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Urteil Appellationsgericht (BS)

Kopfdaten
Kanton:BS
Fallnummer:BES.2019.201 (AG.2020.213)
Instanz:Appellationsgericht
Abteilung:
Appellationsgericht Entscheid BES.2019.201 (AG.2020.213) vom 31.03.2020 (BS)
Datum:31.03.2020
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:Nichtigkeit Strafbefehl (BGer 1B_244/2020 vom 12. Mai 2021)
Schlagwörter: Beschwerde; Staatsanwaltschaft; Zustellung; Rechts; Strafbefehl; Schweiz; Person; Beschwerdegegner; Schuldig; Einsprache; Werden; Beschuldigte; Entscheid; Rechtsmittel; Verfahren; Formular; Gemäss; Zustellungsdomizil; Stellt; Strafbefehls; Strafgericht; Vorliegend; Worden; Ausland; September; Zugestellt; Verfahrens; Mitarbeiter; Beschuldigten; Wohnsitz
Rechtsnorm: Art. 210 StPO ; Art. 354 StPO ; Art. 381 StPO ; Art. 393 StPO ; Art. 42 BGG ; Art. 48 BGG ; Art. 68 StPO ; Art. 87 StPO ; Art. 88 StPO ; Art. 90 StPO ;
Referenz BGE:140 IV 82; 142 II 411; 143 III 157; 143 III 28;
Kommentar zugewiesen:
Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017
Weitere Kommentare:
Entscheid

Appellationsgericht

des Kantons Basel-Stadt

Dreiergericht



BES.2019.201


ENTSCHEID


vom 31. März 2020



Mitwirkende


lic. iur. Gabriella Matefi, lic. iur. Christian Hoenen, lic. iur. Liselotte Henz

und Gerichtsschreiber MLaw Thomas Inoue




Beteiligte


Staatsanwaltschaft Basel-Stadt Beschwerdeführerin

Binningerstrasse21, 4001Basel

gegen

Strafgerichtspräsidentin Basel-Stadt Beschwerdegegnerin

Schützenmattstrasse20, 4009Basel


A____ Beschwerdegegner

[...] Beschuldigter


Gegenstand


Beschwerde gegen einen Entscheid des Einzelgerichts in Strafsachen

vom 4. September 2019


betreffend Nichtigkeit Strafbefehl



Sachverhalt


A____ (nachfolgend Beschwerdegegner) reiste am 7. Januar 2019 von Deutschland kommend über den Grenzübergang Basel Weil-Autobahn in die Schweiz ein. Dabei wurde er von der Grenzwache kontrolliert und von dieser wegen Einreise ohne gültiges Reisedokument und ohne Visum verzeigt. Nach der mündlichen Befragung wurde ihm ein Formular "Erklärung betreffend Zustellungsdomizil Schweiz" vorgelegt, gemäss welchem er entweder eine Kontaktperson mit Schweizer Wohnsitz als Zustelladresse in der Schweiz angeben oder eine für die Entgegennahme von Zustellungen zuständige Mitarbeiterin der Strafbefehlsabteilung der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt als Zustellungsdomizil wählen konnte. Der Beschwerdegegner entschied sich für letzteres.


Mit Strafbefehl vom 9. April 2019 wurde der Beschwerdegegner von der Staatsanwaltschaft in Anwendung von Art. 115 Abs. 1 lit. a und Art. 5 Abs. 1 lit.a des Bundesgesetzes über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (AIG, SR 142.20) der rechtswidrigen Einreise schuldig erklärt und zu einer Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu CHF30.- sowie zu einer Busse von CHF100.-, bei schuldhaftem Nichtbezahlen ersatzweise einer Freiheitsstrafe von einem Tag, verurteilt. Der Vollzug der Geldstrafe wurde unter Ansetzung einer Probezeit von zwei Jahren aufgeschoben. Zudem wurden ihm die Kosten des Verfahrens in Höhe von CHF358.60 auferlegt. Gleichentags nahm die bei der Strafbefehlsabteilung der Staatsanwaltschaft für die Entgegennahme von Zustellungen zuständige Person den Strafbefehl entgegen und versandte eine Orientierungskopie samt Beilagen mit eingeschriebener Post an die ausländische Wohnadresse des Beschwerdegegners.


Mit E-Mail vom 30. Juli 2019 erhob der Beschwerdegegner sinngemäss Einsprache gegen den Strafbefehl vom 9. April 2019. Die Staatsanwaltschaft überwies die Einsprache zusammen mit dem Strafbefehl und den Akten zuständigkeitshalber ans Strafgericht Basel-Stadt. Mit Verfügung der Präsidentin des Strafgerichts vom 4. September 2019 stellte diese die Nichtigkeit des Strafbefehls vom 9. April 2019 fest und retournierte die Akten an die Staatsanwaltschaft.


Gegen diese Verfügung erhob die Staatsanwaltschaft am 11. September 2019 Beschwerde beim Appellationsgericht mit dem Antrag, die Verfügung des Strafgerichts vom 4. September 2019 sei aufzuheben und es sei festzustellen, dass der Strafbefehl vom 9. April 2019 rechtskräftig sei. Zudem seien die Verfahrenskosten dem Beschwerdegegner aufzuerlegen. Das Strafgericht beantragte mit Stellungnahme vom 18. September die Abweisung der Beschwerde. Der Beschwerdegegner liess sich nicht vernehmen.


Der vorliegende Entscheid ist im schriftlichen Verfahren auf dem Zirkulationsweg ergangen. Die Einzelheiten der Standpunkte ergeben sich, soweit sie für den Entscheid relevant sind, aus den nachfolgenden Erwägungen.



Erwägungen


1.

1.1 Gemäss Art. 393 Abs. 1 lit. b in Verbindung mit Art. 80 Abs. 1 der Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO, SR 312.0) ist die Beschwerde das gegen nicht materielle Verfügungen und Beschlüsse der erstinstanzlichen Gerichte vorgesehene Rechtsmittel. Zuständiges Beschwerdegericht ist das Appellationsgericht als Einzelgericht (§§88 Abs. 1 und 93 Abs. 1 Ziff. 1 des Gerichtsorganisationsgesetzes, [GOG, SG154.100]). In Fällen von besonderer Tragweite kann die Verfahrensleitung anordnen, dass das Dreiergericht entscheidet (§ 93 Abs. 1 Ziff. 1 Satz 2 GOG). Ein solcher Fall liegt hier vor.


1.2 Die Staatsanwaltschaft kann ein Rechtsmittel zugunsten oder zuungunsten der beschuldigten oder verurteilten Person ergreifen (Art.381 Abs.1 StPO). Hierzu gehört auch das Rechtsmittel der Beschwerde gemäss Art. 393 ff. StPO (AGE BES.2019.134 vom 30. September 2019 E. 1.1.2). Dabei ergibt sich nach Lehre und Rechtsprechung für die Staatsanwaltschaft aus ihrer funktionalen Stellung eine generelle Beschwer, indem ihr die Durchsetzung der materiellen Wahrheit und die Verwirklichung des Rechts obliegt (vgl.BStGer BB.2013.74 vom 24. Mai 2013 E. 1.1; Guidon, Die Beschwerde gemäss Schweizerischer Strafprozessordnung, Diss., Zürich 2011, N 217). Es muss insofern der Verdacht geltend gemacht werden, ein angefochtener Entscheid verletze materielles oder formelles Recht (vgl. Lieber, in: Donatsch et al. [Hrsg.], Kommentar zur StPO, 2.Auflage2014, Art. 381N 2; Demarmels, Die Legitimation zur Beschwerde im kantonalen Strafverfahren [Art. 381 f. StPO], Diss., Zürich 2018, S. 19 f.).


Die Staatsanwaltschaft führt an, der streitgegenständliche Strafbefehl sei gesetzes- und insbesondere auch völkerrechtskonform eröffnet worden. Damit begründet die Staatsanwaltschaft den Verdacht, dass die Vorinstanz mit der Feststellung der Nichtigkeit des zur Frage stehenden Strafbefehls geltendes Recht verletzt habe. Die Beschwerdelegitimation ist somit gegeben.


1.3 Die übrigen Eintretensvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, weshalb auf die frist- und formgerecht eingereichte Beschwerde einzutreten ist. Die Kognition des Beschwerdegerichts ist frei und somit nicht auf Willkür beschränkt (Art.393 Abs.2 StPO).


1.4 Gemäss Art. 68 Abs. 2 StPO ist einer an einem Strafverfahren beteiligten Person, welche der Verfahrenssprache nicht mächtig ist, der wesentliche Inhalt der wichtigsten Verfahrenshandlungen in einer ihr verständlichen Sprache mündlich oder schriftlich zur Kenntnis zu bringen, wobei jedoch kein Anspruch auf vollständige Übersetzung aller Verfahrenshandlungen sowie Akten besteht. Der Beschwerdegegner ist zwar brasilianischer Staatsangehöriger und in Brasilien wohnhaft, ist jedoch der englischen Sprache mächtig (vgl. Strafakten, S. 31 und 49). Aus diesem Grund werden das Dispositiv und die Rechtsmittelbelehrung des vorliegenden Beschwerdeentscheids auf Englisch übersetzt.


2.

2.1 Streitgegenstand des vorliegenden Beschwerdeverfahrens bildet die Frage, ob der Strafbefehl vom 9. April 2019 rechtskonform eröffnet worden und mangels rechtzeitiger und formgerechter Anfechtung in Rechtskraft erwachsen ist, oder ob die Eröffnung ungültig erfolgt und der Strafbefehl vom 9. April 2019 damit nichtig ist.


2.2 Das Strafgericht hat in der angefochtenen Verfügung erwogen, die Zustellfiktion nach Art. 88 Abs. 4 StPO setze voraus, dass die Staatsanwaltschaft alle Anstrengungen unternommen habe, um den Aufenthaltsort des Beschwerdegegners zu erforschen. Vorliegend sei die Adresse des Beschwerdegegners bekannt gewesen, weshalb die Zustellung des Strafbefehls auf dem Rechtshilfeweg habe erfolgen müssen. Damit sei der zur Frage stehende Strafbefehl völkerrechtswidrig zugestellt worden, was seine Nichtigkeit mit sich ziehe.


2.3 Die Staatsanwaltschaft stellt sich dagegen auf den Standpunkt, der Strafbefehl sei völkerrechtskonform zugestellt worden. Bei Personen mit Wohnsitz im Ausland fordere die Staatsanwaltschaft diese mit einem dafür vorgesehenen Formular gemäss Art. 87 Abs. 2 StPO auf, ein Zustellungsdomizil in der Schweiz zu bezeichnen. Dieses Formular sei in verschiedene Sprachen übersetzt worden und gebe der betreffenden Person drei Wahlmöglichkeiten. Sie könne entweder darauf verzichten, ein Zustellungsdomizil zu bezeichnen, sie könne eine beliebige Person mit Wohnsitz in der Schweiz als Kontaktperson wählen, oder sie könne eine für die Entgegennahme von Zustellungen zuständige Mitarbeiterin der Strafbefehlsabteilung der Staatsanwaltschaft als Zustellungsdomizil in der Schweiz bezeichnen. Letztere Variante sei eine freiwillige Dienstleistung der Staatsanwaltschaft, da sich in der Praxis gezeigt habe, dass eine Mehrheit der beschuldigten Personen kein Zustelldomizil in der Schweiz bezeichnen könnten. Das Formular enthalte eine ausführliche Rechtsbelehrung und es werde ausdrücklich mittels Fettdruck drauf hingewiesen, dass mit einer solchen Zustellung die Rechtsmittelfristen zu laufen beginnen (Beschwerde, Ziff.2). Im konkreten Fall prüfe die Staatsanwaltschaft regelmässig zunächst, ob ein Staatsvertrag eine direkte Zustellung zulasse. Bestehe kein Staatsvertrag, erfolge die Zustellung gemäss der im Formular gewählten Wahl des Zustellungsdomizils. Bei einer Zustellung an die zuständige Mitarbeiterin oder den zuständigen Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft sowie bei einer Zustellung ohne Zustellungsdomizil in der Schweiz werde der beschuldigten Person jeweils eine Orientierungskopie des Entscheids mit eingeschriebener Post zugesandt und dies per Aktennotiz festgehalten (Beschwerde, Ziff.3). Dieses Vorgehen orientiere sich an jenem, welches im Kanton St. Gallen schon seit geraumer Zeit praktiziert werde (Beschwerde, Ziff. 4). Im vorliegenden Fall habe der Beschwerdegegner Wohnsitz in Brasilien. Da keine staatsvertragliche Vereinbarung mit Brasilien existiere, welche eine direkte Zustellung zulasse, sei der zur Frage stehende Strafbefehl am ausgewählten Zustellungsdomizil bei der Staatsanwaltschaft zugestellt und dem Beschwerdegegner eine Orientierungskopie zugesandt worden. Damit habe die Frist zur Einspracheerhebung am 10. April 2019 zu laufen begonnen und habe, aufgrund Fristverlängerung über die Osterfeiertage, am 23.April 2019 geendet. Damit sei die Einsprache vom 30. Juli 2019 verspätet und, da sie per E-Mail erhoben worden sei, überdies formungültig erfolgt (Beschwerde, Ziff. 5).


3.

3.1 Gegen einen Strafbefehl kann nach Art. 354 StPO innert zehn Tagen schriftlich bei der der Staatsanwaltschaft Einsprache erhoben werden. Die Frist beginnt einen Tag nach der Mitteilung zu laufen (Art. 90 Abs. 1 StPO). Gemäss Art. 87 Abs. 1 StPO sind Mitteilungen dem Adressaten am Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthaltsort zuzustellen. Hat der Adressat Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland, so hat dieser gemäss Art. 87 Abs. 2 StPO ein Zustellungsdomizil in der Schweiz zu bezeichnen.


Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung stellt die Zustellung eines amtlichen Dokuments im Ausland, sei es einer Verwaltungsverfügung oder eines gerichtlichen Schriftstücks, einen staatlichen Hoheitsakt dar, der geeignet ist, die Souveränität bzw. die Gebietshoheit des betroffenen Staates zu verletzen und damit gegen Völkerrecht zu verstossen. In Ermangelung einer anders lautenden staatsvertraglichen Bestimmung oder eines anderweitigen Einverständnisses des betroffenen Staates ist die Verfügung daher grundsätzlich auf dem diplomatischen oder konsularischen Weg zu eröffnen. Davon ausgenommen sind blosse Mitteilungen rein informativen Inhalts, die keine Rechtswirkungen nach sich ziehen und deshalb direkt per Post zugestellt werden dürfen (BGE 143 III 28 E. 2.2.1 S. 32, 136 V 295 E. 5.1 S.305, 135 III 623 E.2.2 S. 626, 124 V 47 E. 3a S. 50; BGer 2C_408/2016 und 2C_409/2016 vom 19.Juni 2017 E. 2.2, 1C_236/2016 vom 15. November 2016 E.3.2, 2C_827/2015 und 2C_828/2015 vom 3. Juni 2016 E. 3.2, nicht publ. in: BGE 142 II 411). Zur Vereinfachung internationaler Zustellungen wurden verschiedene Staatsverträge abgeschlossen, gemäss welchen Mitteilungen im Rahmen eines Strafverfahrens dem Empfänger im Ausland direkt per Post zugestellt werden dürfen. Im Geltungsbereich dieser Vereinbarungen kann dementsprechend gemäss Art.87 Abs. 2 StPO sowohl auf die Nennung eines Zustelldomizils in der Schweiz als auch auf eine rechtshilfeweise Zustellung verzichtet werden (vgl.Brüschweiler, in: Donatsch et al. [Hrsg.], Kommentar zur StPO, 2. Auflage, Zürich 2014, Art. 87 N 2).


Ist der Aufenthaltsort des Adressaten unbekannt und trotz zumutbarer Nachforschungen nicht ermittelbar oder hat eine Partei oder deren Rechtsbeistand mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland kein Zustellungsdomizil in der Schweiz bezeichnet, so erfolgt die Zustellung grundsätzlich durch Veröffentlichung im Amtsblatt (Art. 88 Abs. 1 StPO). Die Zustellung gilt am Tag der Veröffentlichung als erfolgt (Art.88 Abs. 2 StPO). Nach Art. 88 Abs. 4 StPO gilt ein Strafbefehl auch ohne Veröffentlichung als zugestellt, wenn die Voraussetzungen für eine Publikation gegeben sind (siehe auch: Brüschweiler, a.a.O., Art.88 N 8: AGE BES.2015.87 vom 25.Juni 2015 E. 2).


3.2 Die Schweiz hat mit Brasilien den Vertrag zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Föderativen Republik Brasilien über Rechtshilfe in Strafsachen (RV-BRA, SR 0.351.919.81) geschlossen. Art. 14 RV-BRA regelt die Zustellung von Verfahrensurkunden und Gerichtsentscheidungen, wobei Ziff. 1 lediglich die rechtshilfeweise Zustellung vorsieht. Eine direkte postalische Zustellung ist mangels entsprechender Regelung dagegen nicht möglich. Die Staatsanwaltschaft führt in ihrer Beschwerde richtigerweise auf, dass auch ansonsten kein Staatsvertrag zwischen der Schweiz und Brasilien besteht, der eine direkte postalische Zustellung des zur Frage stehenden Strafbefehls zugelassen hätte. Somit richten sich die Zustellungsmodalitäten nach den Art. 87 Abs. 2 und Art. 88 StPO.


3.3 Wie die Strafgerichtspräsidentin in ihrer Stellungnahme vom 18.September 2019 (vgl. act. 5) zu Recht aufwirft, führt das von der Staatsanwaltschaft angewendete Vorgehen, wonach mit Zustellung des Entscheids an eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft die Einsprachefrist ausgelöst wird, de facto dazu, dass die beschuldigte Person in vielen Fällen auf das ihr zustehende Einspracherecht verzichtet, bevor sie vom Inhalt des Strafbefehls überhaupt Kenntnis haben konnte. Bis zum Erhalt der per Einschreiben versendeten Orientierungskopie hat die beschuldigte Person nämlich in aller Regel nicht einmal Kenntnis davon, dass ein Strafbefehl gegen sie ergangen ist. Wie im vorliegenden Verfahren sehr anschaulich geschehen (vgl. Strafakten, S. 29), kann die Versendung einer eingeschriebenen Postsendung ins Ausland ohne weiteres eine Woche oder mehr in Anspruch nehmen. Unter Anbetracht dessen, dass für die Einhaltung der Frist aus dem Ausland die Übergabe an eine ausländische Postgesellschaft keine fristwahrende Wirkung hat, sondern nur die Übergabe zu Handen der Schweizerischen Post oder die Abgabe an eine schweizerische diplomatische oder konsularische Vertretung fristwahrend ist (Riedo, in: Basler Kommentar, 2. Auflage 2014, Art.91 StPO N 21 mit weiteren Hinweisen), ist damit in vielen Fällen das Ergreifen eines Rechtsmittels praktisch nicht mehr möglich.


Das Bundesgericht hat in einem Entscheid betreffend ein zivilrechtliches Schiedsverfahren unter anderem mit Hinweis auf seine Rechtsprechung in Strafsachen entschieden, dass ein freiwilliger Verzicht auf ein Rechtsmittel lediglich dann als zulässig angesehen werden kann, wenn dieser in voller Kenntnis des Urteils ergeht. Ein Verzicht auf das Erheben eines Rechtsmittels gegen ein noch nicht ergangenes Urteil dagegen ist im Allgemeinen ungültig (BGE 143 III 157 E. 1.2.1 S. 158, mit Hinweisen). Dementsprechend sieht auch Art.386 Abs. 1 StPO vor, dass erst nach Eröffnung eines anfechtbaren Entscheids auf die Erhebung eines Rechtsmittels verzichtet werden kann; ein vorzeitiger Verzicht ist gemäss herrschender Lehre unzulässig (Ziegler/Keller, in: Basler Kommentar, 2. Auflage 2014, Art.386 StPO N 1; Lieber, a.a.O., Art. 386N 2; Schmid/Jositsch, StPO Praxiskommentar, 3. Auflage 2018, Art.386 N 1; Riklin, StPO Kommentar, 2.Auflage 2014, Art.386 N1). Die Einsprache ist zwar kein eigentliches Rechtsmittel, sondern ein Rechtsbehelf, der das gerichtliche Verfahren erst auslöst. Doch auch im Rahmen des Einspracheverfahrens darf und muss eine beschuldigte Person auf ein rechtsstaatliches Verfahren vertrauen können und es gilt der Grundsatz, dass auf einen gerichtlichen Rechtsschutz nur der informierte Beschuldigte verzichten kann (BGE 140 IV 82 E. 2.6 S. 86). Dementsprechend ist auch ein vorzeitiger Einspracheverzicht unzulässig.


Vorliegend wurde der zur Frage stehende Strafbefehl der zuständigen Person der Staatsanwaltschaft am 9. April 2019 zugestellt und eine Orientierungskopie von dieser gleichentags per Einschreiben an die Wohnadresse des Beschwerdegegners versandt (vgl. Strafakten, S. 28). Die Sendung ist in der Folge erst am 17.April 2019 an der brasilianischen Grenze angekommen (vgl. Strafakten, S. 29). Zu diesem Zeitpunkt waren gemäss der Vorgehensweise der Staatsanwaltschaft bereits acht Tage der Zehntagesfrist verstrichen und eine rechtzeitige Kenntnisnahme sowie fristgerechte Erhebung der Einsprache war somit nicht möglich. Kommt vorliegend erschwerend hinzu, dass der Beschwerdegegner nach seiner mündlichen Befragung den Sachverhalt nicht anerkannte (vgl. Strafakten, S.15), und damit bereits im damaligen Zeitpunkt erkennbar war, dass der Beschwerdegegner sein Einspracherecht mit grosser Wahrscheinlichkeit ausüben möchte. Das Strafgericht ist damit zu Recht zum Schluss gekommen, dass das Vorgehen der Staatsanwaltschaft unzulässig war und der Strafbefehl daher nichtig ist.

3.4 An dieser Rechtswidrigkeit des Vorgehens der Staatsanwaltschaft würde sich selbst dann nichts ändern, wenn eine fristgerechte Einsprache möglich gewesen wäre. Die Staatsanwaltschaft verweist in ihrer Beschwerde auf den Entscheid der Anklagekammer des Kantonsgerichts St. Gallen AK.2014.261 vom 8. Oktober 2014 in welchem das Vorgehen der Staatsanwaltschaft, einer beschuldigten Person die Möglichkeit zu geben, eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft als Zustelldomizil im Sinne von Art. 87 Abs.2 StPO zu bezeichnen, gestützt worden sei. Aus diesem Entscheid vermag die Staatsanwaltschaft indessen nichts zu ihren Gunsten abzuleiten, da er nicht ans Bundesgericht weitergezogen wurde und insofern für das Appellationsgericht keinerlei Bindungswirkung entfaltet. Auch inhaltlich vermag der Entscheid nicht zu überzeugen, wenn erwogen wird, auf dem Formular werde in fettgedruckter Schrift und auf verständliche Weise darauf aufmerksam gemacht, dass die Rechtsmittelfrist bereits mit der Zustellung ans schweizerische Domizil zu laufen beginne, und damit die Erklärung der beschuldigten Person in voller Kenntnis der Tragweite abgegeben werde (vgl. E.3.2 f.). Dies verfängt vorliegend schon deshalb nicht, weil aus dem Formular nicht hervorgeht, dass die Einsprachefrist gegen einen allfälligen Strafbefehl lediglich zehn Tage betragen wird. Zudem wird die beschuldigte Person in dem Formular weder aufgeklärt, wie sich die Modalitäten betreffend Fristenwahrung aus dem Ausland darstellen, noch wird ersichtlich, ob und auf welche Weise sie von einer fristauslösenden Mitteilung überhaupt in Kenntnis gesetzt wird. Es ist auch nicht zutreffend, dass der beschuldigten Person eine dritte Wahlmöglichkeit - nämlich der Verzicht einer Angabe eines Schweizer Zustellungsdomizils - gegeben wird. Dem Formular fehlt jedenfalls eine entsprechende Auswahlmöglichkeit. Wohl könnte sich eine beschuldigte Person weigern, das Formular auszufüllen. Indessen vermittelt das Formular zumindest den Eindruck, dass eine der beiden Zustelldomizile gewählt werden müsse (vgl. Strafakten, S. 16 f. sowie act. 3). Und selbst wenn das Formular der Staatsanwaltschaft sämtliche vorerwähnten Punkte einhalten würde, wäre vollkommen unklar, und letztlich von der postalischen Zustellung im Wohnortstaat abhängig, um wie viele Tage die Einsprachefrist verkürzt werden würde. Wenn eine fristgerechte Einsprache - wie vorliegend (vgl. E. 3.3 oben) - nicht ohnehin schon verunmöglicht ist, so ist mit der Strafgerichtspräsidentin davon auszugehen, dass die Einsprachefrist erheblich verkürzt würde. Dem Beschwerdegegner konnte im Zeitpunkt der Wahl des Zustellungsdomizils auf dem Formular der Staatsanwaltschaft die Tragweite seiner Erklärung damit offensichtlich nicht bewusst gewesen sein, geschweige denn, dass er über diese Konsequenz aufgeklärt worden wäre. Das von der Staatsanwaltschaft gewählte Verfahren erweist sich daher mit Blick auf das Gebot eines fairen Verfahrens nach Art.6 Ziff. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK, SR 0.101) als unzulässig.


Die Strafgerichtspräsidentin weist schliesslich auch zu Recht auf den Entscheid des Appellationsgerichts BES.2019.118 vom 12. Juli 2019 hin (vgl. act. 5). Wie bereits erwähnt (vgl. E. 3.1 oben) gilt, unter anderem in Fällen, in denen die beschuldigte Person mit ausländischem Wohnsitz kein Zustelldomizil in der Schweiz bestimmt hat (vgl. Art. 88 Abs. 1 lit. c StPO), ein Strafbefehl nach Art. 88 Abs.4 StPO grundsätzlich auch ohne öffentliche Publikation als zugestellt. Das Appellationsgericht hat im erwähnten Entscheid in ausführlicher Weise und unter Hinweis auf die bundesstrafgerichtliche sowie bundesgerichtliche Rechtsprechung erwogen, dass diese Bestimmung nur zum Tragen kommen könne, wenn die Staatsanwaltschaft alle Anstrengungen unternommen hat, um den Aufenthaltsort der beschuldigten Person zu erforschen. Ist die ausländische Adresse einer beschuldigten Person bekannt oder kann sie eruiert werden, kann Art. 88 Abs. 4 i.V.m. Art.88 Abs.1 lit. c StPO nicht zur Umgehung des Rechtshilfeweges dienen. In diesen Fällen hat eine Zustellung auf dem Rechtshilfeweg zu erfolgen (AGE BES.2019.118 vom 12. Juli 2019 E.2.2.2). Dasselbe muss auch im vorliegenden Fall gelten. Wenn eine beschuldigte Person kein Zustelldomizil in der Schweiz zu nennen vermag, die ausländische Wohnadresse jedoch bekannt ist oder eruiert werden kann, kann der - zugestandener Weise aufwendigere - Rechtshilfeweg nicht dadurch umgangen werden, indem ein behördliches Zustelldomizil bei der Staatsanwaltschaft bezeichnet wird.


3.5 Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass das von der Staatsanwaltschaft gewählte Vorgehen kosten- und zeitsparend und damit äusserst effektiv ist. Nach Vorgesagtem erweist sich dieses indessen unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten als unzulässig. Es ist schliesslich auch zu beachten, dass es im Rahmen der Strafbefehlsverfahren in der Regel eher um die Ahndung sogenannter Bagatellkriminalität geht. Ist die Wohnadresse einer Person nicht bekannt, besteht ferner - sofern die Voraussetzungen dafür erfüllt sind - immer auch die Möglichkeit der Ausschreibung zur Aufenthaltsnachforschung (Art. 210 Abs. 1 StPO). Und insbesondere bei Wiederholungstätern kann die Eröffnung eines Strafbefehls bei der erneuten Einreise in die Schweiz oder im Anschluss an eine Polizeikontrolle erfolgen. Erst wenn die Staatsanwaltschaft alle Anstrengungen (erfolglos) unternommen hat, kann die Zustellung über eine Veröffentlichung im Kantonsblatt (Art. 88 Abs. 1 StPO) bzw. über Art. 88 Abs. 4 StPO erfolgen.


4.

Da der Staatsanwaltschaft die Adresse des Beschwerdegegners am ausländischen Wohnort bekannt war, wäre sie nach Gesagtem verpflichtet gewesen, für die Zustellung des Strafbefehls vom 9. April 2019 den Weg über die internationale Rechtshilfe zu gehen. Vorliegend hätte sich die Rechtshilfe am Vertrag RV-BRA orientieren müssen (vgl. E.3.2 oben). Somit ist die angefochtene Verfügung vom 4. September 2019 zu bestätigen und die Beschwerde der Staatsanwaltschaft abzuweisen. Auf die Erhebung von Gerichtskosten ist bei diesem Ausgang zu verzichten. Da der Beschwerdegegner nicht vertreten war und sich im Beschwerdeverfahren auch nicht vernehmen liess, ist keine Parteientschädigung zu sprechen.



Demgemäss erkennt das Appellationsgericht (Dreiergericht):


://: Die Beschwerde wird abgewiesen.


Es werden keine Kosten erhoben.


Mitteilung an:

- Staatsanwaltschaft Basel-Stadt

- Beschwerdegegner (mit englischer Übersetzung von Dispositiv und Rechtsmittelbelehrung)

- Strafgericht Basel-Stadt


APPELLATIONSGERICHT BASEL-STADT


Die Präsidentin Der Gerichtsschreiber

lic. iur. Liselotte Henz MLaw Thomas Inoue

Rechtsmittelbelehrung


Gegen diesen Entscheid kann unter den Voraussetzungen von Art. 78 ff. des Bundesgerichtsgesetzes (BGG) innert 30 Tagen seit schriftlicher Eröffnung Beschwerde in Strafsachen erhoben werden. Die Beschwerdeschrift muss spätestens am letzten Tag der Frist beim Bundesgericht (1000 Lausanne 14) eingereicht oder zu dessen Handen der Schweizerischen Post oder einer diplomatischen oder konsularischen Vertretung der Schweiz im Ausland übergeben werden (Art. 48 Abs. 1 BGG). Für die Anforderungen an den Inhalt der Beschwerdeschrift wird auf Art. 42 BGG verwiesen. Über die Zulässigkeit des Rechtsmittels entscheidet das Bundesgericht.



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