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Urteil Versicherungsgericht (SG)

Kopfdaten
Kanton:SG
Fallnummer:AVI 2018/25
Instanz:Versicherungsgericht
Abteilung:AVI - Arbeitslosenversicherung
Versicherungsgericht Entscheid AVI 2018/25 vom 18.03.2019 (SG)
Datum:18.03.2019
Rechtskraft:-
Leitsatz/Stichwort:Entscheid Art. 95 Abs. 1 AVIG. Art. 25 Abs. 1 und 2 ATSG. Art. 67 Abs. 1 VwVG. Rückforderungsanspruch der Verwaltung betreffend die zu Unrecht ausgerichtete Insolvenzentschädigung nach sozialversicherungsrechtlichen Gesichtspunkten grundsätzlich verwirkt. Indessen wurde die Leistungsausrichtung möglicherweise durch ein strafbares Verhalten des Beschwerdeführers beeinflusst, womit gegebenenfalls sowohl die Revisions- als auch die Verwirkungsfrist noch nicht abgelaufen wären. Rückweisung zur weiteren Abklärung eines strafbaren Verhaltens des Beschwerdeführers (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 18. März 2019, AVI 2018/25).
Schlagwörter : Beschwerde; Revision; Beschwerdeführer; Beschwerdegegnerin; Verfügung; Rückforderung; Januar; Abklärung; Stellung; Insolvenzentschädigung; Möglich; Arbeitgeberähnliche; Entscheid; Leistung; Sprach; Auszugehen; Abklärungen; Dezember; Strafverfahren; Kommen; Vergehen; August; Geschäftsführer; Verbrechen; Bereits; Arbeitslosenkasse; Einsprache; Formell
Rechtsnorm: Art. 25 ATSG ; Art. 53 ATSG ; Art. 55 ATSG ; Art. 66 VwVG ; Art. 67 VwVG ; Art. 87 AHVG ; Art. 98 StGB ;
Referenz BGE:125 V 476; 138 V 74;
Kommentar zugewiesen:
Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017
Weitere Kommentare:-
Entscheid
Entscheid vom 18. März 2019

Besetzung

Präsidentin Marie Löhrer, Versicherungsrichter Joachim Huber und Versicherungsrichterin Michaela Machleidt Lehmann; Gerichtsschreiber Jürg

Schutzbach

Geschäftsnr.

AVI 2018/25

Parteien

  1. ,

    Beschwerdeführer,

    gegen

    Kantonale Arbeitslosenkasse, Geltenwilen-strasse 16/18, 9001 St. Gallen,

    Beschwerdegegnerin,

    Gegenstand

    Insolvenzentschädigung (Rückerstattung, Verwirkung)

    Sachverhalt

    A.

    1. Über die B. GmbH wurde am 8. Januar 2013 der Konkurs eröffnet. Nachdem ihm das Konkursamt, Zweigstelle C. , am 15. Januar 2013 mitgeteilt hatte, dass der Betrieb eingestellt und das Arbeitsverhältnis mit sofortiger Wirkung aufgelöst sei, reichte A. am 22. Januar 2013 bei der Kantonalen Arbeitslosenkasse St. Gallen einen Antrag auf Insolvenzentschädigung ein. Dabei machte er zunächst geltend, es bestehe für den Dezember 2012 eine offene Lohnforderung von Fr. 6'000.--, zuzüglich

      13. Monatslohn in ebendieser Höhe, total somit Fr. 12'000.-- (act. G 3.1/489, 496 f.). Am 5. Februar 2013 erhöhte er die ausstehende Lohnsumme auf Fr. 25'000.--, indem

      er zusätzlich den Januar- und Februar 2013-Lohn samt Anteil am 13. Monatslohn geltend machte (act. G 3.1/469 f.). Am 8. Februar 2013 richtete die Arbeitslosenkasse St. Gallen zunächst einen Betrag von Fr. 6'680.85 aus, wobei sie eine (provisorische) Teilzahlung von 70 % vornahm (act. G 3.1/474). Am 30. Oktober 2013 berechnete sie den Anspruch definitiv auf Fr. 8'468.80 (netto) und leistete dementsprechend eine Nachzahlung von Fr. 1'787.95 (act. G 3.1/468).

    2. Mit E-Mail vom 17. Juli 2015 ersuchte der Präsident des Kreisgerichts D. die Arbeitslosenkasse in einer hängigen Strafsache wegen AHV-Delikten (Art. 87 AHVG) um Aktenzustellung betreffend Insolvenzentschädigung für A. . Gleichzeitig erwähnte er, dass der im Handelsregister eingetragene Gesellschafter und Geschäftsführer der B. GmbH, E. , nur ein Strohmann sei; faktischer Geschäftsführer und einziger Angestellter sei A. (act. G 3.1/461).

    3. Am 22. Januar 2016 ersuchte die Arbeitslosenkasse St. Gallen ihrerseits das Kreisgericht D. um Aktenedition zwecks erneuter Abklärung des Anspruchs von A. auf Insolvenzentschädigung, der wegen einer möglichen arbeitgeberähnlichen Stellung fraglich sei (act. G 3.1/460). Nachdem die Kasse an das Untersuchungsamt F. verwiesen wurde und dieses ein schriftliches und gesetzlich begründetes Akteneinsichtsgesuch verlangt hatte, versuchte die Kasse zunächst bei A. selber weitere Angaben erhältlich zu machen. Mit Schreiben vom 27. Januar 2016 und

      Mahnung vom 1. März 2016 forderte sie ihn auf, weitere Unterlagen einzureichen (act. G 3.1/458 f. und 466). Weiter klärte sie im April 2016 intern beim Rechtsdienst ab, welches die Voraussetzungen für ein Rückkommen auf die Verfügung sind (act. G 3.1/455 ff.).

    4. Am 7. Juli 2017 (Eingangsstempel Arbeitslosenkasse St. Gallen) teilte A. mit, der Fall sei längst abgeschlossen, sämtliche Unterlagen seien beim Firmenbesitzer E. oder beim Handelsregisteramt anzufordern (act. G 3.1/372). E. erklärte wiederum auf Anfrage vom 24. Juli 2017, er sei von A. als Strohmann eingesetzt

      worden und habe die Stammanteile an der B. GmbH nur treuhänderisch gehalten. Ansonsten habe er mit der Firma nichts zu tun gehabt. Er sei vollständig von der Anklage wegen Nichtablieferung von AHV-Beiträgen freigesprochen worden. Auch in

      diesem Strafverfahren sei dargelegt worden, dass "alles" über A. gelaufen sei (Schreiben vom 26. Juli 2017 [act. G 3.1/449 f.]).

    5. Am 28. Juli 2017 gelangte die Arbeitslosenkasse erneut an A. und forderte ihn nochmals auf, die verlangten Unterlagen (Statuten der Firma, Gründungsprotokolle, Organigramm, Auszüge seines Postkontos, IK-Auszug, Steuerveranlagungen 2012 und 2013) beizubringen (act. G 3.1/370). Mit Eingabe vom 21. August 2017 reichte A. diverse Unterlagen betreffend die B. GmbH ein, im Wesentlichen mit der Absicht darzulegen, dass sein Name nirgends im Zusammenhang mit der Firma erscheine, er also keine arbeitgeberähnliche Stellung gehabt habe (act. G 3.1/392 ff.). Auf entsprechende Aufforderung der Kasse vom 6. September 2017 reichte er schliesslich am 18. September 2017 noch den Lohnfluss belegende Akten ein (Postkonto, Quittungen [act. G 3.1/346, 362 und 378 ff.]). Nach Aufforderung per Mail vom 17. August 2017 stellte das Konkursamt Zweigstelle C. der Kasse am 21. August 2017 einige Konkursakten zu (act. G 3.1/241 ff.). Am 28. August 2017 wurden der Kasse die Akten des Strafverfahrens gegen E. zugestellt (act. G 3.1/7 - 229).

    6. Am 2. Oktober 2017 teilte die Arbeitslosenkasse St. Gallen A. mit, auf Grund der vorliegenden Akten sei davon auszugehen, dass er als Geschäftsführer und Inhaber der B. GmbH eine arbeitgeberähnliche Stellung hatte, weshalb kein Anspruch auf Insolvenzentschädigung bestehe (act. G 3.1/447). Mit Stellungnahmen (rechtlichem Gehör) vom 10. Oktober 2017 und vom 30. Oktober 2017 führte der Versicherte aus, er habe in der fraglichen Unternehmung die Funktion eines angestellten Energieberaters gehabt. Er sei weder am Betrieb beteiligt noch sei er als Geschäftsführer tätig gewesen (act. G 3.1/443 ff und 446).

    7. Mit Verfügung vom 1. Dezember 2017 forderte die Kasse von A. die bereits ausbezahlte Insolvenzentschädigung in Höhe von Fr. 8'468.80 (netto) zurück. Auf Grund der eingeholten Konkurs- und Strafakten sei davon auszugehen, dass er der eigentliche Geschäftsführer und Inhaber der B. GmbH gewesen sei und der im Handelsregister eingetragene E. nur als Strohmann fungiert habe. Da somit von einer arbeitgeberähnlichen Stellung auszugehen sei, bestehe kein Anspruch auf Insolvenzentschädigung (act. G 3.1/451 ff.).

    8. Mit Einsprache vom 3. Januar 2018 machte A. sinngemäss geltend, die Rückforderungsverfügung sei zu spät erfolgt. Die Kasse habe bereits am 17. Juli 2015 gewusst, dass er faktischer Geschäftsführer und Gesellschafter der B. GmbH gewesen sein soll. Das Gerichtsverfahren gegen E. sei am 22. September 2015 abgeschlossen worden. Da die Rückforderung nach einem Jahr erlösche, sei die Verfügung vom 1. Dezember 2017 verspätet erfolgt. Die Kasse habe nach dem Mail des Kreisgerichtspräsidenten vom 17. Juli 2015 ein halbes Jahr (bis 27. Januar 2016) und danach nochmals über ein Jahr (bis 24. Juli 2017) gewartet, bis sie Abklärungen getätigt habe (act. G 3.1/230 ff.).

    9. Mit Entscheid vom 29. März 2018 wies die Kasse die Einsprache ab. Die einjährige relative Verjährungsfrist (bzw. Verwirkungsfrist) beginne in der Regel im Zeitpunkt zu laufen, in dem die Verwaltung zumutbarerweise Kenntnis des Sachverhalts habe, der eine Rückforderung begründen könnte. Dies sei mit dem Erhalt der Gerichtsakten am

29. August 2017 der Fall gewesen. Die relative einjährige Verjährungsfrist sei damit eingehalten worden (act. G 3.1/237).

B.

    1. Gegen diesen Entscheid richtet sich die vorliegende Beschwerde von A. (nachfolgend: Beschwerdeführer) vom 23. April 2018 mit dem sinngemässen Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Einspracheentscheids. Der Rückforderungsanspruch sei bereits erloschen. Die Kasse (nachfolgend: Beschwerdegegnerin) habe am 17. Juli 2015 vom Kreisgericht D. erfahren, dass ein Verfahren gegen den Beschwerdeführer laufe und er angeblich der faktische Gesellschafter und Geschäftsführer sei. Die Insolvenzentschädigung sei am 8. Februar 2013 ausbezahlt worden, also vor mehr als fünf Jahren. Die Jahresfrist seit der Erkenntnis sei daher abgelaufen. In materieller Hinsicht macht er geltend, er sei in der B. GmbH lediglich als Arbeitnehmer angestellt gewesen (act. G 1).

    2. Mit Beschwerdeantwort vom 25. Mai 2018 beantragt die Verwaltung unter Verweis auf den Einspracheentscheid Abweisung der Beschwerde. (act. G 3). Ein weiterer Schriftenwechsel wurde nicht durchgeführt.

Erwägungen

1.

    1. Nach Art. 95 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung (AVIG; SR 837.0) in Verbindung mit Art. 25 Abs. 1 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 830.1) sind unrechtmässig bezogene Leistungen zurückzuerstatten. Der Rückforderungsanspruch erlischt mit dem Ablauf eines Jahres, nachdem die Versicherungseinrichtung davon Kenntnis erhalten hat, spätestens aber mit dem Ablauf von fünf Jahren nach der Entrichtung der einzelnen Leistung. Wird der Rückerstattungsanspruch aus einer strafbaren Handlung hergeleitet, für welche das Strafrecht eine längere Verjährungsfrist vorsieht, so ist diese Frist massgebend (Art. 25 Abs. 2 ATSG).

    2. Eine Leistung in der Sozialversicherung ist nach ständiger bundesgerichtlicher Rechtsprechung nur zurückzuerstatten, wenn bei eingetretener Rechtskraft der Leistungsentrichtung in verfahrensrechtlicher Hinsicht entweder die für die (prozessuale) Revision oder die für die Wiedererwägung erforderlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Diese Voraussetzungen sind in Art. 53 Abs. 1 und 2 ATSG umschrieben. Gemäss Art. 53 Abs. 1 ATSG müssen formell rechtskräftige Verfügungen und Einspracheentscheide in Revision gezogen werden, wenn die versicherte Person oder der Versicherungsträger nach deren Erlass erhebliche neue Tatsachen entdeckt oder Beweismittel auffindet, deren Beibringung zuvor nicht möglich war. Nach Art. 53 Abs. 2 ATSG kann der Versicherungsträger auf formell rechtskräftige Verfügungen oder Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese zweifellos unrichtig sind und wenn ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist. Den formell rechtskräftigen Verfügungen gleichgestellt sind auch die im formlosen Verfahren ergangenen Entscheide, soweit sie eine mit dem Ablauf der Beschwerdefrist bei formellen Verfügungen vergleichbare Rechtsbeständigkeit erreicht haben (UELI KIESER, ATSG- Kommentar, 3. Auflage, Art. 53 N 46). Leistungsabrechnungen der Arbeitslosenversicherung, die - wie im vorliegenden Fall - nicht in die Form einer

      formellen Verfügung gekleidet werden, weisen materiell Verfügungscharakter auf (Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts [EVG; seit dem 1. Januar 2007: Sozialrechtliche Abteilungen des Bundesgerichts] vom 14. Juli 2003, C 7/02, E. 3.1; BGE 125 V 476 E. 1 und 122 V 368 E. 2 mit Hinweisen). Sind formell oder formlos zugesprochene Leistungen noch nicht rechtskräftig geworden, kann die Verwaltung innert 30 Tagen darauf zurückkommen, ohne dass - wie dies im Fall des Zurückkommens auf rechtskräftige Verfügungen der Fall ist - die Voraussetzungen für eine Wiedererwägung oder Revision erfüllt sein müssen. Die Frist von 30 Tagen läuft ab Erlass der zu berichtigenden Verfügung oder ab Leistungsausrichtung. Sie darf nicht mit der «angemessenen Frist» von 90 Tagen verwechselt werden, die den Versicherten eingeräumt wird, um eine formelle Verfügung zu verlangen (vgl. zum Ganzen Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 16. Dezember 2010, AVI 2010/24, E. 2 mit Hinweisen; vgl. auch das Kreisschreiben über Rückforderung, Verrechnung, Erlass und Inkasso [KS-RVEI], Rz A3).

    3. Zwar beinhaltet Art. 53 Abs. 1 ATSG keine Revisionsfristen. Indessen ist davon auszugehen, dass Art. 67 Abs. 1 des Bundesgesetzes über das Verwaltungsverfahren (VwVG; SR 172.021) auch hier gilt (KIESER; a.a.O., Art. 53 Rz 38, mit Hinweis auf Art. 55 Abs. 1 ATSG, der ebenfalls auf die VwVG-Bestimmungen verweist). Demnach ist das Revisionsbegehren innert 90 Tagen nach Entdeckung des Revisionsgrundes, spätestens aber innert 10 Jahren nach Eröffnung des Entscheides schriftlich einzureichen. Nach Ablauf von zehn Jahren seit Eröffnung der in Revision zu ziehenden Verfügung oder des in Revision zu ziehenden Entscheids ist ein Revisionsbegehren nur aus dem Grund von Art. 66 Abs. 1 VwVG möglich (Beeinflussung des Entscheids durch ein Verbrechen oder Vergehen). Besonderheiten können sich ergeben, wenn der Revisionstatbestand länger dauernde Abklärungen erforderlich macht. Nach der Rechtsprechung reicht es hier aus, dass der Versicherungsträger der versicherten Person den Revisionsgrund und die (voraussichtliche) Abänderung der Verfügung fristgerecht anzeigt und die erforderlichen Abklärungen innert nützlicher Frist nachholt (KIESER, a.a.O., Art. 53 Rz 39, mit Hinweis auf SVR 2005 ALV Nr. 8 und Urteil des ehemaligen Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 23. April 2004 [C 214/03] E. 3.1.2).

2.

    1. Vorliegend sprach die Beschwerdegegnerin dem Beschwerdeführer mit formloser Abrechnung vom 30. Oktober 2013 Insolvenzentschädigung in Höhe von Fr. 8'468.80 (netto) zu (act. G 3.1/468). Nach dem in vorstehender Erwägung Gesagten war diese Abrechnung bereits am 27. Januar 2016, als die Beschwerdegegnerin dem Beschwerdeführer erstmals weitere Abklärungen angekündigt hatte, und erst recht zum Zeitpunkt der Rückforderungsverfügung vom 1. Dezember 2017, in formelle Rechtskraft erwachsen. Die Beschwerdegegnerin braucht für die Rückforderung somit einen Rückkommenstitel. Davon wurde die Sachbearbeitung der Beschwerdegegnerin auch von ihrem eigenen Rechtsdienst in Kenntnis gesetzt (act. G 3.1/456).

    2. Die Beschwerdegegnerin begründete die Rückforderungsverfügung vom 1. Dezember 2017 damit, dass der Beschwerdeführer - entgegen ihrer ursprünglichen Annahme - in der B. GmbH eine arbeitgeberähnliche Stellung innegehabt habe (act. G 3.1/451 ff.). Auf Grund der Aktenlage, insbesondere jener im Strafverfahren um die Nichtablieferung von AHV-Beiträgen (Art. 87 Abs. 3 AHVG) sowohl gegen den Beschwerdeführer als auch gegen den im Handelsregister eingetragenen Geschäftsführer und einzigen Gesellschafter der B. GmbH, E. , ist zweifellos von einer arbeitgeberähnlichen Stellung des Beschwerdeführers in der genannten Gesellschaft auszugehen, hatte er doch offensichtlich eine materielle Organstellung inne. In den Befragungen durch die Kantonspolizei und die Staatsanwaltschaft gab der Beschwerdeführer denn auch zu, der eigentliche Geschäftsführer der B. GmbH gewesen zu sein (act. G 3.1/147 und 160). Indem nunmehr davon auszugehen ist, dass materiell kein Anspruch auf Insolvenzentschädigung bestanden hat, erweist sich die ursprüngliche Leistungsausrichtung als anfänglich unrichtig. Es liegt mithin eine erhebliche neue Tatsache im Sinn von Art. 53 Abs. 1 ATSG - und damit ein Rückkommenstitel - vor. Unter alleiniger Berücksichtigung der sozialversicherungsrechtlichen Revisions- und Verjährungsfristen ist allerdings von einer verspäteten Geltendmachung der Rückforderung auszugehen. So erfuhr die Beschwerdegegnerin durch das Begehren des Kreisgerichts D. um Aktenzustellung vom 17. Juli 2015 erstmals davon, dass der Beschwerdeführer möglicherweise eine arbeitgeberähnliche Stellung in der B. GmbH gehabt haben und die Gewährung von Insolvenzentschädigung daher möglicherweise falsch gewesen sein könnte (act. G 3.1/461). Demnach hätte sie dem Beschwerdeführer bis 15. Oktober 2015 (90 Tage) zumindest die mögliche Revision der Verfügung anzeigen und danach die gebotenen

      Abklärungen zur arbeitgeberähnlichen Stellung und die anschliessende Rückforderungsverfügung innert nützlicher Frist tätigen bzw. erlassen müssen. Die erstmalige Anzeige an den Beschwerdeführer vom 27. Januar 2016 ist damit grundsätzlich verspätet erfolgt, so dass diesbezüglich eine prozessuale Revision nicht mehr möglich ist. Dies gilt selbst dann, wenn man der Beschwerdegegnerin zugestehen wollte, dass sie zuerst den Ausgang des Strafverfahrens gegen E. abwarten durfte (Urteil vom 22. September 2015) und dazu nicht andauernd beim Kreisgericht nachfragen musste, ob bereits ein Urteil gefällt worden sei, mithin, dass die Kenntnis einer möglichen arbeitgeberähnlichen Stellung erst im Januar 2016 gegeben und das Schreiben an den Beschwerdeführer vom 27. Januar 2016 somit rechtzeitig erfolgt war. Diesfalls wäre nämlich davon auszugehen, dass die gebotenen Abklärungen zur arbeitgeberähnlichen Stellung des Beschwerdeführers und die anschliessende Rückforderungsverfügung nicht innert nützlicher Frist getätigt bzw. erlassen wurden, nachdem die Beschwerdegegnerin nach Ablauf der mit Schreiben vom 1. März 2016 dem Beschwerdeführer gesetzten Frist zur Beibringung der verlangten Unterlagen (15. März 2016 [act. G 3.1/466]) während rund eineindrittel Jahren bis zum Schreiben vom 24. Juli 2017 an E. (act. G 3.1/450) in dieser Sache nichts mehr unternahm, erst am 17. August 2017 schliesslich ein Akteneinsichtsgesuch beim Untersuchungsamt F. stellte (act. G 3.1/7 f.), und selbst nach Vorliegen der Strafakten am 29. August 2017 bis zum Verfügungserlass vom 1. Dezember 2017 nochmals mehr als 90 Tage verstreichen liess.

    3. Indessen ist zu beachten, dass dem Rückforderungstatbestand möglicherweise ein strafbares Verhalten des Beschwerdeführers zu Grunde liegt, was die Beschwerdegegnerin bislang noch nicht geprüft hat. In Frage kommen der Tatbestand der unrechtmässigen Erwirkung von Versicherungsleistungen durch unwahre oder unvollständige Angaben oder in anderer Weise (Art. 105 Abs. 1 AVIG), aber auch die Straftatbestände Betrug oder Urkundenfälschung (Art. 146 und 251 des Strafgesetzbuches [StGB; sGS 311]). So wurde etwa der Arbeitsvertrag mit der B. GmbH mit 1. Januar 2012 datiert unterzeichnet (act. G 3.1/498 f.), tatsächlich soll er

      jedoch "sicherlich nicht im Januar 2012, evtl. 2-3 Monate später" unterzeichnet worden sein. Zudem war dem Geschäftskonto der B. GmbH keine Lohnzahlung in arbeitsvertraglicher Höhe zu entnehmen (vgl. act. 3.1/86 ff., 111 f., 117 ff., 169 ff.). Möglicherweise wurden der Arbeitsvertrag oder die Lohnabrechnungen erst

      nachträglich zum Zweck der Leistungserwirkung erstellt. Diesbezüglich wurde jedoch - soweit ersichtlich - noch kein Strafverfahren eröffnet. Kraft ausdrücklicher gesetzlicher Regelung (Art. 55 Abs. 1 ATSG i.V.m. Art. 67 Abs. 2 VwVG) besteht bei Vergehen und Verbrechen eine Dispensation (nur) von der - hier ohnehin eingehaltenen - absoluten zehnjährigen Frist, während die relative 90-tägige Revisionsfrist auch hier einzuhalten ist. Die Frist ist eingehalten, wenn die Verwaltung im Nachgang zu einem auf sicheren Grundlagen fussenden Wissen über ein Verbrechen oder Vergehen erste Abklärungen hinsichtlich einer in Frage stehenden prozessualen Revision vornimmt (vgl. Entscheid des Versicherungsgerichts vom 15. November 2018 [IV 2016/72] E. 4.1 und 4.3; vgl. auch Urteil des Bundesgerichts vom 21. August 2017 [8C_718/2016] 2.2). Nachdem vorliegend das erforderliche gesicherte Wissen um ein strafrechtlich relevantes Verhalten bzw. um ein mögliches unrechtmässiges Erwirken von Versicherungsleistungen mangels Vorliegens einer strafrechtlichen Untersuchung oder gar Verurteilung des Beschwerdeführers oder zumindest eigener fundierter Abklärungen der Beschwerdegegnerin noch nicht vorliegt, begann die 90-tägige relative Revisionsfrist noch nicht zu laufen. Vielmehr wird die Beschwerdegegnerin das Vorliegen eines in Frage kommenden Straftatbestandes erst noch zu prüfen haben. Dabei muss das Vorliegen eines Vergehens oder Verbrechens grundsätzlich im Rahmen eines Strafverfahrens festgestellt sein; eine Verurteilung ist indessen nicht erforderlich, da nur ein tatbestandsmässiges und rechtswidriges, nicht auch ein schuldhaftes Verhalten verlangt wird. Ist ein Strafverfahren oder ein Strafurteil nicht möglich, kann der Nachweis eines Verbrechens oder Vergehens auch anders erbracht werden. In diesem Fall entscheidet die Revisionsinstanz frei über das Vorliegen eines Verbrechens oder Vergehens (Entscheid des Versicherungsgerichts vom 15. November 2018 [IV 2016/72] E. 3.1 mit Hinweis auf Urteil des Bundesgerichts vom 28. Februar 2018 [8C_377/2017] E. 8.3.3). Die Sache ist damit zur Prüfung der Einleitung eines Strafverfahrens bzw. - sollte dies nicht möglich sein - zur eigenen Feststellung eines Vergehens oder Verbrechens und allfälliger fristgerechten Eröffnung eines Revisionsverfahrens an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen.

    4. Auch wenn man die Rückforderung als Ergebnis einer Wiedererwägung ansehen wollte und somit keine Revisionsfristen zu beachten wären, wäre - unter alleiniger Berücksichtigung von Art. 25 Abs. 2 ATSG - von einer verspäteten Geltendmachung des Rückforderungsanspruchs auszugehen. Um die Verfügung vom 1. Dezember 2017

      als rechtzeitig ansehen zu können, hätte diesfalls die Beschwerdegegnerin frühestens am 1. Dezember 2016 über zumutbare Kenntnis des Wiedererwägungsgrundes einer arbeitgeberähnlichen Stellung verfügt haben dürfen. Davon ist jedoch nicht auszugehen. Wie oben bereits ausgeführt, erfolgte der erste Hinweis auf die Fehlerhaftigkeit der Leistungszusprache bereits am 17. Juli 2015 (Mail des Kreisgerichtspräsidenten [act. G 3.1/461]). Wie ebenfalls bereits ausgeführt, hätte die Beschwerdegegnerin nach unbenütztem Fristablauf vom 15. März 2016 relativ bald anderweitige Abklärungen - insbesondere ein Akteneinsichtsgesuch beim Untersuchungsamt F. - einleiten müssen. Hätte die Beschwerdegegnerin die gebotenen Abklärungen innert nützlicher Frist getätigt, hätte sie überwiegend wahrscheinlich bis spätestens Ende November 2016 über zumutbare Kenntnis des Wiedererwägungsgrundes verfügen können und wäre damit in der Lage gewesen, bis spätestens Ende November 2017 die Rückforderungsverfügung zu erlassen.

    5. Die Verwirkung wäre indessen dann noch nicht eingetreten, wenn der Rückerstattungsanspruch aus einer strafbaren Handlung hergeleitet würde, für welche das Strafrecht eine längere Verjährungsfrist vorsieht (Art. 25 Abs. 2 Satz 2). Dies wäre bei den in vorstehender Erwägung 2.3 genannten Delikten der Fall. So beträgt die Verfolgungsverjährung beim unrechtmässigen Erwirken von Versicherungsleistungen (Art. 105 Abs. 1 AVIG) sieben Jahre, bei Betrug und Urkundenfälschung (Art. 146 und 251 StGB) 15 Jahre nach Ausführung der Tat (Art. 97 Abs. 1 lit. b und d i.V.m. Art. 98 StGB). Auch in Bezug auf den Rückkommenstitel einer Wiedererwägung wäre somit das Vorliegen eines Vergehens oder Verbrechens zu prüfen. Im Gegensatz zu den Revisionsvoraussetzungen braucht hier das Vorliegen eines Verbrechens oder Vergehens nicht grundsätzlich in einem Strafverfahren festgestellt zu werden. Indessen hat die Behörde, die sich auf eine längere strafrechtliche Verjährungsfrist beruft, auch hier Aktenmaterial zu produzieren, welches das strafrechtliche Verhalten hinreichend ausweist. Dabei gilt ein erhöhtes Beweismass gemäss Strafprozessrecht ("in dubio pro reo" [vgl. BGE 138 V 74]). Zudem ist hier - im Gegensatz zu den Revisionsvoraussetzungen - erforderlich, dass nebst dem objektiven Tatbestand auch die subjektiven Strafbarkeitsvoraussetzungen erfüllt sind (BGE 138 V 74 E. 6.1; Urteil des Bundesgerichts vom 21. August 2017 [8C_718/2016] E. 2.3).

3.

    1. Nach dem Gesagten ist der angefochtene Einspracheentscheid vom 29. März 2018 in teilweiser Gutheissung der Beschwerde aufzuheben und die Streitsache zur Abklärung eines allenfalls strafrechtlich relevanten Verhaltens des Beschwerdeführers und allfälliger Neueröffnung eines Revisions- oder Wiedererwägungsverfahrens an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen.

    2. Gerichtskosten sind keine zu erheben (Art. 61 lit. a ATSG).

Entscheid

im Zirkulationsverfahren gemäss Art. 39 VRP

1.

In teilweiser Gutheissung der Beschwerde wird der angefochtene Einspracheentscheid vom 29. März 2018 aufgehoben und die Streitsache zur Abklärung eines allenfalls strafrechtlich relevanten Verhaltens des Beschwerdeführers und allfälligen Neueröffnung eines Revisions- oder Wiedererwägungsverfahrens an die Beschwerdegegnerin zurückgewiesen.

2.

Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

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