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Urteil Verwaltungsgericht 2. Kammer (AG - AG WBE.2024.182)

Zusammenfassung des Urteils AG WBE.2024.182: Verwaltungsgericht 2. Kammer

Zusammenfassung: Der italienische Beschwerdeführer wurde in der Schweiz geboren und ist mehrfach strafrechtlich verurteilt worden, unter anderem wegen Diebstahls, Sachbeschädigung, Drohungen, Raubes, sexueller Delikte und weiteren Vergehen. Aufgrund seiner schweren Straftaten, der wiederholten Delinquenz und seiner Sozialhilfeabhängigkeit erachtete das Amt für Migration und Integration Kanton Aargau mehrere Widerrufsgründe als erfüllt und widerrief seine Niederlassungsbewilligung. Der Beschwerdeführer legte Einspruch ein, der jedoch abgewiesen wurde. Er erhob daraufhin Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Aargau. Das Gericht prüfte die Rechtmässigkeit des Widerrufs und berücksichtigte die Schwere der Straftaten, die öffentlichen Interessen und das Rückfallrisiko des Beschwerdeführers. Letztendlich bestätigte das Gericht den Widerruf der Niederlassungsbewilligung aufgrund der schweren Straftaten und des hohen öffentlichen Interesses an seiner Entfernung aus der Schweiz.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts AG WBE.2024.182

Kanton:AG
Fallnummer:AG WBE.2024.182
Instanz:Verwaltungsgericht 2. Kammer
Abteilung:-
Verwaltungsgericht 2. Kammer Entscheid AG WBE.2024.182 vom 04.09.2024 (AG)
Datum:04.09.2024
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:-
Schlagwörter: Gericht; Schweiz; Recht; Interesse; Beschwerdeführers; Gerichts; Urteil; Aufenthalt; Integration; Kanton; MI-act; Urteil; Aufenthalts; Bundesgericht; Freiheit; Widerruf; Massnahme; Kantons; Italien; Freiheitsstrafe; Bundesgerichts; Person; Wegweisung; Verurteilung; Verwaltungsgericht; Luzern; Taten; Niederlassungsbewilligung
Rechtsnorm: Art. 113 BGG ;Art. 121 BV ;Art. 123 ZPO ;Art. 13 BV ;Art. 189 StGB ;Art. 2 AIG ;Art. 2 StGB ;Art. 25 BV ;Art. 3 EMRK ;Art. 47 StGB ;Art. 63 AIG ;Art. 64 StGB ;Art. 66a StGB ;Art. 8 EMRK ;Art. 82 BGG ;Art. 83 AIG ;Art. 96 AIG ;
Referenz BGE:129 II 215; 130 II 176; 130 II 493; 135 II 110; 135 II 377; 136 II 5; 137 II 297; 139 I 145; 139 I 16; 144 I 266; 146 II 321; 146 II 49; 146 IV 311;
Kommentar:
-, , 1900

Entscheid des Verwaltungsgerichts AG WBE.2024.182

AG WBE.2024.182

WBE.2024.182 / fb / sp ZEMIS [***]; (E.2023.108) Art. 60

Urteil vom 4. September 2024

Besetzung

Verwaltungsrichter Busslinger, Vorsitz Verwaltungsrichter Blocher Verwaltungsrichter Clavadetscher Gerichtsschreiberin Peter

Beschwerdeführer

A._____, von Italien unentgeltlich vertreten durch Damian Cavallaro, Rechtsanwalt, Sägestrasse 66, Postfach, 3098 Köniz gegen Amt für Migration und Integration Kanton Aargau, Rechtsdienst, Bahnhofplatz 3C, 5001 Aarau

Gegenstand

Beschwerdeverfahren betreffend Widerruf der Niederlassungsbewilligung und Wegweisung Entscheid des Amtes für Migration und Integration vom 16. April 2024

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Das Verwaltungsgericht entnimmt den Akten: A. Der italienische Beschwerdeführer wurde am tt.mm.jjjj in der Schweiz geboren und ist im Besitz einer, zuletzt bis zum 31. August 2024 durch den Kanton Aargau ausgestellten, kontrollbefristeten Niederlassungsbewilligung EU/EFTA (Akten des Amtes für Migration und Integration [MI-act.] 4). Er ist Vater einer inzwischen volljährigen Tochter (geb. tt.mm.jjjj), zu welcher er aber seit deren dritten Altersjahr keinen Kontakt mehr unterhält und welche er in Missachtung seiner diesbezüglichen Unterhaltspflichten auch wirtschaftlich kaum unterstützte (MI-act. 329). Im Erwachsenenalter wurde der Beschwerdeführer wie folgt strafrechtlich verurteilt: -

Freiheitsstrafe von 18 Monaten und Busse von Fr. 300.00 wegen mehrfachen Diebstahls, Sachbeschädigung, mehrfachen geringfügigen Vermögensdelikts, mehrfacher Drohung, Hausfriedensbruchs, versuchter Brandstiftung, Brandstiftung, Fahrens eines Motorfahrzeugs in angetrunkenem Zustand, mehrfachen Fahrens ohne Führerausweis, Fahrens ohne Fahrzeugausweis Kontrollschilder, Missbrauchs von Ausweisen und Schildern und mehrfacher Übertretung des Bundesgesetzes über die Betäubungsmittel und die psychotropen Stoffe vom 3. Oktober 1951 (Betäubungsmittelgesetz, BetmG; SR 812.121) gemäss Urteil des Strafgerichts Zug vom 4. Dezember 2008 (MIact. 357 f.), wobei der Strafvollzug zugunsten einer stationären Suchtbehandlung aufgeschoben wurde;

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Freiheitsstrafe von sechs Monaten als Teilzusatzstrafe zur vorgenannten Verurteilung wegen versuchter einfacher Körperverletzung, mehrfacher Drohung, Tätlichkeiten, mehrfachen (und einmalig mit Mitführen einer Waffe begangenen) Raubes, Sachbeschädigung, Missbrauchs einer Fernmeldeanlage und Vernachlässigung von Unterhaltspflichten gemäss Entscheid des Amtsstatthalteramts Luzern vom 11. März 2009 (MI-act. 249);

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Geldstrafe von zehn Tagessätzen zu je Fr. 80.00 und Busse von Fr. 450.00 wegen mehrfachen Tätlichkeiten und Hinderung einer Amtshandlung gemäss Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Abteilung 1 Luzern vom 4. August 2017 (MI-act. 358);

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Geldstrafe von zehn Tagessätzen zu je Fr. 30.00 wegen Vergehens gegen das Bundesgesetz über Waffen, Waffenzubehör und Munition vom 20. Juni 1997 (Waffengesetz, WG; SR 514.54) gemäss Strafbefehl

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der Staatsanwaltschaft Abteilung 2 Emmen vom 27. Januar 2020 (MIact. 359); -

Freiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten, Geldstrafe von 58 Tagessätzen zu Fr. 130.00 sowie Busse von Fr. 300.00 als Zusatzstrafe zu den beiden letztgenannten Strafbefehlen und mit zusätzlicher Anordnung einer vollzugsbegleitenden ambulanten psychotherapeutischen Behandlung nach Art. 63 des Schweizerischen Strafgesetzbuchs vom 21. Dezember 1937 (StGB; SR 311.0) wegen mehrfacher Pornografie (Konsum), mehrfacher (teilweise versuchter) Vergewaltigung, mehrfacher (teilweise versuchter) sexueller Nötigung, mehrfacher Nötigung, mehrfachen Tätlichkeiten und Drohung gemäss Urteil des Kantonsgerichts des Kantons Luzern vom 14. Juli 2021 (MIact. 296 ff.; 359);

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Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten und Geldstrafe von 65 Tagessätzen zu je Fr. 30.00 wegen Sachbeschädigung, Diebstahls, mehrfacher Drohung, versuchter einfacher Körperverletzung, mehrfacher Beschimpfung, Beschimpfung und mehrfacher übler Nachrede gemäss Urteil des Bezirksgerichts Kulm vom 3. Juni 2022 (MI-act. 452 ff.).

Weiter lagen gemäss Betreibungsregisterauszügen der letzten drei Wohngemeinden des Beschwerdeführers vom 22. bzw. 23. Dezember 2022 insgesamt 21 nicht getilgte Verlustscheine und zwei offene Pfändungen im Gesamtbetrag von über Fr. 60'000.00 gegen diesen vor (MI-act. 375 ff., 380 ff.). Zudem musste er von Juli 2007 bis Januar 2008, von Oktober bis November 2017 und ab Oktober 2019 von der Sozialhilfe unterstützt werden, wobei sich die insgesamt bezogenen Beträge bis Dezember 2022 auf rund Fr. 65'000.00 aufsummierten (MI-act. 378, 385). Ab dem 20. April 2022 befand sich der Beschwerdeführer im (geschlossenen) Strafvollzug (MI-act. 364 ff., 611 f.). Aufgrund der wiederholten und teils schweren Straffälligkeit, der Verschuldung sowie der Sozialhilfeabhängigkeit des Beschwerdeführers erachtete das Amt für Migration und Integration Kanton Aargau (MIKA) gleich mehrere Widerrufsgründe als erfüllt und gewährte dem Beschwerdeführer hierzu am 1. Februar 2023 das rechtliche Gehör betreffend Widerruf der Niederlassungsbewilligung und Wegweisung aus der Schweiz (MIact. 387 ff.). Mit Schreiben vom 17. Februar 2023 bestellte das MIKA den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers für das erstinstanzliche Verfahren als unentgeltlichen Rechtsvertreter (MI-act. 399). Dieser nahm mit Eingabe vom

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15. Mai 2023 Stellung zum beabsichtigten Bewilligungswiderruf (MIact. 411 ff.). Am 18. Oktober 2023 heiratete der Beschwerdeführer die tt.mm.jjjj geborene venezolanische Asylbewerberin B._____, deren Asylgesuch inzwischen abgewiesen und die aus der Schweiz wegewiesen wurde (MIact. 471 ff., 487, 649). Am 15. November 2023 verfügte das MIKA den Widerruf der Niederlassungsbewilligung des Beschwerdeführers und wies diesen unter Ansetzung einer 90-tägigen Ausreisefrist aus der Schweiz weg. Zugleich wurde die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und sein Rechtsvertreter als unentgeltlicher Rechtsbeistand bestellt bzw. bestätigt (MI-act. 478 ff.). B. Gegen die Verfügung des MIKA liess der Beschwerdeführer mit Eingabe seines Rechtsvertreters vom 18. Dezember 2023 beim Rechtsdienst des MIKA (Vorinstanz) Einsprache erheben (MI-act. 495 ff.). Am 16. April 2024 erliess die Vorinstanz folgenden Einspracheentscheid (act. 1 ff.): 1. Die Einsprache wird abgewiesen. 2. Es werden keine Gebühren erhoben. 3. Dem Einsprecher wird für das Einspracheverfahren die unentgeltliche Rechtspflege gewährt und Damian Cavallaro, Rechtsanwalt, Köniz, zum unentgeltlichen Rechtsvertreter bestellt. Über die Höhe der Entschädigung wird mit separater Verfügung entschieden.

Auf die Begründung wird, soweit erforderlich, in den folgenden Erwägungen eingegangen. C. Mit Eingabe seines Rechtsvertreters vom 17. Mai 2024 erhob der Beschwerdeführer beim Verwaltungsgericht des Kantons Aargau (Verwaltungsgericht) Beschwerde und stellte folgende Anträge (act. 17 ff.): 1. Der Einspracheentscheid des Rechtsdienstes des Amtes für Migration und Integration des Kantons Aargau vom 16. April 2024 (Ref. Nr. ZEMIS: ***) sei aufzuheben.

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2. Vom Widerruf der Niederlassungsbewilligung sei abzusehen und es sei gegenüber dem Beschwerdeführer stattdessen eine Verwarnung auszusprechen. 3. Die Kontrollfrist der Niederlassungsbewilligung C (ZEMIS-Nr. ***) von A._____, geb. tt.mm.jjjj, sei zu verlängern. 4. Eventualiter: Die Niederlassungsbewilligung C (ZEMIS-Nr. ***) von A._____, geb. tt.mm.jjjj, sei in eine Aufenthaltsbewilligung B zurückzustufen und es sei mit A._____ eine Integrationsvereinbarung abzuschliessen. 5. Dem Beschwerdeführer sei für das Beschwerdeverfahren vor dem Verwaltungsgericht des Kantons Aargau die vollumfängliche unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren und es sei ihm der unterzeichnete Rechtsanwalt als unentgeltlicher Rechtsbeistand beizugeben. Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen.

Die Begründung ergibt sich, soweit erforderlich, aus den nachstehenden Erwägungen. Mit instruktionsrichterlicher Verfügung vom 27. Mai 2024 stellte das Verwaltungsgericht die Beschwerde samt Beilagen der Vorinstanz zur Beschwerdeantwort und Einreichung der Vorakten zu (MI-act. 55 f.). Am 4. Juni 2024 reichte die Vorinstanz aufforderungsgemäss die Akten ein und beantragte unter Festhaltung an ihren Erwägungen im angefochtenen Einspracheentscheid die Abweisung der Beschwerde (act. 57). Die Beschwerdeantwort vom 4. Juni 2024 wurde dem Beschwerdeführer am Folgetag zur Kenntnisnahme zugestellt, unter Verzicht auf die Anordnung eines weiteren Schriftenwechsels (act. 58 f.). Das Verwaltungsgericht hat den Fall auf dem Zirkularweg entschieden (vgl. § 7 des Gerichtsorganisationsgesetzes vom 6. Dezember 2011 [GOG; SAR 155.200]).

Das Verwaltungsgericht zieht in Erwägung: I. 1. Einspracheentscheide des MIKA können innert 30 Tagen seit Zustellung mit Beschwerde an das Verwaltungsgericht weitergezogen werden (§ 9 Abs. 1 des Einführungsgesetzes zum Ausländerrecht vom 25. November 2008 [EGAR; SAR 122.600]). Beschwerden sind schriftlich einzureichen und müssen einen Antrag sowie eine Begründung enthalten; der angefoch-

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tene Entscheid ist anzugeben, allfällige Beweismittel sind zu bezeichnen und soweit möglich beizufügen (§ 2 Abs. 1 EGAR i.V.m. § 43 des Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege vom 4. Dezember 2007 [Verwaltungsrechtspflegegesetz, VRPG; SAR 271.200]). Der Beschwerdeführer beantragt neben der Aufhebung des Einspracheentscheids der Vorinstanz vom 16. April 2024 die Verlängerung der Kontrollfrist seiner Niederlassungsbewilligung (Antrag 3). Da das Verwaltungsgericht die Kontrollfrist einer Niederlassungsbewilligung nicht selbst verlängern kann, ist dieser Antrag so zu verstehen, dass das MIKA im Falle einer Gutheissung der Beschwerde anzuweisen sei, die Kontrollfrist der Niederlassungsbewilligung zu verlängern bzw. ihm letztere zu belassen. Gleiches gilt für den mit Antrag 4 beantragten Abschluss einer Integrationsvereinbarung. Die vorliegende Beschwerde richtet sich gegen den Einspracheentscheid der Vorinstanz vom 16. April 2024. Die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts ist somit gegeben. Auf die frist- und formgerecht eingereichte Beschwerde ist, unter Beachtung der vorstehenden Präzisierung, einzutreten. 2. Unter Vorbehalt abweichender bundesrechtlicher Vorschriften Bestimmungen des EGAR können mit der Beschwerde an das Verwaltungsgericht einzig Rechtsverletzungen, einschliesslich Überschreitung Missbrauch des Ermessens, und unrichtige unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt werden. Die Ermessensüberprüfung steht dem Gericht jedoch grundsätzlich nicht zu (§ 9 Abs. 2 EGAR; vgl. auch § 55 Abs. 1 VRPG). Schranke der Ermessensausübung bildet das Verhältnismässigkeitsprinzip (vgl. BENJAMIN SCHINDLER, in: MARTINA CARONI/THOMAS GÄCHTER/DANIELA THURNHERR [Hrsg.], Stämpflis Handkommentar zum Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer [AuG], Bern 2010, N. 7 zu Art. 96 mit Hinweisen). In diesem Zusammenhang hat das Verwaltungsgericht gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung insbesondere zu klären, ob die Vorinstanz die gemäss Art. 96 des Bundesgesetzes über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration vom 16. Dezember 2005 (Ausländer- und Integrationsgesetz, AIG; SR 142.20) relevanten Kriterien (öffentliche Interessen, persönliche Verhältnisse, Integration) berücksichtigt hat und ob diese rechtsfehlerfrei gewichtet wurden (vgl. BENJAMIN

SCHINDLER, a.a.O., N. 9 zu Art. 96). Schliesslich ist im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zu entscheiden, ob die getroffene Massnahme durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt erscheint (sog. Verhältnismässigkeit im engeren Sinn).

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II. 1. 1.1. Die Vorinstanz hielt in ihrem Einspracheentscheid im Wesentlichen fest, dass der Beschwerdeführer mit seiner Verurteilung zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe wegen schwerer Sexualdelikte etc. durch das Luzerner Kantonsgericht den Widerrufsgrund der Verurteilung zu einer längerfristigen Freiheitsstrafe (Art. 63 Abs. 1 lit. b i.V.m. Art. 62 Abs. 1 lit. b AIG) gesetzt habe. Da die zur genannten Verurteilung führenden Straftaten entweder vor dem 1. Oktober 2016 begangen worden seien für sich genommen nicht Anlass für eine Landesverweisung hätten bilden können, stehe praxisgemäss auch das Dualismusverbot von Art. 63 Abs. 3 AIG einem Bewilligungswiderruf nicht entgegen. Ebenso wenig hindere nach bundesgerichtlicher Praxis der implizite Verzicht auf eine Landesverweisung in einer nachfolgenden Verurteilung durch das Bezirksgericht Kulm vom 3. Juni 2022 den Bewilligungswiderruf aufgrund der vorgenannten Anlasstaten, da eine Landesverweisung weder im unbegründet ergangenen bezirksgerichtlichen Strafurteil noch in der zugrundeliegenden Anklageschrift thematisiert worden sei. Sodann erfülle der Beschwerdeführer aufgrund seiner weiteren einschlägigen Verurteilungen und seiner Schulden auch den subsidiär anwendbaren Widerrufsgrund von Art. 63 Abs. 1 lit. b i.V.m. Art. 62 Abs. 1 lit. c AIG. Aufgrund der jahrelangen und teils gravierenden Straffälligkeit, der Uneinsichtigkeit des Beschwerdeführers sowie seiner nach wie vor bestehenden und auch gutachterlich attestierten hohen Rückfallgefahr sei mindestens auf ein sehr grosses öffentliches Fernhalteinteresse zu schliessen. Das grundsätzlich ebenfalls sehr grosse private Interesse des hier geborenen und sozialisierten Beschwerdeführers an einem weiteren Verbleib in der Schweiz werde hingegen durch dessen gesamthaft schlechte Integration relativiert, während seine gesundheitliche und familiäre Situation und die zu erwartenden Reintegrationsschwierigkeiten in Italien die Interessensabwägung nicht massgeblich zu seinen Gunsten verschieben würden und mildere Massnahmen wie eine blosse Verwarnung eine Bewilligungsrückstufung ausser Betracht fielen. Der Widerruf der Niederlassungsbewilligung erscheine damit sowohl begründet als auch verhältnismässig und halte unter Berücksichtigung der nach wie vor hohen Rückfallgefahr auch unter

freizügigkeitsrechtlichen Aspekten einer Überprüfung stand. Sodann sei eine Wegweisung nach Italien zulässig und zumutbar und könne der Beschwerdeführer mangels gefestigten Anwesenheitsrechts seiner Ehegattin und aufgrund der gesetzten Widerrufsgründe auch keine konventionsrechtlichen Ansprüche geltend machen bzw. wäre ein Eingriff in dieselben durch das überwiegende öffentliche Fernhalteinteresse gerechtfertigt.

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1.2. Der Beschwerdeführer bringt vor Verwaltungsgericht vor, dass das Bezirksgericht Kulm auf eine Landesverweisung verzichtet habe, obwohl es sowohl bei der Wahl der Sanktions- und Vollzugsart als auch bei der Strafzumessung seinen gesamten kriminellen Werdegang von Gesetzes wegen habe berücksichtigen müssen. Eine nachträgliche Korrektur dieser strafgerichtlichen Einschätzung stehe den Migrationsbehörden aufgrund des Dualismusverbots von Art. 63 Abs. 3 AIG nicht zu, eine Entfernungsmassnahme erscheine jedenfalls aber unverhältnismässig: Der Beschwerdeführer leide seit Kindes- und Jugendalter an psychischen Einschränkungen, weise jedoch insbesondere aufgrund der in Angriff genommenen Therapien positive Entwicklungstendenzen sowie eine Veränderungsfähigkeit und bereitschaft auf, was das öffentliche Fernhalteinteresse relativiere. Er sei in der Schweiz geboren und sozialisiert worden und könne nach seiner Haftentlassung voraussichtlich im Geschäft seines Stiefvaters arbeiten, während er in Italien weder über einen sozialen Empfangsraum noch über berufliche Perspektiven verfüge und sich dort mangels guter Italienischkenntnisse auch nur unzureichend verständigen könne. Gerade zur Deliktsprävention sei der Beschwerdeführer auf ein stabiles soziales Auffangnetz und seine hier aufgebauten therapeutischen Beziehungen angewiesen, während die Vorinstanzen die diesbezüglichen Verhältnisse in Italien nicht hinreichend abgeklärt hätten. Seine venezolanische Ehefrau dürfe gemäss Bestätigung des MIKA vom 3. Mai 2024 den Bewilligungsentscheid in der Schweiz abwarten und sei "demnach in Besitz einer Kurzaufenthaltsbewilligung des Kantons Aargau". Da er sich in Italien keine Wohnung leisten könne, drohe die Gefahr, dass ihm dort der Nachzug seiner Ehefrau verweigert werde und das konventionsrechtlich geschützte Eheleben nicht fortgesetzt werden könne. Die in Aussicht gestellten Entfernungs- und Fernhaltemassnahmen würden sich deshalb als unverhältnismässig, konventionswidrig sowie rechtswidrig erweisen und die Vereinbarkeit mit freizügigkeitsrechtlichen Vorgaben könne offengelassen werden. Stattdessen sei eine ausländerrechtliche Verwarnung auszusprechen und sei die Kontrollfrist der Niederlassungsbewilligung antragsgemäss zu verlängern, eventualiter sei eine Bewilligungsrückstufung zu verfügen. 2. 2.1.

Gemäss Art. 2 Abs. 2 AIG i.V.m. Art. 12 des Abkommens zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit vom 21. Juni 1999 (Freizügigkeitsabkommen, FZA; SR 0.142.112.681) gilt das AIG für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und ihre Familienangehörigen sowie für entsandte Arbeitnehmer nur inso-

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weit, als das FZA keine abweichenden Bestimmungen enthält das AIG eine vorteilhaftere Rechtsstellung vorsieht. Der Beschwerdeführer ist als Italiener Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates der Europäischen Union. Er kann sich damit nicht nur auf die Bestimmungen des AIG, sondern allenfalls auch auf jene des FZA berufen, sofern man ihn trotz seiner bereits vor der Inhaftierung bestehenden Sozialhilfeabhängigkeit noch als erwerbstätig erachtet und er seine Arbeitnehmereigenschaft inzwischen nicht eingebüsst hat. Letzteres muss im Sinne nachfolgender Ausführungen nicht abschliessend geklärt werden, wenn selbst unter den freizügigkeitsrechtlichen Vorgaben ein Bewilligungswiderruf statthaft erscheint. 2.2. Mit Blick auf das FZA dürfen gemäss Art. 5 Anhang I FZA die aus dem Abkommen eingeräumten Rechte nur durch Massnahmen eingeschränkt werden, welche aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind. Als Massnahmen im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA gelten alle Handlungen, die das Recht auf freie Einreise und Aufenthalt berühren; hierunter fällt auch die Nichtverlängerung der Aufenthaltsbewilligung. Somit ist vorliegend für die Beendigung des Aufenthalts des Beschwerdeführers in der Schweiz nebst dem AIG allenfalls auch Art. 5 Anhang I FZA massgebend. 2.3. Zu prüfen ist nach dem Gesagten einerseits, ob sich die Nichtverlängerung der Aufenthaltsbewilligung gemäss nationalem Recht als zulässig erweist, und anderseits, ob die angeordnete Massnahme allenfalls zu einer Verletzung der Freizügigkeitsrechte des Betroffenen führt. Die Reihenfolge der Prüfung ist dabei grundsätzlich nicht von Belang. Dabei ist jedoch Folgendes zu beachten: Auch wenn sich die Nichtverlängerung der Aufenthaltsbewilligung gemäss nationalem Recht als zulässig erweist, bedeutet dies nicht, dass die mit der Nichtverlängerung verbundene Wegweisung ohne Weiteres ausgesprochen werden darf. Vermittelt das FZA im Einzelnen eine günstigere Rechtsstellung, gehen diese Bestimmungen denjenigen des AIG vor (vgl. zum Ganzen: Urteile des Bundesgerichts 2C_831/2010 vom 27. Mai 2011, Erw. 2.2, und 2C_839/2011 vom 28. Februar 2012, Erw. 2.2; Botschaft vom 8. März 2002 zum Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer vom 16. Dezember 2005 [Ausländergesetz, AuG; SR 142.20; heute AIG] [Botschaft

AuG], Bundesblatt [BBl] 2002 3709 ff., 3736; PETER UEBERSAX/STEFAN SCHLEGEL, Einreise und Anwesenheit, in: PETER UEBERSAX/BEAT RUDIN/ THOMAS HUGI YAR/THOMAS GEISER/LUCIA VETTERLI [Hrsg.], Handbücher für die Anwaltspraxis, Ausländerrecht, 3. Aufl., Basel 2022, Rz. 9.20 f.).

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2.4. Weiter sind auch die konventions- und verfassungsmässigen Vorgaben zu beachten, namentlich das in Art. 8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (EMRK; SR 0.101) und Art. 13 Abs. 1 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV; SR 101) geschützte Recht auf Privat- und Familienleben. Nachfolgend wird deshalb zunächst die Zulässigkeit des Widerrufs der Niederlassungsbewilligung nach nationalem Recht geprüft (Erw. II/3 f.). Sodann werden die freizügigkeits- und konventionsrechtliche Zulässigkeit des Bewilligungswiderrufs und der Wegweisung sowie allfällige Vollzugshindernisse erörtert (Erw. II/5 ff.). 3. 3.1. In einem ersten Schritt ist zu prüfen, ob ein Widerrufsgrund vorliegt. 3.2. 3.2.1. Gemäss Art. 63 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 62 Abs. 1 lit. b AIG liegt ein Grund zum Widerruf einer Niederlassungsbewilligung unter anderem dann vor, wenn eine ausländische Person zu einer längerfristigen Freiheitsstrafe verurteilt gegen sie eine strafrechtliche Massnahme im Sinne von Art. 59­61 Art. 64 StGB angeordnet wurde. Von einer längerfristigen Freiheitsstrafe im Sinne von Art. 62 Abs. 1 lit. b AIG ist praxisgemäss immer dann auszugehen, wenn eine betroffene Person zu einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr verurteilt wurde (BGE 135 II 377, Erw. 4.2; Entscheid des Verwaltungsgerichts WBE.2011.1073 vom 27. März 2013, Erw. II/2.2), wobei unerheblich ist, ob die Strafe bedingt, teilbedingt unbedingt zu vollziehen ist (Urteil des Bundesgerichts 2C_685/2014 vom 13. Februar 2015, Erw. 3 und 4). Der Widerrufsgrund ist jedoch nur dann erfüllt, wenn eine Strafe für sich allein das Kriterium der Längerfristigkeit erfüllt, d.h. die Dauer von einem Jahr überschreitet (BGE 137 II 297, Erw. 2.3.6). 3.2.2. Der Beschwerdeführer wurde am 14. Juli 2021 vom Kantonsgericht Luzern unter anderem zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt (MI-act. 296 ff.), womit er unbestrittenermassen eine überjährige und damit längerfristige Freiheitsstrafe gegen sich erwirkte. Der Widerrufsgrund von Art. 63 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 62 Abs. 1 lit. b AIG ist damit erfüllt.

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3.3. 3.3.1. Gemäss Art. 63 Abs. 3 AIG (in der seit dem 1. Oktober 2016 in Kraft stehenden Fassung) ist der Bewilligungswiderruf aber unzulässig, wenn die Massnahme nur damit begründet wird, dass ein Delikt begangen wurde, für welches ein Strafgericht bereits eine Strafe strafrechtliche Massnahme verhängt, dabei jedoch von einer Landesverweisung abgesehen hat. Die Bestimmungen über die strafrechtliche Landesverweisung (Art. 66a ff. StGB) sind wiederum aufgrund von Art. 2 Abs. 1 StGB nur auf Straftaten anwendbar, die nach ihrem Inkrafttreten am 1. Oktober 2016 (AS 2016 2337) begangen wurden (BGE 146 IV 311, Erw. 3.2.2). Demnach ist ein Bewilligungswiderruf durch die Migrationsbehörden allein wegen Straffälligkeit nur noch dort unbeschränkt zulässig, wo die zum Widerruf Anlass gebenden Straftaten allesamt vor dem 1. Oktober 2016 begangen wurden (Urteile des Bundesgerichts 2C_108/2018 vom 28. September 2018, Erw. 3.3; 2C_778/2017 vom 12. Juni 2018, Erw. 6.2; 2C_140/2017 vom 12. Januar 2018, Erw. 6.2; 2C_986/2016 vom 4. April 2017, Erw. 2.1). Liegen Straftaten vor, die sowohl vor als auch nach dem 1. Oktober 2016 begangen wurden, kann die zuständige Migrationsbehörde die Niederlassungsbewilligung gleichwohl widerrufen (vgl. dazu die Weisungen und Erläuterungen Ausländerbereich [Weisungen AIG] des Staatssekretariats für Migration [SEM] vom Oktober 2013 [Stand am 1. Juni 2024], Erw. 8.4.2.3), wenn die Anlasstat(en) für den Widerruf vor dem 1. Oktober 2016 begangen wurde(n) und alternativ a) für nach dem 1. Oktober 2016 begangene Taten ein Strafurteil ohne Begründung ergeht, aus dem sich somit nicht entnehmen lässt, ob das Strafgericht bei seinem Entscheid, von der Landesverweisung abzusehen, die früheren Delikte mitberücksichtigt hat (Urteil des Bundesgerichts 2C_305/2018 vom 18. November 2019, Erw. 4.6 f.; BGE 146 II 321, Erw. 5.1); b) nach dem 1. Oktober 2016 nur Delikte begangen wurden, bei denen theoretisch eine nicht obligatorische Landesverweisung in Frage gekommen wäre, eine solche aber wegen der geringen Schwere der Delikte von den Strafbehörden gar nicht in Betracht gezogen wurde (BGE 146 II 49, Erw. 5.6); c) eine Verurteilung auf dem Wege des Strafbefehls ergeht, der ohnehin keine Landesverweisung vorsehen kann (Art. 352 Abs. 2 der Schweizerischen Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007

[Strafprozessordnung, StPO; SR 312.0] e contrario; vgl. Urteile des Bundesgerichts 2C_628/2019 vom 18. November 2019, Erw. 7.4; 2C_358/2019 vom 18. November 2019, Erw. 3.4; 2C_945/2019 vom 15. Januar 2020, Erw. 2.2.1).

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Ein Bewilligungswiderruf ist damit insbesondere dort nicht ausgeschlossen, wo das Strafgericht entweder gar keine Landesverweisung aussprechen konnte wo aus einem nachfolgenden Strafentscheid mangels spezieller Begründung nicht ersichtlich ist, ob beim impliziten expliziten Verzicht auf eine strafrechtliche Landesverweisung dem gesamten kriminellen Hintergrund der betroffenen ausländischen Person Rechnung getragen wurde (vgl. BGE 146 II 321, Erw. 5). 3.3.2. Anlass für den vorliegend zu beurteilenden Bewilligungswiderruf bildet die Verurteilung des Beschwerdeführers durch das Kantonsgericht Luzern vom 14. Juli 2021 (MI-act. 296 ff.). Dem damaligen Urteil lagen überwiegend Delikte zugrunde, die vor dem 1. Oktober 2016 begangen wurden. Lediglich die Verurteilung wegen Drohung und mehrfacher Tätlichkeit basiert auf Ereignissen im Dezember 2017, wobei Tätlichkeiten als blosse Übertretungstatbestände ohnehin nicht Anlass für eine obligatorische fakultative Landesverweisung bilden können (Art. 66a Abs. 1 und Art. 66abis StGB e contrario). Für die Drohung wurde wiederum nur eine Geldstrafe von 40 Tagessätzen ausgesprochen, was gegenüber der mehrjährigen Freiheitsstrafe für die vor dem 1. Oktober 2016 begangenen Taten kaum ins Gewicht fällt und für sich genommen hier offenkundig keinen hinreichenden Anlass für eine Landesverweisung bilden konnte (MI-act. 301, 334 f.). Nach dargelegter Praxis (Erw. II/3.3.1 lit. b) ist deshalb davon auszugehen, dass eine Landesverweisung wegen Drohung aufgrund des geringfügigen Strafmasses vom Kantonsgericht Luzern von vornherein nicht in Betracht gezogen wurde und ein Widerruf der Niederlassungsbewilligung wegen der übrigen vor dem 1. Oktober 2016 begangenen Vergehen und Verbreichen weiterhin zulässig erscheint. Ebenso wenig stehen die weiteren Verurteilungen des Beschwerdeführers einem Bewilligungswiderruf entgegen: In den Strafbefehlsverfahren war die Aussprechung einer Landesverweisung von vornherein unzulässig (Erw. II/3.3.1 lit. c), weshalb diese Entscheide für die hier zu beantwortende Fragestellung unabhängig vom Tatbegehungszeitpunkt irrelevant erscheinen. Das Urteil des Bezirksgerichts Kulm vom 3. Juni 2022 betrifft zwar ausschliesslich Taten, die nach dem 1. Oktober 2016 begangen wurden (MI-act. 373 f.). Es handelt sich aber ausschliesslich um

Delikte, die zu einer fakultativen Landesverweisung nach Art. 66abis StGB führen könnten. Das Bezirksgericht Kulm hatte sich nicht zur Landesverweisung geäussert und das Urteil erfolgte ohne schriftliche Begründung und unter blossem Verweis auf die Anklageschrift, welche ihrerseits keinerlei Anträge zu einer allfälligen Landesverweisung enthält und diese nicht weiter thematisiert (MI-act. 452 ff., 528 ff.). Nach dargelegter Bundesgerichtspraxis durfte das MIKA damit die zuvor begangenen und bereits rechtskräftig abgeurteilten Straftaten für den Bewilligungswiderruf berücksichtigen (Erw. II/3.3.1 lit. a).

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Hieran ändert auch der Umstand nichts, dass Vorleben und Vorstrafen bei der Strafzumessung und beim Entscheid über die konkrete Vollzugsform grundsätzlich von Gesetzes wegen zu berücksichtigen sind (Art. 41 f. und Art. 47 StGB), ansonsten die soeben dargelegte Bundesgerichtspraxis gar nie zur Anwendung gelangen könnte. Dem Bewilligungswiderruf steht damit auch das Dualismusverbot von Art. 63 Abs. 3 AIG nicht entgegen. 3.4. Der Beschwerdeführer erfüllt damit aufgrund seiner Verurteilung zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe durch das Kantonsgericht Luzern vom 14. Juli 2021 den Widerrufsgrund der Verurteilung zu einer längerfristigen Freiheitsstrafe nach Art. 63 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 62 Abs. 1 lit. b AIG und die strafrechtlichen Verurteilungen entfalten hier keine Bindungswirkung im Sinne von Art. 63 Abs. 3 AIG. Ob der Beschwerdeführer darüber hinaus weitere Widerrufsgründe erfüllt, kann im Sinne der nachfolgenden Ausführungen an dieser Stelle offenbleiben, jedoch ist seiner wiederholten Straffälligkeit, seiner Verschuldung und seiner Sozialhilfeabhängigkeit zumindest im Rahmen der nachfolgenden Interessenabwägung Rechnung zu tragen. 4. 4.1. Der Widerruf bzw. die Verweigerung einer Bewilligung rechtfertigt sich nur, wenn die jeweils im Einzelfall vorzunehmende Interessenabwägung die entsprechende Massnahme als verhältnismässig erscheinen lässt (BGE 135 II 377, Erw. 4.3). Konkret muss bei Gegenüberstellung aller öffentlichen und privaten Interessen ein überwiegendes öffentliches Interesse an der Entfernung der betroffenen ausländischen Person aus der Schweiz resultieren. Ob sämtliche relevanten Kriterien berücksichtigt und richtig angewandt worden sind bzw. ob sich der Widerruf die Verweigerung einer Bewilligung als verhältnismässig erweist, ist als Rechtsfrage durch das Verwaltungsgericht frei zu prüfen. 4.2. 4.2.1. Beim Vorliegen von Widerrufsgründen infolge Straffälligkeit bestimmt sich das Mass des öffentlichen Interesses vorab anhand der Schwere des Verschuldens des der Betroffenen. Ausgangspunkt und Massstab dafür sind die von der Strafbehörde verhängten Strafen. Das heisst, je höher eine Strafe ausfällt, umso höher ist aus migrationsrechtlicher Sicht das Verschulden der betroffenen Person ­ und damit einhergehend das öffentliche

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Interesse an der Beendigung ihrer Anwesenheit ­ zu qualifizieren. Bei Festsetzung des Strafmasses werden strafmildernde Umstände überdies stets mitberücksichtigt, weshalb auf die Beurteilung der Strafbehörde grundsätzlich abzustellen ist (BGE 129 II 215, Erw. 3.1, sowie Urteil des Bundesgerichts 2C_797/2011 vom 12. Juni 2012, Erw. 2.2). Wird ein Strafurteil in Bezug auf die Strafzumessung rechtskräftig, bleibt damit nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts in der Regel kein Raum, im migrationsrechtlichen Verfahren die diesbezügliche Beurteilung des Strafrichters bzw. der Strafrichterin zu relativieren (vgl. Urteile des Bundesgerichts 2C_925/2020 vom 11. März 2021, Erw. 4.4, 2C_421/2020 vom 7. Oktober 2020, Erw. 6.4.1, und 2C_1067/2019 vom 18. Februar 2020, Erw. 2.3.2, je mit Hinweisen). Bei schweren Straftaten, insbesondere bei Gewalt-, Sexual- und schweren Betäubungsmitteldelikten, sowie bei wiederholter Delinquenz bzw. erneuter Delinquenz nach Untersuchungshaft, nach verbüsster Freiheitsstrafe nach migrationsamtlicher Verwarnung erhöht sich aus migrationsrechtlicher Sicht das öffentliche Interesse am Widerruf bzw. an der Verweigerung der Bewilligung entsprechend. 4.2.2. Der Beschwerdeführer wurde mit rechtskräftigem Urteil des Kantonsgerichts Luzern vom 14. Juli 2021 unter anderem zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Damit liegt das vom Beschwerdeführer erwirkte Strafmass weit über der Grenze von einem Jahr, welche für das Vorliegen eines Widerrufsgrunds gemäss Art. 63 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 62 Abs. 1 lit. b AIG massgeblich ist. Allein schon die Dauer der Freiheitsstrafe lässt aus migrationsrechtlicher Sicht bereits auf ein schweres Verschulden des Beschwerdeführers schliessen (vgl. Urteil des Bundesgerichts 2C_940/2014 vom 30. Mai 2015, Erw. 5.3; BGE 139 I 145, Erw. 3.4), womit bereits von einem sehr grossen öffentlichen, insbesondere sicherheitspolizeilichen Interesse an der Entfernung des Beschwerdeführers aus der Schweiz auszugehen ist (BGE 135 II 377, Erw. 4.4). Die Motive und Umstände, die dazu geführt haben, dass sich der voll schuldfähige Beschwerdeführer derart gravierender Straftaten schuldig gemacht hat, wurden bereits vom Luzerner Kantonsgericht als Verschuldenselemente bei der Strafzumessung berücksichtigt. Es besteht daher kein

Anlass, diese Beurteilung im vorliegenden migrationsrechtlichen Verfahren zu relativieren, insbesondere auch nicht in Bezug auf die Persönlichkeitsstörung und die geltend gemachten psychischen Defizite des unbestrittenermassen voll schuldfähigen Beschwerdeführers. Für die Bemessung des migrationsrechtlichen öffentlichen Interesses an der Beendigung des Aufenthalts einer ausländischen Person ist primär die ausgefällte Strafe massgebend. Nicht entscheidend ist dabei, ob der Strafrichter bzw. die Strafrichterin das strafrechtliche Verschulden als schwer, mittelschwer

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oder gar leicht eingestuft hat. Eine andere Betrachtungsweise würde dazu führen, dass bei einem Straftäter bzw. einer Straftäterin, welche Delikte mit einem kleinen gesetzlichen Strafrahmen begangen haben, denen jedoch aus strafrechtlicher Sicht ein schweres Verschulden vorzuwerfen ist, aus migrationsrechtlicher Sicht trotz relativ geringer ausgefällter Strafe ein grosses öffentliches Interesse an der Verfügung aufenthaltsbeendender Massnahmen anzunehmen wäre, was mit Blick auf eine rechtsgleiche Behandlung nicht angeht. Massgebend ist somit nicht die einheitliche Bezeichnung der Schwere des Verschuldens durch den Strafrichter bzw. die Strafrichterin und die Migrationsbehörden, sondern die kohärente Quantifizierung des öffentlichen Interesses an einer Beendigung des Aufenthalts bei allen durch die Migrationsbehörden zu beurteilenden Personen (Entscheid des Verwaltungsgerichts WBE.2018.355 vom 4. September 2019, Erw. II/3.2.2). 4.2.3. 4.2.3.1. In einem zweiten Schritt sind sodann sämtliche weiteren Umstände zu berücksichtigen, die zu einer Erhöhung des öffentlichen Interesses am Widerruf bzw. an der Verweigerung der Bewilligung führen können (siehe vorne Erw. II/4.2.1). 4.2.3.2. Auslöser des vorliegenden Verfahrens bilden hauptsächlich Delikte gegen die sexuelle und körperliche Integrität. Zu den dem Luzerner Strafurteil vom 14. Juli 2021 zugrunde liegenden und vor dem 1. Oktober 2016 begangenen Tathandlungen ist Folgendes festzuhalten: Der Beschwerdeführer verlangte und erzwang mit Schlägen und psychischem Druck von seiner damaligen Partnerin wiederholt ungewöhnliche Sexualpraktiken (Femdom) bis zum Geschlechtsverkehr. Zudem nutzte er die Notlage seiner Partnerin aus, welche er mit Heiratsversprechen in die Schweiz gelockt hatte und die hier fremd und isoliert war. Er ignorierte dabei nicht nur ihre verbal und körperlich geäusserte Gegenwehr, sondern auch ihre Schmerzbekundungen. Seine Taten erfolgten aus rein egoistischen Motiven, hatten weitreichende gesundheitliche Folgen für das Opfer und führten unter anderem zu einem Suizidversuch, einem Schwangerschaftsabbruch und einer kulturbedingten Verstossung durch deren Familie. Zudem speicherte er verbotene Pornografie, die sexuelle Handlungen mit Gewalttätigkeiten zeigte (MI-act. 331 ff.). Die vom Beschwerdeführer begangenen versuchten

Sexualdelikte stellen mit Ausnahme des letztgenannten Vergehens grundsätzlich besonders schwerwiegende Taten dar. Sodann handelt es sich bei den mehrfachen (teilweise versuchten) sexuellen Nötigungen und Vergewaltigungen gemäss Art. 189 f. StGB um in Art. 121 Abs. 3 und 4 BV angelegte und in

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Art. 66a Abs. 1 lit. h StGB gesetzlich verankerte Anlasstaten, deren Begehung grundsätzlich dazu führt, dass die ausländische Person unabhängig von ihrem ausländerrechtlichen Status ihr Aufenthaltsrecht sowie alle Rechtsansprüche auf Aufenthalt in der Schweiz verliert. Dieser Absicht des Verfassungs- bzw. Gesetzgebers trägt das Bundesgericht bei der Auslegung des AIG insoweit Rechnung, als dies zu keinem Widerspruch mit übergeordnetem Recht führt und mit gleichwertigen Verfassungsbestimmungen, namentlich dem Verhältnismässigkeitsprinzip im Einklang steht (Urteil des Bundesgerichts 2C_339/2013 vom 18. Juli 2013, Erw. 2.5). Auch wenn der am 1. Oktober 2016 in Kraft getretene Art. 66a Abs. 1 StGB nicht rückwirkend angewendet werden darf, ist bei der Interessenabwägung zu berücksichtigen, dass entsprechende Taten heute (unter Vorbehalt der Härtefallklausel von Art. 66a Abs. 2 StGB) zwingend zu einer Landesverweisung führen würden, was die Schwere der Gesetzesverletzung unterstreicht (Urteil des Bundesgerichts 2C_1003/2016 vom 10. März 2017, Erw. 5.2). Insgesamt erhöht sich in Anbetracht der Art der vom Beschwerdeführer begangenen Delikte das öffentliche Interesse an der Beendigung seines Aufenthalts in der Schweiz erheblich. 4.2.3.3. Der Beschwerdeführer wurde vor der verfahrensauslösenden Verurteilung vom 14. Juli 2021 insgesamt viermal verurteilt, wobei insbesondere die Verurteilung zu einer 18-monatigen Freiheitsstrafe am 4. Dezember 2008 und die dazu verhängte Zusatzstrafe vom 11. März 2009 wegen verschiedener Vermögens- und Gewaltdelikten durch das Strafgericht Zug bzw. das Amtsstatthalteramt Luzern ins Gewicht fallen (siehe vorne lit. A). Teilweise beging er damals Delikte, die neurechtlich ebenfalls zu einer obligatorischen Landesverweisung führen würden (teilweise qualifizierter Raub, Diebstahl in Verbindung mit Hausfriedensbruch und Brandstiftung, vgl. Art. 66a Abs. 1 lit. c, d und i StGB). Der Beschwerdeführer hat somit bereits vor der verfahrensauslösenden Verurteilung teils gravierende Straftaten begangen und vor längerer Zeit schon einmal eine überjährige und damit längerfristige Freiheitsstrafe im Sinne von Art. 62 Abs. 1 lit. b AIG (damals noch Art. 62 lit. b AuG) erwirkt. Ob er aufgrund der damaligen Delinquenz in seinem damaligen Wohnkanton ausländerrechtlich verwarnt wurde,

erschliesst sich allerdings nicht aus den vorinstanzlichen Akten. Danach beging der Beschwerdeführer teilweise noch während laufender Probezeiten und strafrechtlicher Ermittlungen weitere Delikte. Weniger als ein Jahr nach seiner Verurteilung durch das Luzerner Kantonsgericht vom 14. Juli 2021 wurde er vom Bezirksgericht Kulm erneut zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten und einer Geldstrafe von 65 Tagessätzen zu je Fr. 30.00 wegen Sachbeschädigung, Diebstahls, mehrfacher Drohung, ver-

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suchter einfacher Körperverletzung und mehrerer Ehrverletzungsdelikte verurteilt (MI-act. 373 f., 452). Weder die zum Teil einschlägigen Straferkenntnisse, auch wenn diese teilweise bereits längere Zeit zurückliegen, noch laufende Probezeiten und Strafuntersuchungen haben den Beschwerdeführer davon abgehalten, weitere schwerwiegende Taten über einen Zeitraum von mehreren Jahren zu begehen. Dies zeugt von Unbelehrbarkeit, Gleichgültigkeit und Geringschätzung gegenüber der hiesigen Rechtsordnung im Allgemeinen und auch einer Geringschätzung gegenüber der Unversehrtheit anderer Menschen. Entsprechend erhöht sich unter diesem Gesichtspunkt das öffentliche Interesse an der Beendigung des hiesigen Aufenthalts des Beschwerdeführers (vgl. Urteil des Bundesgerichts 2C_641/2013 vom 17. Dezember 2013, Erw. 3.4.1). 4.2.4. 4.2.4.1. Der Beschwerdeführer macht geltend, die der verfahrensauslösenden Verurteilung vom 14. Juli 2021 zugrundeliegenden Tathandlungen bzw. sein generelles Legalverhalten sei durch die aktenkundigen und bereits im Kindes- und Jugendalter bestehenden psychischen Beeinträchtigungen zu relativieren, selbst wenn gutachterlich nicht von einer verminderten Schuldfähigkeit ausgegangen worden sei. Zudem sei er therapeutisch beeinflussbar sowie veränderungsfähig und -bereit, was sich positiv auf seine Legalprognose auswirke. 4.2.4.2. Bei der Bemessung des öffentlichen Interesses an der Beendigung des Aufenthalts einer ausländischen Person wegen deren Straffälligkeit ist zu berücksichtigen, ob konkrete Gründe vorliegen, die auf ein reduziertes Rückfallrisiko schliessen lassen. So kann nach den gesamten Umständen die Gefahr, dass der die Betroffene in absehbarer Zukunft erneut gegen die Rechtsordnung verstösst, im Zeitpunkt der ausländerrechtlichen Beurteilung ausnahmsweise derart reduziert sein, dass deswegen das öffentliche Interesse an seiner ihrer Entfernung aus der Schweiz entscheidwesentlich tiefer zu veranschlagen ist, als aufgrund des erwirkten Strafmasses und unter Berücksichtigung allfälliger interessenserhöhender Faktoren festgestellt (vgl. ANDREAS ZÜND/ARTHUR BRUNNER, Beendigung der Anwesenheit, Entfernung, Fernhaltung, in: UEBERSAX/RUDIN/HUGI YAR/GEISER/VETTERLI [Hrsg.], a.a.O., Rz. 10.61 ff.). Allerdings geht das Verwaltungsgericht in konstanter Rechtsprechung davon aus,

dass bei Staatsangehörigen von Drittstaaten grundsätzlich auch generalpräventive Überlegungen bei der Bemessung des öffentlichen Interesses an der Beendigung der Anwesenheit mitberücksichtigt werden können (Entscheide des Verwaltungsgerichts WBE.2018.386 vom 5. Dezember 2019, Erw. II/3.2.4.2, WBE.2016.429 vom 31. Mai 2017, Erw. II/3.2.3, und

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WBE.2011.1020 vom 27. März 2013, Erw. II/3.2.2; Entscheid des Rekursgerichts im Ausländerrecht des Kantons Aargau 1-BE.2009.00031 vom 16. November 2010, Erw. II/3.2.2, bestätigt mit Urteil des Bundesgerichts 2C_13/2011 vom 22. März 2011, Erw. 2.2; vgl. auch Urteil des Bundesgerichts 2C_45/2017 vom 10. August 2017, Erw. 2.6). Entsprechend kommt im Rahmen einer Interessenabwägung nach rein nationalem Ausländerrecht der Rückfallgefahr bzw. der Wahrscheinlichkeit künftigen Wohlverhaltens nicht dieselbe zentrale Bedeutung zu wie im Anwendungsbereich des FZA (Urteil des Bundesgerichts 2C_516/2014 vom 24. März 2015, Erw. 4.3.2). Nach dem Gesagten ist bei Drittstaatsangehörigen grundsätzlich erst dann ausnahmsweise von einer entscheidwesentlichen Tieferveranschlagung des öffentlichen Interesses auszugehen, wenn das individuelle Rückfallrisiko nur noch sehr klein erscheint. Insbesondere bei schwerwiegenden Straftaten ist in ausländerrechtlicher Hinsicht zum Schutz der Öffentlichkeit kein Restrisiko weiterer Beeinträchtigungen wesentlicher Rechtsgüter hinzunehmen und es steht den Migrationsbehörden frei, diesbezüglich einen strengeren Massstab anzulegen als der Strafrichter bzw. die Strafrichterin (Entscheide des Verwaltungsgerichts WBE.2018.386 vom 5. Dezember 2019, Erw. II/3.2.4.2, und WBE.2012.1015 vom 14. Juni 2013, Erw. II/5.2.2; BGE 139 I 16, Erw. 2.2.1, und 125 II 521, Erw. 4a/bb). Gleiches gilt, wenn eine allfällige Reduktion des Rückfallrisikos von EU/EFTA-Staatsangehörigen gemäss nationalem Recht zu beurteilen ist. Den erhöhten Anforderungen an die Wegweisung von EU/EFTA-Staatsangehörigen ist in einem nächsten Schritt Rechnung zu tragen (vgl. hinten Erw. II/5). 4.2.4.3. Der Beschwerdeführer hat insbesondere mit seinen Sexualdelikten teilweise (sehr) schwerwiegende Straftaten begangen (siehe vorne Erw. II/3.2.2). Damit ist nach dem Gesagten das öffentliche Interesse an der Beendigung seiner Anwesenheit in der Schweiz ­ zumindest nach den innerstaatlichen Regeln (zu den hier mitzuberücksichtigenden freizügigkeitsrechtlichen Vorgaben siehe hinten Erw. II/5) ­ grundsätzlich erst und nur dann entscheidwesentlich tiefer zu veranschlagen, wenn Umstände vorliegen, aufgrund derer ohne signifikantes Restrisiko ­ d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ­ ausgeschlossen werden kann, dass er in

absehbarer Zukunft erneut delinquiert. Vorliegend lösten die mit dem Urteil des Kantonsgerichts Luzern am 14. Juli 2021 abgeurteilten Straftaten das migrationsrechtliche Verfahren aus. Die zugrundeliegenden Tathandlungen wurden überwiegend im Winter 2013 bzw. 2014 begangen (MI-act. 373). Somit ist vorliegend massgebend, wie sich das Verhalten des Beschwerdeführers seit Winter 2014 präsentiert.

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Der Beschwerdeführer befand sich vom 10. Januar 2018 bis zum 8. Mai 2018 und vom 16. bis zum 19. Mai 2020 in Untersuchungshaft und wurde dazwischen bzw. danach unter Auflagen entlassen. Seit dem 20. April 2022 befindet er sich im (geschlossenen) Strafvollzug, wobei eine bedingte Entlassung frühestens am 14. August 2024 möglich ist (MI-act. 333, 364 ff., 528, 611 f.). Während seiner Zeit in Freiheit hat er sich keineswegs wohlverhalten, vielmehr wurde er am 14. Juli 2017 (mehrfache Tätlichkeiten und Hinderung einer Amtshandlung), am 7. September 2019 (Verstoss gegen das Waffengesetz) und zwischen Februar und Dezember 2020 (mehrere Ehrverletzungsdelikte, Sachbeschädigung, Diebstahl, mehrfache Drohungen und versuchte einfache Körperverletzung) trotz laufender Strafuntersuchungen und teilweise noch laufender Probezeiten erneut straffällig (MI-act. 372 ff.; 452 ff.; 528 ff.). Der Beschwerdeführer musste sich sodann bereits nach seiner Verurteilung durch das Strafgericht des Kantons Zug vom 4. Dezember 2008 in eine Suchtbehandlung zur Behandlung seiner Alkoholsucht begeben, welche gestützt auf ein psychiatrisches Gutachten später in eine Behandlung wegen psychischer Störung und eine Suchtbehandlung umgewandelt wurde. Danach ordneten die Vollzugs- und Bewährungsdienste des Kantons Zug am 21. Juni 2013 eine ambulante therapeutische Behandlung an (MI-act. 337). Auch das Kantonsgericht Luzern ordnete in seinem Urteil vom 14. Juli 2021 vollzugsbegleitende ambulante Massnahmen an. Der Beschwerdeführer befindet sich damit seit geraumer Zeit in einem therapeutischen Setting, ohne dass hierdurch sein Legalverhalten nachhaltig positiv beeinflusst wurde. Vielmehr wurden ihm in mehreren psychiatrischen Gutachten erhebliche Rückfallrisiken attestiert, gerade auch im Bereich sexueller Gewaltstraftaten. Die Risikoabklärung des Amts für Justizvollzug des Kantons Bern ging in ihrem Bericht vom 24. Mai 2022 (nachfolgend: ROS-Bericht) von einer Persönlichkeits-, Sexual- und Substanzkonsumstörung mit fehlender Therapie- und Veränderungsbereitschaft und weiterhin hohem Risiko für schwerwiegende Gewalt- und Sexualdelikte aus (MIact. 438 f.). Gemäss Therapieverlaufsbericht vom 16. Februar 2024 ist diese Risikoeinschätzung weiterhin aktuell, wenngleich der Beschwerdeführer im engmaschig korrigierten Vollzugssetting therapeutische

Termine wahrnahm, suchtmittelabstinent blieb und keine ausgeprägt dissoziale bzw. psychopathische Verhaltensweisen zeigte (act. 41 ff.). Auch der Vollzugs- und Bewährungsdienst des Kantons Luzern schätzt das Risiko weiterer Gewalt- und Sexualdelikte mit Entscheid vom 18. April 2024 als weiterhin hoch ein, zumal sich der Beschwerdeführer in Bezug auf seine venezolanische Ehefrau in einer vergleichbar problematischen Beziehungskonstellation wie mit seiner Ex-Partnerin befinde (act. 46 ff.). Dem Urteil des Kantonsgerichts Luzern und den diversen Therapie- und Vollzugsberichten ist sodann zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer seine Taten teilweise bis heute bestreitet bagatellisiert, wenngleich er

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sich im Therapieverlauf etwas einsichtiger und weniger externalisierend bagatellisierend zeigte (act. 43 f.). Dies zeugt nicht von einer gänzlich vollzogenen, auf Einsicht beruhenden Veränderungsfähigkeit und -bereitschaft, wie dies der Beschwerdeführer geltend macht. An dieser Ausgangslage vermag der Umstand, dass sich der Beschwerdeführer im Strafvollzug überwiegend wohl verhalten hat, nichts zu ändern. Eine gute Führung im Strafvollzug wird generell erwartet. Auch herrscht im geschlossenen Vollzug eine sehr engmaschige Betreuung, was keine verlässlichen Rückschlüsse auf das künftige Verhalten in Freiheit zulässt (Urteile des Bundesgerichts 2C_360/2013 vom 21. Oktober 2013, Erw. 2.3, und 2C_733/2012 vom 24. Januar 2013, Erw. 3.2.4). Der Beschwerdeführer vermag auch keine "biografische Kehrtwende" im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zu belegen (vgl. Urteil des Bundesgerichts 2C_634/2018 vom 5. Februar 2019, Erw. 6.3.2), welche eine signifikante Reduktion der von ihm ausgehenden Rückfallgefahr untermauern würde. Vielmehr legt sein bisheriges Verhalten nahe, dass er auch weiterhin nicht bereit ist, die hiesige Rechtsordnung zu beachten. Dementsprechend sind auch die in der Beschwerdeschrift angeführten Präjudizien (Urteil des Bundesgerichts 2C_385/2018 vom 29. November 2018 und Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte [EGMR] Nr. 42034/04 in Sachen Emre gegen die Schweiz vom 22. August 2008) nicht einschlägig, wo es vornehmlich um episodenhafte Delinquenz junger Erwachsener ging, welche auch insgesamt wesentlich geringfügiger war als in der vorliegenden Konstellation. Nach dem Gesagten ist festzuhalten, dass beim Beschwerdeführer zwar erste Anzeichen einer Verhaltensänderung zu erkennen sind. Diese vermögen indessen nicht mit einer hinreichend grossen Wahrscheinlichkeit auszuschliessen, dass er in absehbarer Zukunft erneut delinquieren wird. Das öffentliche Interesse ist unter dem Gesichtspunkt seiner weiterhin erheblichen Rückfallgefahr somit nicht in entscheidrelevanter Weise tiefer zu veranschlagen, sondern akzentuiert sich mit Blick auf seine weiterhin negative Legalprognose eher noch. 4.2.5. Nach dem Gesagten ist festzuhalten, dass bereits aufgrund der gegen den Beschwerdeführer ausgefällten längerfristigen Freiheitsstrafe und der Art der von ihm begangenen

Straftaten ein sehr grosses bis äusserst grosses öffentliches Interesse an der Beendigung seines hiesigen Aufenthalts besteht. Dies wird aufgrund seiner wiederholten und teilweise einschlägigen Delinquenz trotz laufender Probezeiten und Strafuntersuchungen sowie hoher Rückfallrisiken weiter erhöht, weshalb insgesamt von einem äusserst grossen öffentlichen Fernhalteinteresse auszugehen ist.

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4.3. 4.3.1. Dem festgestellten und auf jeden Fall äusserst grossen öffentlichen Interesse am Widerruf der Niederlassungsbewilligung und an der Wegweisung des Beschwerdeführers aus der Schweiz ist sein privates Interesse am weiteren Verbleib gegenüberzustellen. Das private Interesse einer Person am weiteren Verbleib in der Schweiz bestimmt sich aufgrund ihrer Aufenthaltsdauer in der Schweiz und der dabei erfolgten Integration, ihrer familiären Verhältnisse, ihrer gesundheitlichen Situation und ihrer (Re-)Integrationschancen im Heimatland. 4.3.2. 4.3.2.1. Bei der Bemessung des privaten Interesses kommt der Aufenthaltsdauer in der Schweiz eine erhebliche Bedeutung zu. Je länger eine Person in einem bestimmten Land lebt, desto enger werden in der Regel die Beziehungen sein, die sie dort geknüpft hat, und umso grösser ist grundsätzlich ihr Interesse an einem Verbleib in diesem Land. Dabei ist die anrechenbare Aufenthaltsdauer praxisgemäss abstrakt ­ unter Abzug der in Unfreiheit bzw. ohne Aufenthaltsberechtigung in der Schweiz verbrachten Zeitspanne ­ zu berechnen (vgl. Entscheide des Verwaltungsgerichts WBE.2017.531 vom 22. Mai 2018, Erw. II/4.3.2 und WBE.2016.546 vom 27. Juni 2018, Erw. II/4.3). Massgebend ist aber nicht die Aufenthaltsdauer für sich allein. Vielmehr lässt sich das aus der Aufenthaltsdauer resultierende private Interesse erst unter Berücksichtigung der während der Aufenthaltsdauer erfolgten Integration ­ namentlich in sprachlicher, kultureller, sozialer, beruflicher und wirtschaftlicher Hinsicht ­ bestimmen. Damit gilt der Grundsatz "je länger die Aufenthaltsdauer, umso grösser das private Interesse an einem Verbleib in der Schweiz" nur, wenn die Integration einen der Aufenthaltsdauer entsprechenden Grad erreicht. Wird der aufgrund der Aufenthaltsdauer zu erwartende Integrationsgrad übertroffen, ist das private Interesse an einem Verbleib in der Schweiz entsprechend höher zu veranschlagen. Erreicht die Integration demgegenüber den mit Blick auf die Aufenthaltsdauer zu erwartenden Grad nicht, stellt die Entfernungsmassnahme für die betroffene Person einen weniger gravierenden Eingriff dar und ist das private Interesse an einem Verbleib in der Schweiz entsprechend tiefer zu veranschlagen. Demnach lässt sich das aus der anrechenbaren Aufenthaltsdauer resultierende private Interesse

am weiteren Verbleib in der Schweiz erst im Rahmen einer Gesamtbetrachtung feststellen. Anzumerken bleibt, dass bei sehr langer Aufenthaltsdauer ein entsprechend hoher Integrationsgrad, mithin eine sehr erfolgreiche Integration, erwartet wird, weshalb das private Interesse in diesen Fällen in der Regel nicht höher zu veranschlagen ist.

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4.3.2.2. Der Beschwerdeführer lebt seit Geburt durchgehend in der Schweiz, weshalb grundsätzlich von einem äusserst grossen privaten Interesse an einem weiteren Verbleib im Land auszugehen ist. Angesichts seiner rechtmässigen Aufenthaltsdauer von (weit) über zehn Jahren kann sich der Beschwerdeführer grundsätzlich auch auf den Schutz seines Privatlebens im Sinne von Art. 8 Abs. 1 EMRK bzw. Art. 13 Abs. 1 BV berufen (Urteil des Bundesgerichts 2C_738/2019 vom 19. Dezember 2019, Erw. 3.3). Im Folgenden ist zu prüfen, wie sich der Beschwerdeführer mit Blick auf die Aufenthaltsdauer in der Schweiz integriert hat und ob aufgrund des Integrationsgrades ein abweichendes privates Interesse resultiert. 4.3.2.3. Was die sprachliche Integration des Beschwerdeführers anbelangt, ist davon auszugehen, dass er neben Italienisch fliessend Deutsch- und Schweizerdeutsch spricht, was angesichts seines lebenslangen Aufenthalts in der Schweiz aber auch ohne Weiteres erwartet werden kann. Entsprechend ist von einer normalen sprachlichen Integration auszugehen. 4.3.2.4. Unter dem Aspekt der kulturellen und sozialen Integration ist namentlich zu berücksichtigen, in welchem Alter die betroffene Person in die Schweiz eingereist ist, welche sozialen Beziehungen sie ausserhalb ihrer Familie in der Schweiz pflegt und ob aufgrund ihres gesamten Verhaltens auf eine vertiefte Verwurzelung in der Schweiz zu schliessen ist. Der Beschwerdeführer ist in der Schweiz aufgewachsen und sozialisiert worden und hat sein gesamtes Leben hier verbracht. Sodann ist davon auszugehen, dass ihm die hiesigen kulturellen Gepflogenheiten bekannt sein dürften. Von einer Sozialisierung in der Schweiz ­ im Sinne einer Einordnung in die Gesellschaft und der damit verbundenen Übernahme gesellschaftlich bedingter Verhaltensweisen ­ kann beim Beschwerdeführer jedoch nur bedingt die Rede sein. Sein hiesiges soziales Umfeld hat ihn bisher nicht von seiner Delinquenz abhalten können und wurde teilweise gerade Ziel seiner Straftaten. Überdies ist bereits aufgrund seiner mehrjährigen Inhaftierungen von einer gewissen Desintegration auszugehen. Tiefgreifende ausserfamiliäre soziale Beziehungen zur hiesigen Bevölkerung werden von ihm jedenfalls nicht substanziiert geltend gemacht. Mit Blick auf seinen lebenslangen Aufenthalt in der Schweiz ist deshalb von einer unterdurchschnittlichen bzw. eher mangelhaften Integration in kultureller und sozialer Hinsicht auszugehen.

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4.3.2.5. Weiter ist zu prüfen, ob sich die betroffene Person in beruflicher Hinsicht entsprechend ihrer Aufenthaltsdauer in der Schweiz integriert hat und beim Verlassen der Schweiz ein stabiles Arbeitsumfeld aufgeben müsste. Den Akten ist zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer über keinen Berufsabschluss verfügt und in wechselnden Temporär- und Festanstellungen als Maurer auf dem Bau arbeitete (MI-act. 329). Gemäss einem entsprechenden Bestätigungsschreiben und eigenen Angaben soll er nach seiner Entlassung aus dem Strafvollzug eine Anstellung bei seinem Stiefvater in Aussicht haben (MI-act. 422). Für seine mangelhafte Berufsausbildung macht der Beschwerdeführer seine teilweise diagnostizierten sozialen, kognitiven und psychischen Defizite verantwortlich. Anhand des Therapieverlaufsberichts vom 16. Februar 2024 ergeben sich indessen keine Anhaltspunkte, dass die psychische Erkrankung des Beschwerdeführers eine berufliche Integration klarerweise erschweren würde. So erschien der Beschwerdeführer bis auf wenige Ausnahmen zuverlässig und pünktlich zu den psychotherapeutischen Terminen und habe er sich im Kontakt freundlich und korrekt gezeigt. Auch die agoraphobischen Angst- und Panikgefühle seien im Vollzugssetting und mit Anpassung der Medikation kaum noch aufgetreten (act. 43). Ebenso wenig ist eine schwerwiegende Intelligenzminderung ersichtlich, welche seiner beruflichen Integration entgegengestanden wäre. Bemühungen, schulische Defizite im Erwachsenenalter aufzuholen nachträgliche Bemühungen um einen Berufsabschluss sind ebenfalls nicht ersichtlich. Nicht zuletzt dürfte auch die persistente Straffälligkeit, die erwirkten Freiheitsstrafen und der Alkohol- und Suchtmittelabusus der beruflichen Integration des Beschwerdeführers entgegengestanden sein. Damit ist die berufliche Integration des Beschwerdeführers auch unter Berücksichtigung der geltend gemachten sozialen, kognitiven und psychischen Defizite hinter üblichen Erwartungen zurückgeblieben und klar unterdurchschnittlich verlaufen. Zu seinen Gunsten kann jedoch gewürdigt werden, dass er zumindest zeitweise einer existenzsichernden Tätigkeit nachging. Insgesamt ist seine berufliche Integration damit als eher mangelhaft zu qualifizieren. 4.3.2.6. Unter dem Aspekt der wirtschaftlichen Integration ist einerseits von Bedeutung, ob

die betroffene Person wirtschaftlich unabhängig ist, d.h. ihren eigenen Lebensunterhalt und denjenigen von zu unterstützenden Familienangehörigen primär mit eigenen Mitteln, insbesondere ohne Inanspruchnahme der öffentlichen Fürsorge, finanzieren kann, und andererseits, wie sich ihre Schuldensituation präsentiert.

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Der Beschwerdeführer kam in der Vergangenheit seinen finanziellen Verpflichtungen nicht immer nach: Die Alimente an seine Tochter blieb er weitgehend schuldig, weshalb er vom Amtsstatthalteramt Luzern am 11. März 2009 (MI-act. 248 f.) auch strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen wurde. Gemäss den Betreibungsregisterauszügen seiner letzten drei Wohngemeinden vom 22. bzw. 23. Dezember 2022 liegen insgesamt 21 nicht getilgte Verlustscheine und zwei offene Pfändungen im Gesamtbetrag von über Fr. 60'000.00 gegen ihn vor (MI-act. 375 ff., 380 ff.). Eine massgebliche Schuldenrückzahlung hat bislang nicht stattgefunden. Zudem musste er von Juli 2007 bis Januar 2008, von Oktober bis November 2017 und seit Oktober 2019 von der Sozialhilfe unterstützt werden, wobei sich die insgesamt bezogenen Beträge bis Dezember 2022 auf rund Fr. 65'000.00 aufsummierten (MI-act. 378, 385). Es ist deshalb ohne Weiteres von einer klar mangelhaften wirtschaftlichen Integration des Beschwerdeführers in der Schweiz auszugehen. 4.3.2.7. Zusammenfassend ist der Beschwerdeführer in sprachlicher Hinsicht normal, in kultureller, sozialer sowie beruflicher Hinsicht eher mangelhaft und in wirtschaftlicher Hinsicht klar mangelhaft in die schweizerischen Verhältnisse integriert. Mit Blick auf die sehr lange Aufenthaltsdauer in der Schweiz ist die Integration des Beschwerdeführers deshalb insgesamt als mangelhaft bis eher mangelhaft zu qualifizieren. Damit ist unter Würdigung seiner äusserst langen bzw. lebenslangen Aufenthaltsdauer noch von einem grossen bis sehr grossen privaten Interesse am weiteren Verbleib in der Schweiz auszugehen. 4.3.3. 4.3.3.1. Weiter ist zu prüfen, ob hinsichtlich der Kernfamilie und der weiteren Familienangehörigen der betroffenen Person von einem erhöhten privaten Interesse am weiteren Verbleib in der Schweiz auszugehen ist. Dabei sind namentlich eine eheliche, partnerschaftliche gefestigte Konkubinatsbeziehung sowie das Vorhandensein von Kindern bzw. erwachsenen Verwandten in auf- absteigender Linie relevant. Von Bedeutung sind die Auswirkungen und die der betroffenen Person und ihrer Familie drohenden Nachteile bei einer Ausreise aus der Schweiz (BGE 135 II 377, Erw. 4.3; Urteil des Bundesgerichts 2C_410/2018 vom 7. September 2018, Erw. 4.2). 4.3.3.2. Der Beschwerdeführer ist Vater einer

inzwischen volljährigen Tochter, mit welcher er aber seit deren dritten Altersjahr keinerlei Kontakt unterhält. Zudem ist er seit dem 18. Oktober 2023 mit einer venezolanischen Staatsangehörigen verheiratet, deren Aufenthalt in der Schweiz seit der Abweisung von deren Asylgesuch aber nur noch bis zur Klärung der Bewilligungs-

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situation des Beschwerdeführers geduldet ist. Aufgrund der Inhaftierung des Beschwerdeführers konnte das eheliche Zusammenleben bislang auch noch nicht aufgenommen werden. Kennengelernt haben sich die Eheleute gemäss Stellungnahme seines Anwalts vom 15. Mai 2023 im Frühjahr 2021 (MI-act. 416 Rz. 11). Wie sich aber zumindest aus dem ROS-Bericht vom 24. Mai 2022 und dem Therapieverlaufsbericht vom 16. Februar 2024 erschliesst, wurde die Beziehung bis zur Inhaftierung des Beschwerdeführers offenbar online gepflegt, wobei unklar ist, inwieweit bzw. wie häufig es schon zu persönlichen Treffen gekommen ist (MI-act. 439; act. 44). Ferner leben seine Eltern und sein Stiefvater in der Schweiz (MI-act. 502 f.). 4.3.3.3. Das private Interesse des Beschwerdeführers und seiner Ehefrau, weiterhin in ehelicher Gemeinschaft zusammenleben zu können, wird durch mehrere Umstände stark relativiert: Zum einen ist nicht ersichtlich, weshalb das bislang aufgrund der Inhaftierung des Beschwerdeführers noch gar nicht aufgenommene eheliche Zusammenleben nicht in der italienischen Heimat des Beschwerdeführers etabliert werden kann. Dass dem Beschwerdeführer ein entsprechender Nachzug von den italienischen Behörden inskünftig verweigert werden könnte, wird in der Beschwerdeschrift zwar behauptet, ist aber aufgrund unbestrittenermassen auch in Italien bestehenden Nachzugsansprüchen unglaubhaft. Insbesondere ist nicht ersichtlich, weshalb es den Eheleuten nicht möglich sein sollte, in Italien eine Wohnung zu organisieren und zu finanzieren, nachdem der Beschwerdeführer und wohl auch dessen Ehefrau grundsätzlich erwerbsfähig sind. Die vagen Hinweise auf die schlechteren Erwerbschancen und zu erwartende Integrationsschwierigkeiten genügen hierfür jedenfalls nicht (vgl. zu den Integrationschancen in Italien auch hinten Erw. II/4.3.5). Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass der Beschwerdeführer in etwas widersprüchlicher Weise behauptet, dass ihn seine Familie nicht einmal kurzfristig in Italien finanziell unterstützen könne (act. 28), zugleich aber verlauten lässt, dass seine Ehefrau derzeit von seiner Mutter alimentiert werde (act. 19). Zum anderen haben die Eheleute ihre Ehe im Wissen geschlossen, diese allenfalls nicht in der Schweiz leben zu können, nachdem dem Beschwerdeführer bereits Monate vor dem Eheschluss ein

Bewilligungswiderruf in Aussicht gestellt wurde und er sich seit dem 20. April 2022 im Strafvollzug befindet (vgl. Urteil des Bundesgerichts 2C_945/2019 vom 15. Januar 2020, Erw. 3). Weiter verfügt die Ehefrau des Beschwerdeführers über kein gefestigtes Anwesenheitsrecht und im Übrigen auch nicht über eine Kurzaufenthaltsbewilligung in der Schweiz. Ihr prozeduraler Aufenthalt in der Schweiz ist gemäss Bestätigung des MIKA vom 3. Mai 2024 nur während des hängigen

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Nachzugsverfahrens geduldet (act. 39). Mit Wegfall des Anwesenheitsrechts des Beschwerdeführers wird damit auch das hiervon abgeleitete Anwesenheitsrecht seiner Ehefrau dahinfallen. Demzufolge vermag die eheliche Beziehung des Beschwerdeführers mit seiner venezolanischen Ehefrau deren private Interessen an einem Verbleib in der Schweiz nicht massgeblich zu erhöhen. Es kann offenbleiben, welche Qualität diese bislang weitgehend über die Distanz bzw. online gepflegte Beziehung überhaupt aufweist. Lediglich ergänzend ist zudem festzuhalten, dass sich der Beschwerdeführer auch nicht auf die sogenannte "Reneja"-Praxis berufen kann, da er weder über das Schweizer Bürgerrecht verfügt noch erstmalig straffällig wurde noch eine Freiheitsstrafe von unter zwei Jahren erwirkt hatte (BGE 135 II 377, Erw. 4.4; Urteil des Bundesgerichts 2C_135/2012 vom 29. Oktober 2012, Erw. 3.1.2). Dasselbe gilt auch in Bezug auf die volljährige Tochter des Beschwerdeführers, nachdem der Kontakt zu dieser bereits vor vielen Jahren abgebrochen ist und der Beschwerdeführer diese auch in wirtschaftlicher Hinsicht bislang kaum unterstützt hat. Inwieweit der Beschwerdeführer seine Beziehung zu seinen Eltern und seinem Stiefvater pflegt, erschliesst sich nicht klar aus den Akten. Der Stiefvater soll ihm jedoch eine Anstellung nach der Entlassung aus dem Strafvollzug in Aussicht gestellt haben und seine Ehefrau ist derzeit bei seiner Mutter in Q._____ angemeldet und wird von dieser finanziell unterstützt (MI-act. 422, 503; act. 19, 29 f.). Tiefgreifende familiäre Beziehungen Abhängigkeitsabhängigkeitsverhältnisse sind aber auch diesbezüglich nicht ersichtlich und der Beschwerdeführer kann diese Beziehungen auch von Italien aus bzw. über die Distanz hinweg pflegen. Auch hieraus ergibt sich keine massgebliche Erhöhung seiner privaten Interessen. 4.3.3.4. Nach dem Gesagten vermögen die familiären Beziehungen des Beschwerdeführers dessen private Interessen an einem weiteren Verbleib in der Schweiz nicht massgeblich zu erhöhen. 4.3.4. Was die gesundheitliche Situation des Beschwerdeführers anbelangt, verweist der Beschwerdeführer auf seine psychischen Probleme und seine hiesigen Bezugspersonen und Therapeuten. Im Gegensatz dazu stünden in Italien nur unzureichende und für ihn nicht finanzierbare Behandlungsmöglichkeiten zur

Verfügung, was vorinstanzlich zu wenig gewürdigt und abgeklärt worden sei. Dem Beschwerdeführer wurde gutachterlich eine dissoziale Persönlichkeitsstörung mit emotional instabilen, narzisstischen und psychopathischen

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Anteilen sowie eine multiple Störung der Sexualpräferenz mit einer Kombination aus Fetischismus und Sadomasochismus diagnostiziert. In früheren Gutachten wurde zudem eine Alkoholabhängigkeit festgestellt. Im aktuellen Therapiebericht wird von einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit emotional-instabilen, narzisstischen, dissozialen und unreifen Zügen ausgegangen. Die festgestellten psychischen Störungen stehen in einem direkten Zusammenhang zu den begangenen Straftaten, der Beschwerdeführer ist jedoch voll schuldfähig (vgl. dazu den Entscheid der Vollzugs- und Bewährungsdienste des Kantons Luzern vom 18. April 2024, act. 46 ff.). Es ist nicht ersichtlich, weshalb der Beschwerdeführer seine psychischen Probleme nicht auch adäquat in seinem Heimatland sollte behandeln lassen können: Die medizinische Infrastruktur in Italien ist ausreichend und der Zugang zum italienischen Gesundheitssystem ist selbst für Asylbewerber gewährleistet (vgl. Urteil des Bundesverwaltungsgerichts F-2488/2022 vom 11. August 2022, Erw. 4), weshalb erst recht davon auszugehen ist, dass der Beschwerdeführer als italienischer Staatsangehöriger entsprechenden Zugang erhält. Sodann wird der Beschwerdeführer nach seiner Entlassung aus dem Strafvollzug sein Therapiesetting ohnehin neu auszurichten haben und konnte bislang auch in der Schweiz ­ zumindest in Bezug auf die Integration und das Legalverhalten des Beschwerdeführers ­ kein nachhaltiger Therapieerfolg etabliert werden. Damit ist dem Beschwerdeführer auch unter diesem Aspekt kein massgeblich erhöhtes privates Interesse am Verbleib in der Schweiz zuzubilligen und haben die Vorinstanzen die diesbezüglichen Verhältnisse auch hinreichend abgeklärt. 4.3.5. 4.3.5.1. Schliesslich ist bei der Bemessung des privaten Interesses zu prüfen, welche Beziehungen die betroffene Person zum Heimatland unterhalten hat noch unterhält und ob sie bei einer Ausreise aus der Schweiz im Heimatland auf unüberwindbare (Re-)Integrationsprobleme stossen würde. Zu beachten sind zudem auch jene Aspekte, die eine Rückkehr ins Heimatland aufgrund der dort bestehenden Situation als unzumutbar erscheinen lassen (vgl. Art. 83 Abs. 7 AIG; BGE 135 II 110, Erw. 4.2). 4.3.5.2. Soweit aus den Akten ersichtlich, verbrachte der Beschwerdeführer sein gesamtes Leben in der Schweiz, kennt sein Heimatland

aber zumindest aus Ferienaufenthalten (MI-act. 501 f., 576). Entsprechend ist davon auszugehen, dass ihm die gesellschaftlichen Gepflogenheiten in seinem Heimatland vertraut sind, zumal es sich um ein Nachbarland mit ähnlichen Verhältnissen handelt. In kultureller Hinsicht sind dem Beschwerdeführer somit gute Eingliederungschancen in Italien zu attestieren.

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4.3.5.3. Die Kenntnisse der heimatlichen Sprache sind mit Blick auf die (Re-)Integrationschancen einer ausländischen Person in ihrem Heimatland im Rahmen der Interessenabwägung nur insofern von Relevanz, als die betroffene Person der heimatlichen Sprache nicht (mehr) mächtig ist und es ihr auch nicht zumutbar ist, diese zu erlernen. Der Beschwerdeführer bezeichnete bei seiner polizeilichen Befragung vom 18. August 2020 Italienisch als seine Muttersprache (MI-act. 71), weshalb ohne Weiteres von hinreichenden Sprachkenntnissen ausgegangen werden kann. Gegenteiliges macht der Beschwerdeführer denn auch nur in unsubstanziierter Form geltend. Ferner ist darauf hinzuweisen, dass sich der Beschwerdeführer auch im deutschsprachigen Teil Italiens (Südtirol) niederlassen könnte. Somit sind ihm auch in sprachlicher Hinsicht gute Integrationschancen in seinem Heimatland zu attestieren. 4.3.5.4. Hinsichtlich der im Heimatland bestehenden familiären Verbindungen geht aus den Akten nicht klar hervor, ob der Beschwerdeführer dort über Verwandte einen intakten sozialen Empfangsraum verfügt. Jedoch müsste er aufgrund seiner mehrjährigen Inhaftierung auch in der Schweiz seine Beziehungen erst wieder aufbauen und ist eine tiefgreifende Verwurzelung auch hier nicht ersichtlich. Selbst wenn er bei einer Übersiedlung nach Italien ein neues Beziehungsnetz aufbauen müsste, erscheint dies angesichts seines Alters, seiner heimatlichen Sprachkenntnisse und dem Umstand, dass ihm die Gepflogenheiten seines Herkunftslandes vertraut sind bzw. diese mit hiesigen Verhältnissen vergleichbar erscheinen, mehr als zumutbar. Ein unüberwindbares Integrationshindernis ist jedenfalls nicht zu erblicken. Nach dem Gesagten sind dem Beschwerdeführer in sozialer Hinsicht intakte Eingliederungschancen im Heimatland zu attestieren, wenngleich der Neustart in Italien sicherlich auch mit Herausforderungen verbunden sein wird. 4.3.5.5. Hinsichtlich der beruflichen und wirtschaftlichen Integrationschancen des Beschwerdeführers in Italien kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass er seine in der Schweiz erworbene berufliche Erfahrung auch auf dem heimatlichen Arbeitsmarkt verwerten könnte. Es besteht ausweislich der Akten kein Grund zur Annahme, dass es dem Beschwerdeführer nicht möglich wäre, in Italien auf legalem Weg beruflich

Fuss zu fassen und seinen Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten. Der Beschwerdeführer hat in der Vergangenheit unter Beweis gestellt, dass er trotz seiner psychischen Störungen erwerbsfähig ist und es ist nicht ersichtlich, weshalb ihm dies nach seiner Haftentlassung und einer Wegweisung nach Italien nicht wieder möglich sein sollte. Es ist zwar naheliegend, dass seine

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Vermittelbarkeit auf dem italienischen Arbeitsmarkt durch seine vielen Vorstrafen etwas beeinträchtigt sein könnte. Jedoch ist dies auch und erst recht hier in der Schweiz der Fall und ist praktisch jede Wegweisung aufgrund von Straffälligkeit mit derartigen Schwierigkeiten verbunden. Überdies legt der Beschwerdeführer nicht in substanziierter Weise dar, dass ein tadelloser Leumund im Baugewerbe in Italien üblicherweise vorausgesetzt und kontrolliert wird und es ist auch nicht ersichtlich, inwiefern die Schweizer Vorstrafen des Beschwerdeführers auf dessen Strafregisterauszug in Italien erscheinen würden. Selbst unter Berücksichtigung der im Vergleich zur Schweiz schlechteren Wirtschaftslage sowie allfälliger Startschwierigkeiten sind damit seine beruflich-wirtschaftlichen Integrationschancen ebenfalls als intakt einzuschätzen. 4.3.5.6. Was die Zumutbarkeit einer Rückkehr ins Heimatland anbelangt, besteht vorliegend kein Anlass zur Befürchtung, dass der Beschwerdeführer bei einer Ausreise nach Italien aufgrund der allgemeinen Lage einer konkreten Gefährdung ausgesetzt wäre. Solches wird denn auch in der Beschwerde nicht geltend gemacht. Zudem gilt Italien gemäss Anhang 2 der Asylverordnung 1 über Verfahrensfragen vom 11. August 1999 (AsylV 1; SR 142.311) ohne Weiteres als verfolgungssicherer Herkunftsstaat und es sind ohnehin keine Anzeichen dafür vorhanden, dass dem Beschwerdeführer dort irgendeine staatliche Verfolgung drohen würde. 4.3.5.7. Gesamthaft betrachtet, dürfte die Eingliederung in Italien den hier geborenen Beschwerdeführer zwar vor gewisse Schwierigkeiten stellen, jedoch sind unüberwindbare Integrationshindernisse zu verneinen. Mit Blick auf die Situation im Heimatland ist dem Beschwerdeführer keine Erhöhung des privaten Interesses am weiteren Verbleib in der Schweiz zuzubilligen. 4.3.6. Zusammenfassend erhöht sich das unter Berücksichtigung seiner Integrationsdefizite noch grosse bis sehr grosse private Interesse des Beschwerdeführers an einem weiteren Verbleib in der Schweiz weder aufgrund von dessen familiären und gesundheitlichen Situation noch aufgrund der Verhältnisse und Integrationschancen in seiner italienischen Heimat. Selbst wenn man zugunsten des Beschwerdeführers davon ausgeht, dass zumindest die Kumulation aller genannten Umstände zu einem leicht erhöhten privaten

Interesse führen müsste, ist höchstens von einem sehr grossen privaten Interesse an einem weiteren Verbleib im Land auszugehen. 4.4. Dem höchstens sehr grossen privaten Interesse an einem Verbleib in der Schweiz steht bereits aufgrund der gegen den Beschwerdeführer ausgefällten längerfristigen Freiheitsstrafe und der Art der von ihm begangenen

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Straftaten ein äusserst grosses öffentliches Fernhalteinteresse entgegen. Dieses erhöht sich zusätzlich aufgrund seiner wiederholten und teilweise einschlägigen Delinquenz und seiner Straffälligkeit trotz laufender Probezeiten und Strafuntersuchungen, weshalb insgesamt von einem überwiegenden öffentlichen Interesse am Widerruf der Niederlassungsbewilligung und seiner Wegweisung aus der Schweiz auszugehen ist. 5. 5.1. Zu prüfen ist weiter, ob der Widerruf der Niederlassungsbewilligung und die Wegweisung des Beschwerdeführers aus der Schweiz im vorliegenden Fall gegen das FZA verstösst. 5.2. Gemäss Art. 5 Anhang I FZA dürfen die aus dem Abkommen eingeräumten Rechte nur durch Massnahmen eingeschränkt werden, welche aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind. Dabei ist insbesondere die Richtlinie des Rates der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit Gesundheit gerechtfertigt sind (Richtlinie 64/221/EWG, publ. im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften [ABl. EG] Nr. 56, 1964, S. 850, in der EU aufgehoben durch die Richtlinie 2004/38/EG, publ. im Amtsblatt der Europäischen Union [ABl. EU] Nr. L 158, 204, S. 77) zu beachten. Die anderen in Art. 5 Anhang I FZA zitierten Richtlinien (72/194/EWG und 75/35/EWG) erweitern lediglich den Kreis der Begünstigten und sind hier nicht von Belang (vgl. auch BGE 130 II 176, Erw. 3.1). Die konkret getroffene Massnahme muss im nationalen Recht vorgesehen sein und darf den in den Richtlinien normierten sowie durch die Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen nicht widersprechen (vgl. BGE 129 II 215, Erw. 6.2; BGE 130 II 176, Erw. 3.2; Urteil des Europäischen Gerichtshofs [EuGH] 36/75 in Sachen Rutili vom 28. Oktober 1975, Rz. 32; Entscheid des Rekursgerichts im Ausländerrecht des Kantons Aargau 1-BE.2002.00008 vom 12. Juli 2002, Erw. II/5b, Aargauische Gerichts- und Verwaltungsentscheide [AGVE] 2002, S. 545 f., Erw. 5a f.; ANDREAS ZÜND/ARTHUR BRUNNER, Beendigung der Anwesenheit, Entfernung und Fernhaltung, in: UEBERSAX/RUDIN/HUGI YAR/GEISER/VETTERLI [Hrsg.], a.a.O., Rz. 10.75 ff.). Als Massnahmen im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA gelten alle

Handlungen, die das Recht auf freie Einreise und Aufenthalt berühren (BGE 129 II 215, Erw. 6.3). Der Widerruf der Niederlassungsbewilligung verbunden mit einer Wegweisung aus der Schweiz berührt das Recht auf Aufenthalt zweifellos und stellt damit eine Massnahme im Sinne von Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA dar.

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5.3. Der Widerruf der Niederlassungsbewilligung verbunden mit einer Wegweisung aus der Schweiz ist als Massnahme gemäss Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA somit nur dann zulässig, wenn sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt erscheint. Dabei müssen ­ unter Berücksichtigung der Schranken gemäss Richtlinie 64/221/EWR und deren Auslegung durch den EuGH ­ die nachfolgenden fünf Kriterien kumulativ erfüllt sein: Es muss a) ein persönliches Verhalten der betroffenen Person vorliegen, ihr Handeln muss b) widerrechtlich sein und c) eine konkrete Gefahr für die Gesellschaft bedeuten, die getroffene Massnahme muss d) verhältnismässig sein und darf e) nicht für wirtschaftliche Zwecke geltend gemacht werden (zum Ganzen siehe MARCEL DIETRICH, Die Freizügigkeit der Arbeitnehmer in der Europäischen Union, Zürich 1995, S. 497 ff.). 5.4. Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Kantonsgerichts Luzern vom 14. Juli 2021 wegen schwerer Sexualdelikte etc. unter anderem zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten verurteilt (MIact. 296 ff.). Offensichtlich liegt der Verurteilung ein persönliches und widerrechtliches Verhalten des Beschwerdeführers zu Grunde. Zudem deutet nichts darauf hin, dass der Bewilligungswiderruf zu wirtschaftlichen Zwecken erfolgen würde. Damit bleibt nach Massgabe von Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA zu prüfen, ob eine konkrete Gefahr für die Gesellschaft besteht und, gegebenenfalls, ob die getroffene Massnahme verhältnismässig ist. 5.5. 5.5.1. Nach konstanter Rechtsprechung und Lehre darf der weitere Aufenthalt unter Berücksichtigung des FZA nur dann verweigert werden, wenn die betroffene Person im Beurteilungszeitpunkt eine konkrete Gefahr für die Gesellschaft darstellt (vgl. Urteil des Bundesgerichts 2C_939/2017 vom 21. Dezember 2018, Erw. 7.2 mit Hinweisen). Da jeder noch so geringe Gesetzesverstoss an sich eine Störung der öffentlichen Ordnung darstellt, muss neben der Widerrechtlichkeit eine gewisse Erheblichkeit verlangt werden, um eine migrationsrechtliche Massnahme rechtfertigen zu können. Vorausgesetzt wird das Vorliegen einer tatsächlichen und hinreichend schweren Gefährdung, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (Urteile des EuGH 30/77 in Sachen Bouchereau vom 27. Oktober 1977, Rz. 33 ff., und C-348/96 in Sachen Calfa vom 19. Januar 1999, Rz. 25; BGE 129 II 215, Erw. 7.3). Eine hinreichend

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schwere Gefahr liegt vor, wenn der Aufnahmestaat gegenüber dem gleichen Verhalten eigener Staatsbürger ebenfalls Zwangsmassnahmen andere tatsächliche und effektive Massnahmen zur Bekämpfung dieses Verhaltens ergreift (Urteil des EuGH 115 und 116/81 in Sachen Adoui und Cornuaille vom 18. Mai 1982, Rz. 8). Weiter bestimmt Art. 3 Abs. 2 der Richtlinie 64/221/EWR, dass strafrechtliche Verurteilungen allein nicht ohne Weiteres eine Massnahme begründen können. Die dem Urteil zu Grunde liegenden Umstände müssen ein persönliches Verhalten erkennen lassen, welches eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit darstellt (Urteile des EuGH 30/77 in Sachen Bouchereau vom 27. Oktober 1977, Rz. 25 ff. und 31 ff., sowie C-348/96 in Sachen Calfa vom 19. Januar 1999, Rz. 25). Zu berücksichtigen sind Art und Schwere der begangenen Straftaten, der Zeitraum, welcher seit der letzten Tatbegehung vergangen ist, sowie die Gesamtsituation der betroffenen Person. Für eine ausländerrechtliche Massnahme nach einer Verurteilung ist demnach eine konkrete Gefahr neuer Störungen der öffentlichen Ordnung und Sicherheit erforderlich. Diese konkrete Gefahr muss bei individueller Würdigung des Einzelfalls hinreichend wahrscheinlich sein. Bei schwerwiegenden Straftaten, wie etwa bei Gewalt-, Sexual- und Betäubungsmitteldelikten, kann bereits nach der ersten Verurteilung aus dem Verhalten und der Persönlichkeit des Täters auf eine für eine Massnahme ausreichende Wiederholungsgefahr geschlossen werden (Urteil des EuGH 30/77 in Sachen Bouchereau vom 27. Oktober 1977, Rz. 29 f.; Urteil des Bundesgerichts 2C_432/2020 vom 26. August 2020, Erw. 4.2). Ausserdem gilt: Je schwerer die mögliche Rechtsgüterverletzung ist, desto niedriger sind die Anforderungen an die in Kauf zu nehmende Rückfallgefahr (BGE 136 II 5, Erw. 4.2; BGE 130 II 176, Erw. 4.3.1; vgl. zum Ganzen: BGE 130 II 493, Die Praxis [Pra] 99/2005, Erw. 3.2 und 3.3; BGE 130 II 176, Erw. 3.4 und 4.3). 5.5.2. 5.5.2.1. Bereits die empfindlich lange Freiheitsstrafe, welche das Kantonsgericht Luzern am 14. Juli 2021 gegen den Beschwerdeführer verhängte, unterstreicht die Schwere der durch ihn begangenen Rechtsverletzung. Zusätzlich untermauert wird diese dadurch, dass es sich bei den begangenen Sexualdelikten um Anlasstaten für die obligatorische

Landesverweisung im Sinne von Art. 121 Abs. 3 lit. a BV und Art. 66a Abs. 1 lit. h StGB handelt (vgl. zum Ganzen vorne Erw. II/4.2.1 ff.). Dass es sich bei der Verhütung derartiger Sexualstraftaten um ein grundlegendes Interesse der Gesellschaft handelt, liegt sodann auf der Hand. Damit ist das Kriterium der hinreichend schweren Gefahr für die Gesellschaft im Sinne der Rechtsprechung zu Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA zu bejahen.

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5.5.2.2. 5.5.2.2.1. Weiter ist zu prüfen, ob vorliegend die Gefährdung der Gesellschaft noch als gegenwärtig bezeichnet werden kann. Dabei kommt es wesentlich auf das Rückfallrisiko an. Die Bejahung einer gegenwärtigen Rückfallgefahr setzt nicht voraus, dass ein Straftäter bzw. Straftäterin mit Sicherheit weiter delinquieren wird; ebenso wenig kann für die Verneinung einer Rückfallgefahr verlangt werden, dass überhaupt kein Restrisiko einer Straftat besteht (Urteil des Bundesgerichts 2C_406/2014 vom 2. Juli 2015, Erw. 4.2 mit weiteren Hinweisen). Zu verlangen ist eine nach Art und Ausmass der möglichen Rechtsgüterverletzungen zu differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit, dass die ausländische Person künftig die öffentliche Sicherheit und Ordnung stören wird (siehe vorne Erw. II/5.5.1). 5.5.2.2.2. Der Beschwerdeführer hat bei seinen Delikten selbst schwere (sexuelle) Gewalt gegen andere Menschen angewendet. Im Hinblick auf die Art und das Ausmass der im Wiederholungsfall drohenden Rechtsgüterverletzungen ist das beim Beschwerdeführer in Kauf zu nehmende Rückfallrisiko bzw. die Schwelle zur Bejahung einer hinreichend gegenwärtigen Gefahr für die Gesellschaft im Sinne der Rechtsprechung zu Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA demnach niedrig anzusetzen. 5.5.2.2.3. Zur Bemessung der Rückfallgefahr, welche im heutigen Zeitpunkt vom Beschwerdeführer ausgeht, sind zunächst die teilweise bereits dargestellten Tatumstände heranzuziehen, die das Kantonsgericht Luzern seinem Urteil vom 14. Juli 2021 zugrunde legte. Demnach legte der Beschwerdeführer ein rücksichtsloses und von der eigenen Triebbefriedigung geleitetes Verhalten an den Tag, das von einer erheblichen kriminellen Energie mit entsprechender Rückfallgefahr zeugt. Dementsprechend vermochte das Luzerner Kantonsgericht ihm auch keine gute Legalprognose zu stellen und widerrief den bedingten Vollzug eines früheren Strafbefehls (MI-act. 336). 5.5.2.2.4. Wie bereits dargelegt wurde, hat sich der Beschwerdeführer sodann weder vor noch nach seinen in Luzern abgeurteilten Sexualstraftaten wohlverhalten (vgl. vorne Erw. II/4.2.3.3 und II/4.2.4.3). Vielmehr ist er zuvor und danach wiederholt strafrechtlich verurteilt worden, darunter auch eine 18monatige Freiheitsstrafe, eine sechsmonatige Zusatzstrafe zu dieser und eine erst vor zwei Jahren verhängte

siebenmonatige Freiheitsstrafe. Diese wiederholten Verurteilungen zeugen ­ neben seiner Geringschätzung gegenüber dem geltenden Recht ­ von einer ausgeprägten Unbelehrbarkeit. Auch wenn einzelne seiner Verurteilungen bereits ein paar Jahre zurückliegen und bei isolierter Betrachtung nicht mehr hinreichend aktuell erscheinen, ist nicht zu vernachlässigen, dass der Beschwerdeführer seit

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seiner Volljährigkeit immer wieder in teils schwerwiegender Weise straffällig wurde, seine Straffälligkeit damit also Ausdruck eines andauernden, persistenten Verhaltens ist. Nichts zu seinen Gunsten ableiten kann der Beschwerdeführer sodann aus seinem weitgehenden Wohlverhalten im Straf- bzw. Massnahmenvollzug während der Untersuchungshaft. Eine gute Führung im Straf- Massnahmenvollzug wird allgemein erwartet und lässt angesichts der dort herrschenden engmaschigen Betreuung keine verlässlichen Rückschlüsse auf das künftige Verhalten in Freiheit zu (Urteile des Bundesgerichts 2C_360/2013 vom 21. Oktober 2013, Erw. 2.3, und 2C_733/2012 vom 24. Januar 2013, Erw. 3.2.4). Nach dem Gesagten ist in Bezug auf die Beurteilung des Wohlverhaltens seit der migrationsrechtlich massgebenden Tat in erster Linie auf die Dauer der in Freiheit verbrachten Zeit abzustellen, in welcher die betroffene Person nicht unter dem Druck drohender strafoder migrationsrechtlicher Sanktionen stand. Von tätiger Reue einem damit vergleichbaren Mass an Einsicht in das Unrecht seiner Straftat kann beim Beschwerdeführer sodann keine Rede sein, nachdem dieser zumindest seine vom Kantonsgericht Luzern abgeurteilten Anlasstaten weiterhin überwiegend bestreitet bagatellisiert und ihm im Therapieverlaufsbericht vom 16. Februar 2024 auch für die eingestandenen Delikte höchstens eine Teileinsicht attestiert werden konnte (act. 43 f.). Darin manifestiert sich weiterhin eine verklärte, relativierende Sichtweise des Beschwerdeführers auf seine Delinquenz, was wiederum eher für die Annahme einer hinreichenden Rückfallgefahr spricht. 5.5.2.2.5. Hinsichtlich seiner persönlichen Situation macht der Beschwerdeführer in der Beschwerde geltend, seine derzeitige familiäre und soziale Situation wirke sich stabilisierend auf ihn aus. Bei objektiver Betrachtung besteht indes kein Anlass, den familiären und sozialen Beziehungen des Beschwerdeführers eine stabilisierende Wirkung zuzuerkennen. Vielmehr richtete sich die Delinquenz des Beschwerdeführers teilweise gerade gegen sein engeres Umfeld und haben ihn seine persönlichen Beziehungen ansonsten bislang nicht vor weiterer Delinquenz abgehalten. Die aktuellen persönlichen Verhältnisse des Beschwerdeführers sprechen somit jedenfalls nicht in entscheidrelevantem Mass gegen die

Annahme einer gegenwärtigen Rückfallgefahr. Gestützt auf diverse forensischpsychologische Abklärungen und diverse situative Faktoren ist weiterhin von einem hohen Rückfallrisiko auszugehen, insbesondere in Bezug auf schwerwiegende Gewalt- und Sexualdelikte (MI-act. 439).

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5.5.2.2.6. Gesamthaft betrachtet steht nach dem Gesagten fest, dass dem Beschwerdeführer im heutigen Zeitpunkt nach wie vor eine ­ gemessen an den von ihm begangenen und im Wiederholungsfall drohenden Rechtsgüterverletzungen ­ hinreichende Rückfallgefahr attestiert werden muss. Mit anderen Worten geht von ihm im heutigen Zeitpunkt weiterhin eine hinreichend gegenwärtige Gefahr für die Gesellschaft aus. 5.5.2.3. Zusammenfassend ist die vom Beschwerdeführer ausgehende Gefahr für die Gesellschaft als hinreichend schwer sowie hinreichend gegenwärtig zu qualifizieren. Damit liegt eine konkrete Gefahr für die Gesellschaft im Sinne der Rechtsprechung zu Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA vor. 5.6. Mit Blick auf das FZA ist schliesslich zu prüfen, ob sich die vorgesehene Massnahme als verhältnismässig erweist. Nachdem sich die Verhältnismässigkeitsprüfung nach gemeinschaftsrechtlicher Auslegung nicht von derjenigen nach schweizerischem Recht unterscheidet, kann auf die einschlägigen Bestimmungen des nationalen Ausländerrechts zurückgegriffen werden (vgl. Entscheid des Rekursgerichts im Ausländerrecht des Kantons Aargau 1-BE.2002.00008 vom 12. Juli 2002, Erw. II/6.d, AGVE 2002, S. 545 f., Erw. 6d; Mitteilung der Europäischen Kommission vom 19. Juli 1999 an den Rat und an das Europäische Parlament zu den Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Unionsbürgern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit Gesundheit gerechtfertigt sind, KOM [1999] 372, S. 15). In Bezug auf die Verhältnismässigkeitsprüfung ist daher vollumfänglich auf die Ausführungen in Erw. II/4 hievor zu verweisen, womit die Massnahme auch nach den Bestimmungen des FZA als verhältnismässig zu bezeichnen ist. 5.7. Insgesamt erweisen sich im Fall des Beschwerdeführers sämtliche Erfordernisse gemäss Art. 5 Abs. 1 Anhang I FZA für die Anwendung einer Massnahme aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit als erfüllt. Die Nichtverlängerung der Aufenthaltsbewilligung sowie die Wegweisung des Beschwerdeführers aus der Schweiz sind somit auch nach den Bestimmungen des FZA nicht zu beanstanden. Es kann offenbleiben, inwieweit der bereits vor Antritt seiner Freiheitsstrafe zeitweise arbeitslose und sozialhilfeabhängige Beschwerdeführer überhaupt noch über freizügigkeitsrechtliche Anwesenheitsansprüche verfügt seine freizügigkeitsrechtliche Arbeitnehmereigenschaft schon zuvor verloren hat.

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6. 6.1. Zu prüfen ist weiter, ob die Nichtverlängerung der Aufenthaltsbewilligung des Beschwerdeführers und seine Wegweisung vor Art. 8 EMRK standhalten. 6.2. Art. 8 Ziff. 1 EMRK und der ­ soweit hier von Interesse ­ inhaltlich im Wesentlichen übereinstimmende Art. 13 Abs. 1 BV gewährleisten das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens. Diese Garantien können namentlich dann verletzt sein, wenn eine ausländische Person die Schweiz verlassen muss, nachdem sie sich lange hier aufgehalten und entsprechend integriert hat, bzw. wenn einer ausländischen Person, deren Familienangehörige in der Schweiz leben, die (weitere) Anwesenheit untersagt und dadurch das gemeinsame Familienleben vereitelt wird. Ob die angefochtenen aufenthaltsbeendenden Massnahmen überhaupt einen Eingriff in das geschützte Familienleben des Beschwerdeführers darstellen, ist angesichts der dargelegten Umstände zweifelhaft, zumal er zu seiner volljährigen Tochter keinerlei Beziehung unterhält, diese nicht von ihm abhängig ist und er seine eheliche Beziehung im dargelegten Sinne auch in Italien fortsetzen kann. Gleichwohl kann aufgrund seines lebenslangen Aufenthalts in der Schweiz und trotz seiner mangelhaften Integration jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass er zumindest aus dem Recht auf Privatleben über konventionsrechtlich geschützte Beziehungen verfügt (vgl. BGE 144 I 266, Erw. 3.9; siehe vorne Erw. II/4.3.2.2). 6.3. Selbst wenn ein Eingriff in durch Art. 8 Ziff. 1 EMRK geschützte Beziehungen bejaht wird, ist ein solcher gemäss Art. 8 Ziff. 2 EMRK zulässig, wenn er gesetzlich vorgesehen ist und eine Massnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und Moral sowie der Rechte und Freiheiten anderer notwendig erscheint. Bei der Interessenabwägung im Rahmen von Art. 8 Ziff. 2 EMRK sind ­ ebenso wie bei Art. 96 AIG ­ die Schwere des begangenen Delikts, der seit der Tat vergangene Zeitraum, das Verhalten des Ausländers während dieser Periode, die Auswirkungen auf die primär betroffene Person sowie deren familiäre Situation zu berücksichtigen. Von Bedeutung sind auch die Nachteile, die dem Ehepartner den Kindern erwachsen würden, müssten sie dem Betroffenen in dessen Heimat folgen (BGE 135 II 377, Erw. 4.3 mit Hinweisen).

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Dass die gegen den Beschwerdeführer verfügte Massnahme gesetzlich vorgesehen ist, wurde bereits ausführlich dargelegt (siehe vorne Erw. II/3). Ebenso bedarf keiner weiteren Ausführungen, dass sie der nationalen Sicherheit bzw. der Verhinderung weiterer Straftaten dient. Hinsichtlich der Prüfung der Verhältnismässigkeit im engeren Sinne, d.h. der Frage, ob die Verweigerung des weiteren Aufenthalts in der Schweiz durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt ist, gelten bezüglich Art. 8 EMRK die gleichen Kriterien wie bei der Verhältnismässigkeitsprüfung nach nationalem Recht und kann auf Erw. II/4 verwiesen werden. Damit steht fest, dass die Nichtverlängerung der Aufenthaltsbewilligung und Wegweisung des Beschwerdeführers auch mit Blick auf Art. 8 EMRK durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt sind. Ein Verstoss gegen Art. 8 EMRK liegt damit nicht vor. 6.4. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Widerruf der Niederlassungsbewilligung EU/EFTA und die Wegweisung des Beschwerdeführers nicht nur dem nationalen Recht und dem FZA entsprechen, sondern auch vor Art. 8 EMRK standhalten. 7. 7.1. In einem letzten Schritt ist zu überprüfen, ob dem Vollzug der Wegweisung Hindernisse entgegenstehen. Ist der Vollzug der Wegweisung nicht zumutbar, nicht möglich nicht zulässig, so verfügt das Staatssekretariat für Migration (SEM) die vorläufige Aufnahme (Art. 83 Abs. 1 AIG). 7.2. Da der Beschwerdeführer zu einer längerfristigen Freiheitsstrafe verurteilt wurde, kommt eine Gewährung der vorläufigen Aufnahme wegen Unzumutbarkeit Unmöglichkeit des Wegweisungsvollzugs von vornherein nicht in Betracht (Art. 83 Abs. 7 lit. a AIG). Demnach ist nicht weiter zu prüfen, ob Gründe bestehen, die den Vollzug der Wegweisung als unzumutbar im Sinne von Art. 83 Abs. 4 AIG unmöglich im Sinne von Art. 83 Abs. 2 AIG erscheinen lassen. Indes sind derartige Gründe bei unseren Nachbarländern ohnehin nicht zu erwarten. 7.3. Der Vollzug ist nicht zulässig, wenn völkerrechtliche Verpflichtungen der Schweiz einer Weiterreise der Ausländerin des Ausländers in den Heimat-, Herkunfts- in einen Drittstaat entgegenstehen (Art. 83 Abs. 3 AIG). So darf etwa gemäss Art. 3 EMRK und Art. 25 Abs. 3 BV insbesondere keine Gefahr bestehen, dass eine Person bei der Ausreise Folter unmenschlicher Behandlung ausgesetzt wird.

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Vorliegend ergeben sich weder aus den Akten noch aus den Vorbringen des Beschwerdeführers Hinweise, die zur Unzulässigkeit des Wegweisungsvollzugs führen könnten. Italien gilt ­ wie alle EU-Länder ­ als verfolgungssicherer Staat (vgl. dazu bereits vorne Erw. II/4.3.5.6). Damit erweist sich der Vollzug der Wegweisung als zulässig. 7.4. Nach dem Gesagten stehen dem Vollzug der Wegweisung keine Hindernisse im Sinne von Art. 83 AIG entgegen. 8. Für die vom Beschwerdeführer beantragte Verwarnung bleibt kein Raum (Art. 96 Abs. 2 AIG), zumal auch nicht zu erwarten ist, dass diese Wirkung entfaltet, nachdem der Beschwerdeführer bislang selbst durch überjährige und mehrjährige Freiheitsstrafen nicht von weiterer Delinquenz abzuhalten war. Es kann offenbleiben, ob der Beschwerdeführer allenfalls bereits schon in früheren Wohnkantonen erfolglos ausländerrechtlich verwarnt wurde. Auch die vom Beschwerdeführer eventualiter beantragte Rückstufung gemäss Art. 63 Abs. 2 AIG fällt vorliegend ausser Betracht. Eine Rückstufung kann nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung nicht als "mildere" Massnahme angeordnet werden, wenn die Voraussetzungen für den Widerruf der Niederlassungsbewilligung mit einer Wegweisung erfüllt sind. Der Widerruf mit Wegweisung geht in diesem Sinn der Rückstufung vor (Urteil des Bundesgerichts 2C_667/2020 vom 19. Oktober 2021, Erw. 2.5). 9. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Widerruf der Niederlassungsbewilligung EU/EFTA und die Wegweisung des Beschwerdeführers nach nationalem Recht nicht zu beanstanden sind und vor den freizügigkeitsrechtlichen Bestimmungen und Art. 8 EMRK standhalten. Nachdem auch dem Vollzug der Wegweisung keine Hindernisse entgegenstehen und mildere Massnahmen ausser Betracht fallen, ist der Einspracheentscheid der Vorinstanz vom 16. April 2024 zu bestätigen und die Beschwerde demzufolge abzuweisen. III. 10. Im Beschwerdeverfahren werden die Verfahrenskosten nach Massgabe des Unterliegens und Obsiegens auf die Parteien verlegt (§ 31 Abs. 2 VRPG). Nachdem der Beschwerdeführer unterliegt, gehen die Kosten des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens zu seinen Lasten. Ein Parteikostenersatz fällt ausser Betracht (§ 32 Abs. 2 VRPG).

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11. 11.1. Wie schon vor den Vorinstanzen wurde dem Beschwerdeführer mit Verfügung vom 27. Mai 2024 für das vorliegende Beschwerdeverfahren die unentgeltliche Rechtspflege bewilligt und sein Anwalt als unentgeltlicher Rechtsvertreter eingesetzt (act. 55). 11.2. Gemäss § 12 Abs. 1 des Dekrets über die Entschädigung der Anwälte vom 10. November 1987 (Anwaltstarif, AnwT; SAR 291.150) setzt jede urteilende kantonale Instanz, bei Kollegialbehörden deren Präsidentin Präsident, die der unentgeltlichen Rechtsvertretung aus der Gerichts- Staatskasse nach Rechtskraft auszurichtende Entschädigung aufgrund einer Rechnung der Anwältin des Anwalts fest. Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers ist deshalb aufzufordern, dem Verwaltungsgericht eine detaillierte Rechnung für das vorliegende Beschwerdeverfahren einzureichen. Für das erstinstanzliche Verfahren und das Einspracheverfahren liegen hingegen bereits entsprechende Kostennoten in den Vorakten (MIact. 492 f. und 556 ff.). 11.3. Die Verfahrenskosten und die dem unentgeltlichen Rechtsvertreter durch die Obergerichtskasse für das vorliegende Beschwerdeverfahren auszurichtende Entschädigung sind in der unentgeltlichen Rechtspflege vorzumerken, unter dem Vorbehalt späterer Nachzahlung durch den Beschwerdeführer gemäss Art. 123 Abs. 1 der Schweizerischen Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (ZPO; SR 272; vgl. § 2 EGAR i.V.m. § 34 Abs. 3 VRPG). 11.4. Die dem unentgeltlichen Rechtsvertreter für das Beschwerdeverfahren auszurichtende Entschädigung ist durch den vorsitzenden Verwaltungsrichter mit separater Verfügung festzusetzen.

Das Verwaltungsgericht erkennt: 1. Die Beschwerde wird abgewiesen.

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2. Die verwaltungsgerichtlichen Verfahrenskosten, bestehend aus einer Staatsgebühr von Fr. 1'200.00 sowie der Kanzleigebühr und den Auslagen von Fr. 520.00, gesamthaft Fr. 1'720.00, gehen zu Lasten des Kantons. Der unentgeltlich prozessierende Beschwerdeführer ist zur Nachzahlung an den Kanton Aargau verpflichtet, sobald er dazu in der Lage ist (§ 34 Abs. 3 VRPG i.V.m. Art. 123 ZPO). 3. Die Obergerichtskasse wird angewiesen, dem unentgeltlichen Rechtsvertreter des Beschwerdeführers die durch den vorsitzenden Verwaltungsrichter noch festzusetzenden Parteikosten für das Verfahren vor Verwaltungsgericht zu ersetzen. Der Beschwerdeführer ist zur Nachzahlung an den Kanton Aargau verpflichtet, sobald er dazu in der Lage ist (§ 34 Abs. 3 VRPG i.V.m. Art. 123 ZPO). 4. Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wird aufgefordert, dem Verwaltungsgericht eine detaillierte Rechnung für das vorliegende Beschwerdeverfahren einzureichen.

Zustellung an: den Beschwerdeführer (Vertreter) die Vorinstanz (mit Rückschein) das Staatssekretariat für Migration, 3003 Bern

Rechtsmittelbelehrung Migrationsrechtliche Entscheide können wegen Verletzung von Bundesrecht, Völkerrecht, kantonalen verfassungsmässigen Rechten sowie interkantonalem Recht innert 30 Tagen seit der Zustellung mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Schweizerischen Bundesgericht, 1000 Lausanne 14, angefochten werden, soweit nicht eine Ausnahme im Sinne von Art. 83 lit. c des Bundesgesetzes über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (Bundesgerichtsgesetz, BGG; SR 173.110) vorliegt. Die Frist steht still vom 7. Tag vor bis und mit 7. Tag nach Ostern, vom 15. Juli bis und mit 15. August und vom 18. Dezember bis und mit 2. Januar. Das Bundesgericht tritt auf Beschwerden nicht ein, wenn weder das Bundesrecht noch das Völkerrecht einen Anspruch auf die in Frage stehende Bewilligung einräumt (vgl. Urteil des Bundesgerichts 2C_694/2008 vom 25. September 2008).

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In allen anderen Fällen können migrationsrechtliche Entscheide wegen Verletzung von verfassungsmässigen Rechten innert 30 Tagen seit Zustellung mit der subsidiären Verfassungsbeschwerde beim Schweizerischen Bundesgericht, 1000 Lausanne 14, angefochten werden. Die unterzeichnete Beschwerde muss das Begehren, wie der Entscheid zu ändern sei, sowie in gedrängter Form die Begründung, inwiefern der angefochtene Akt Recht verletzt, mit Angabe der Beweismittel enthalten. Der angefochtene Entscheid und als Beweismittel angerufene Urkunden sind beizulegen (Art. 82 ff. BGG bzw. Art. 113 ff. BGG).

Aarau, 4. September 2024 Verwaltungsgericht des Kantons Aargau 2. Kammer Vorsitz: Gerichtsschreiberin:

Busslinger

Peter

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