter wolle und könne ihn auf keinen Fall aufnehmen. Ebenfalls sei der Onkel bereits ein Pflegefall, womit dessen Familie nicht die Möglichkeit habe, einen weiteren Pflegefall dauerhaft aufzunehmen. Zudem belege der ärztliche Bericht vom ( ). Oktober 2013 - erstmals in dieser expliziten Weise -, dass er auf eine psychiatrische Behandlung sowie intensive Pflegebetreuung angewiesen sei. Ebenfalls sei der Vorbescheid der SVA E. vom ( ). August 2013, in welchem ihm eine ( ) attestiert worden sei, neu zu werten. Im Heimatstaat sei er ausschliesslich auf ein funktionierendes und zugleich bezahlbares öffentliches oder privates Gesundheitssystem angewiesen. Der Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) vom 28. November 2013 zur Pflegebetreuung und psychiatrischen Behandlung in der Türkei belege jedoch, dass die Inanspruchnahme von staatlicher Unterstützung für eine Langzeitpflege einen Behinderungsgrad von mindestens 40 Prozent voraussetze. Seine attestierte ( ) in Kombination mit seiner psychischen Erkrankung werde aber nicht ausreichen, um in der Türkei als eine vierzigprozentige Behinderung angesehen zu werden. Bei dieser Ausgangslage sei ihm eine wirtschaftliche und soziale Integration unmöglich. Im Falle einer Rückkehr in die Türkei werde er folglich mit überwiegender Wahrscheinlichkeit in eine existenzbedrohende Situation geraten, weshalb der Wegweisungsvollzug zum heutigen Zeitpunkt unzumutbar sei.

    2. Die Vorinstanz bejahte in der angefochtenen Verfügung implizit (nämlich durch Eintreten auf das Wiedererwägungsgesuch) eine zwischenzeitlich eingetretene Veränderung des rechtserheblichen Sachverhalts, erachtete die aktuelle Situation allerdings nicht als erheblich im Hinblick auf eine Wiedererwägung hinsichtlich des angeordneten Wegweisungsvollzugs. In ihrem Entscheid führte sie aus, aufgrund der neuen Situation sei davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer womöglich an mehr als bloss einer ( ) leide. Auch der Entscheid der KESB F. gehe davon aus, dass er nicht über die Fähigkeiten verfüge, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Damit sei anzunehmen, dass er an einem Behinderungsgrad von mehr als 40 Prozent leide, welcher im eingereichten Bericht der SFH als Schwelle für die Inanspruchnahme staatlicher Hilfeleistungen genannt werde. Gemäss eigenen Erkenntnissen werde ein Behinderungsgrad von über 50 Prozent vorausgesetzt, damit eine Aufnahme in einigen in

      C.

      bestehenden staatlich geführten Heimen für körperlich oder

      mental behinderte Personen mit schwersten Depressionen und epileptischen Anfällen gewährt werde. Es brauche dazu ein offizielles ärztliches Attest, das den Behinderungsgrad feststelle, wobei auch solche aus dem Ausland anerkannt würden. Dieser Prozess könne vor der Rückkehr des Beschwerdeführers in die Türkei abgewickelt werden. Zwar sei die Anmeldung vor Ort Voraussetzung zur Aufnahme, um die damit verbundene Einschätzung des Einkommens für die allgemeine Krankenversicherung durchzuführen. Für diese Zeit sei der Beschwerdeführer tatsächlich von einer (befristeten) Aufnahme bei einem Familienmitglied in C. abhängig. Bei bestätigter Mittellosigkeit und Erwerbslosigkeit werde der türkische Staat für alle Kosten aufkommen. Aufgrund der Einschätzung der KESB sei anzunehmen, dass der Beschwerdeführer mit einer Platzierung

      in einem Heim in C.

      rechnen könne. Eine Vorabklärung in der

      Schweiz könne den Prozess der Zulassung beschleunigen und die zeitliche Belastung der Familienangehörigen in C. auf ein Minimum begrenzen. Bis zur tatsächlichen Einweisung könne der Beschwerdeführer sich kurzfristig bei seinem Onkel beziehungsweise bei dessen Tochter aufhalten, die einen zeitlich begrenzten Aufenthalt des Beschwerdeführers nicht kategorisch ausschliesse. Ausserdem würde mittels Rimessen und Gewährung einer Rückkehrhilfe auch die materielle Unterstützungsleistung der Familienangehörigen vor Ort kurzfristig aufgefangen.

    3. In der Beschwerde machte der Beschwerdeführer neben den bereits im Wiedererwägungsgesuch dargelegten Ausführungen zusätzlich geltend, dass die Vorinstanz sich ausschliesslich auf die Einschätzung der KESB

F. stütze, wonach er aufgrund seiner Erkrankung nicht über die Fähigkeiten verfüge, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Jedoch könne die Vorinstanz dies weder mit einem ärztlichen Bericht, der einen Behinderungsgrad von mehr als 40 beziehungsweise mindestens 50 Prozent feststelle, noch mit einer Verfügung der SVA E. , mit der ein IV-Grad auf Grundlage ausführlicher ärztlicher Abklärungen festgestellt werde, belegen. Angesichts der existenziellen Güter, die vorliegend auf dem Spiel stehen würden, sei der blosse Verweis auf den Entscheid der KESB nicht ausreichend, um abschliessend über die Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzugs befinden zu können. Damit sei der Sachverhalt unvollständig festgestellt und gegen den Grundsatz des rechtlichen Gehörs im Sinne von Art. 29 VwVG verstossen worden. Indem die Vorinstanz sich lediglich auf eine Passage des Berichts der SFH beziehe, würdige sie den ausführlichen und auf ihn zugeschnittenen Bericht der SFH, der als wesentliches Beweismittel zu erachten sei, in keiner Weise ausreichend. Somit habe die Vorinstanz die Parteivorbringen unzureichend geprüft und damit auch gegen Art. 32 VwVG verstossen. Angesichts der im erwähnten Bericht aufgezeigten Versorgungsund Behandlungsqualität von geistig behinderten Personen in Heimen sei aus objektiven Gründen davon auszugehen, dass er in der Türkei mit erheblicher Wahrscheinlichkeit unter menschenunwürdigen Bedingungen betreut und behandelt beziehungsweise die notwendige Behandlung und Betreuung nicht ausreichend abgedeckt werde. Zumindest könne ein solches Risiko nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden.

6.

    1. Zunächst ist festzustellen, dass der vom Beschwerdeführer eingereichte Bericht des behandelnden Psychiaters vom ( ). Februar 2013, der gemäss Beschwerdeschrift die gesundheitliche Situation des Beschwerdeführers zum heutigen Zeitpunkt präsentieren soll, bereits im vorangegangenen Verfahren (Urteil des BVGer D-6891/2011 vom 21. Mai 2013) berücksichtigt worden ist.

      Gestützt auf diesen mehr als ein Jahr zuvor erstellten Bericht hat die KESB F. mit Verfügung vom ( ). Juli 2014 befunden, dass beim Beschwerdeführer ein Schwächezustand im Sinne von Art. 390 Abs. 1 ZGB vorliege, und infolgedessen eine Vertretungsbeistandschaft im Sinne von Art. 394 Abs. 1 i.V.m. Art. 395 Abs. 1 ZGB angeordnet. Der erwähnte Bericht diente überdies - mehr als eineinhalb Jahre nach seiner Erstellung - als Grundlage für die IV-Anmeldung vom ( ). Oktober 2014.

    2. Im vorangegangenen Verfahren (Urteil des BVGer D-6891/2011 vom

      21. Mai 2013) ging das Bundesverwaltungsgericht davon aus, dass der Beschwerdeführer im Heimatstaat über ein tragfähiges soziales Netz verfüge und der Wegweisungsvollzug durchführbar sei. Der Beschwerdeführer machte jedoch in seinem Wiedererwägungsgesuch geltend, dass sich diese Ausgangslage insofern verändert habe, als dass er inzwischen über kein solches Beziehungsnetz mehr verfüge. Dieser Umstand wurde von der Vorinstanz nicht in Zweifel gezogen. Weiter ist den Akten zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer aufgrund seines Gesundheitszustandes unabdingbar auf Behandlung und Pflege angewiesen ist, um nicht in eine existenzbedrohende Lage zu geraten. Eine solche Behandlung und Pflege kann aufgrund des nunmehr fehlenden Beziehungsnetzes im Heimatstaat nicht durch seine Familienangehörigen gewährleistet werden, weshalb er auf umfassende staatliche Gesundheitsleistungen angewiesen ist. Die Abklärungen des Beschwerdeführers beziehungsweise der SFH vom 28. November 2013 als auch diejenigen der Schweizerischen Botschaft vom

      15. Oktober 2014 ergaben, dass für die Inanspruchnahme staatlicher Gesundheitsleistungen respektive Aufnahme in einem staatlich geführten Heim in der Türkei ein medizinisches Gutachten vorliegen muss, das einen Behinderungsgrad von mehr als 40 beziehungsweise mindestens 50 Prozent attestiert (vgl. act. B5 Nr. 1 und B9/2).

    3. Vorliegend legen die Akten zwar einen Behinderungsgrad des Beschwerdeführers von mehr als 40 beziehungsweise mindestens 50 Prozent nahe. In den Akten befindet sich jedoch kein aktuelles medizinisches Gutachten, das den Behinderungsgrad des Beschwerdeführers explizit in Prozentangaben festhält. Auch steht der IV-Entscheid, der allenfalls über den Behinderungsgrad Auskunft geben könnte, noch aus. Vor diesem Hintergrund ist es vorliegend nicht ersichtlich, wie die Vorinstanz zum Schluss gelangte, dass der Beschwerdeführer einen Behinderungsgrad aufweise, der ihn zur Inanspruchnahme staatlicher Gesundheitsleistungen respektive Aufnahme in einem staatlich geführten Heim berechtige.

      In der angefochtenen Verfügung ging die Vorinstanz davon aus, dass der Beschwerdeführer "womöglich mehr als bloss an einer ( )" leide und verwies insbesondere auf den Entscheid der KESB F. , wonach der Beschwerdeführer nicht über die Fähigkeiten verfügt, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Gestützt darauf schätzte sie den Behinderungsgrad auf mehr als 40 Prozent ein. Diese Einschätzung wurde jedoch gerade nicht durch eine fundierte Begründung oder ein medizinisches Gutachten untermauert. Bei der Einschätzung der Vorinstanz handelt es sich nach dem

      Gesagten um eine Annahme. Zum heutigen Zeitpunkt kann aber alleine gestützt auf diese Annahme - ohne Vorliegen eines Gutachtens, das über den Behinderungsgrad Auskunft gibt - nicht abschliessend beurteilt werden, ob in der Türkei eine adäquate Behandlung und Pflege des Beschwerdeführers gesichert ist und sich ein Wegweisungsvollzug als zumutbar erweist. Die Vorinstanz hat somit den Sachverhalt nicht vollständig und nicht rechtsgenüglich abgeklärt.

    4. Gemäss Art. 61 Abs. 1 VwVG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht in der Sache selbst oder weist diese ausnahmsweise mit verbindlichen Weisungen an die Vorinstanz zurück. Eine Kassation und Rückweisung an die Vorinstanz ist insbesondere angezeigt, wenn weitere Tatsachen festgestellt werden müssen und ein umfassendes Beweisverfahren durchzuführen ist. Die in diesen Fällen fehlende Entscheidungsreife kann grundsätzlich zwar auch durch die Beschwerdeinstanz selbst hergestellt werden, wenn dies im Einzelfall aus prozessökonomischen Gründen an-gebracht erscheint; sie muss dies aber nicht (vgl. BVGE 2012/21 E. 5). Vorliegend liegt der Mangel in einer unvollständigen Sachverhaltsfeststellung, wobei die unterbliebenen notwendigen Abklärungen eine relativ aufwändige und umfangreiche Beweiserhebung darstellen, weshalb sich eine Kassation der angefochtenen Verfügung rechtfertigt. Im Übrigen bleibt auf diese Weise der Instanzenzug erhalten, was umso wichtiger ist, als das Bundesverwaltungsgericht letztinstanzlich entscheidet.

7.

Aus den vorstehend genannten Gründen ist die Beschwerde gutzuheissen. Die Verfügung vom 29. Oktober 2014 ist aufzuheben und die Sache zur vollständigen Feststellung des Sachverhaltes und zur anschliessenden Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Angesichts dieses Ausgangs des Verfahrens ist auf die weiteren Vorbringen in der Rechtsmitteleingabe zum heutigen Zeitpunkt nicht näher einzugehen.

8.

Mit diesem Entscheid wird das Gesuch um Ansetzung einer Nachfrist für die Einreichung des IV-Entscheids gegenstandslos.

9.

    1. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 63 Abs. 1 und 2 VwVG).

    2. Dem vertretenen Beschwerdeführer ist angesichts seines Obsiegens in Anwendung von Art. 64 VwVG und Art. 7 Abs. 1 des Reglements vom

21. Februar 2008 über die Kosten und Entschädigungen vor dem Bundesverwaltungsgericht (VGKE, SR 173.320.2) eine Entschädigung für die ihm notwendigerweise erwachsenen Parteikosten zuzusprechen. Es wurde keine Kostennote zu den Akten gereicht, weshalb die notwendigen Parteikosten aufgrund der Akten zu bestimmen sind (Art. 14 Abs. 2 in fine VGKE). Die von der Vorinstanz auszurichtende Parteientschädigung wird in Anwendung der genannten Bestimmungen und unter Berücksichtigung der massgeblichen Bemessungsfaktoren demnach von Amtes wegen auf insgesamt Fr. 1'125.- (inkl. Auslagen und MWSt) festgelegt.

(Dispositiv nächste Seite)

Demnach erkennt das Bundesverwaltungsgericht:

1.

Die Beschwerde wird gutgeheissen.

2.

Die Verfügung der Vorinstanz vom 29. Oktober 2014 wird aufgehoben und die Sache zur vollständigen Sachverhaltsfeststellung und zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.

3.

Es werden keine Verfahrenskosten auferlegt.

4.

Das SEM wird angewiesen, dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1'125.- auszurichten.

5.

Dieses Urteil geht an den Beschwerdeführer, das SEM und die kantonale Migrationsbehörde.

Die vorsitzende Richterin: Die Gerichtsschreiberin:

Contessina Theis Norzin-Lhamo Dotschung

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