Zusammenfassung des Urteils Nr. 63/2016/35: Obergericht
Das Obergericht des Kantons Zürich hat am 13. Juni 2019 in einem Fall von mehrfachem versuchtem Betrug entschieden. Die Beschuldigte wurde schuldig gesprochen und zu 30 Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, von denen bereits 303 Tage durch Haft erstanden sind. Ein Teil der Strafe wurde aufgeschoben, und die Probezeit wurde auf 3 Jahre festgesetzt. Die Beschuldigte wurde zudem für 10 Jahre des Landes verwiesen. Die Gerichtskosten beliefen sich auf insgesamt 6'000 CHF. Die amtliche Verteidigerin der Beschuldigten wurde mit 32'300 CHF entschädigt. Die Staatsanwaltschaft erhob Berufung gegen die Strafhöhe, während die Verteidigung die Berufung abwies. Das Gericht entschied, dass die Berufung der Staatsanwaltschaft grösstenteils erfolgreich war, und legte einen Teil der Kosten der Beschuldigten und einen Teil auf die Gerichtskasse. Der Richter war lic. iur. R. Naef, und die Gerichtsschreiberin war lic. iur. S. Maurer.
Kanton: | SH |
Fallnummer: | Nr. 63/2016/35 |
Instanz: | Obergericht |
Abteilung: | - |
Datum: | 16.05.2017 |
Rechtskraft: | - |
Leitsatz/Stichwort: | Invalidenversicherung; gemischte Methode; vorübergehende Teilzeiterwerbstätigkeit zur Erfüllung familiärer Aufgaben - Art. 28a IVG; Art. 16 ATSG. Eine nur vorübergehende Reduktion des vorgängig während vielen Jahren ausgeübten vollzeitlichen Erwerbspensums, um während einer beschränkten Zeit den erkrankten Ehemann zu pflegen, rechtfertigt nicht den Schluss auf eine dauerhafte, zur Anwendung der gemischten Methode führende Reduktion des Beschäftigungsgrads. Dies gilt auch dann, wenn wegen zwischenzeitlich aufgetretener eigener Gesundheitsprobleme nurmehr Bewerbungen auf Teil-zeitstellen erfolgen (E. 4). |
Schlagwörter : | ätig; Ehemann; Methode; Erwerbstätigkeit; Aufgabe; Aufgaben; Invalidität; Rente; Gesundheitsfall; Person; Einkommen; Pflege; Reduktion; IV-Stelle; Recht; Aufgabenbereich; Haushalt; Verhältnisse; Umstände; Teilzeitstellen; Kinder; Familienbetrieb; Viertelsrente |
Rechtsnorm: | Art. 16 ATSG ;Art. 8 EMRK ; |
Referenz BGE: | 133 V 504; 137 V 334; |
Kommentar: | Schweizer, Oberhammer, ZPO, Art. 224 ZPO, 2010 |
Eine nur vorübergehende Reduktion des vorgängig während vielen Jahren ausgeübten vollzeitlichen Erwerbspensums, um während einer beschränkten Zeit den erkrankten Ehemann zu pflegen, rechtfertigt nicht den Schluss auf eine dauerhafte, zur Anwendung der gemischten Methode führende Reduktion des Beschäftigungsgrads. Dies gilt auch dann, wenn wegen zwischenzeitlich aufgetretener eigener Gesundheitsprobleme nurmehr Bewerbungen auf Teilzeitstellen erfolgen (E. 4).
OGE 63/2016/35 vom 16. Mai 2017
Keine Veröffentlichung im Amtsbericht
SachverhaltDie 1957 geborene X. ist Mutter zweier erwachsener Kinder. Zusammen mit ihrem Ehemann führte sie während vielen Jahren einen Familienbetrieb (mit einem Arbeitspensum von 100%), welcher im Jahr 2011 aufgrund einer Krebserkrankung des Ehemanns aufgegeben werden musste. In der Folge kümmert sich X. um ihren Ehemann und war teilzeitlich als Verkäuferin, später als Reinigungskraft tätig. Diese Teilzeitarbeit gab sie aufgrund von Rückenschmerzen ab April 2013 auf. Am
23. April 2014 meldete sie sich wegen Rückenproblemen und Arthrose in den Händen, bestehend seit Jahren, bei der IV-Stelle zum Bezug einer Rente an. Die IVStelle verfügte in Anwendung der gemischten Methode, X. habe keinen Rentenanspruch. Eine Beschwerde von X. gegen diese Verfügung hiess das Obergericht gut; es sprach X. unter Anwendung des Einkommensvergleichs eine Viertelsrente zu.
Aus den ErwägungenUmstritten ist die Statusfrage und in diesem Zusammenhang insbesondere, ob die IV-Stelle zu Recht die gemischte Methode angewandt hat.
Gemäss Art. 28 Abs. 2 IVG hat eine versicherte Person Anspruch auf eine ganze Rente, wenn sie zu mindestens 70%, auf eine Dreiviertelsrente, wenn sie zu mindestens 60%, auf eine halbe Rente, wenn sie zu mindestens 50%, und auf eine Viertelsrente, wenn sie zu mindestens 40% invalid ist. [ ]
Für die Bemessung der Invalidität von erwerbstätigen Versicherten wird das Erwerbseinkommen, das sie nach Eintritt der Invalidität und nach Durchführung der medizinischen Behandlung und allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihnen zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnten,
in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das sie erzielen könnten, wenn sie nicht invalid geworden wären (Art. 28a Abs. 1 IVG i.V.m. Art. 16 ATSG). Bei nicht erwerbstätigen Versicherten, die im Aufgabenbereich tätig sind und denen die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nicht zugemutet werden kann, wird für die Bemessung der Invalidität in Abweichung von Art. 16 ATSG darauf abgestellt, in welchem Masse sie unfähig sind, sich im Aufgabenbereich zu betätigen (Art. 28a Abs. 2 IVG).
Bei Versicherten, die nur zum Teil erwerbstätig sind, wird für diesen Teil die Invalidität nach Art. 16 ATSG festgelegt. Waren sie daneben auch im Aufgabenbereich tätig, so wird die Invalidität für diese Tätigkeit nach Art. 28a Abs. 2 IVG festgelegt. In diesem Fall sind der Anteil der Erwerbstätigkeit und der Anteil der Tätigkeit im Aufgabenbereich festzulegen und der Invaliditätsgrad in beiden Bereichen zu bemessen (Art. 28a Abs. 3 IVG).
Ob eine versicherte Person als ganztägig zeitweilig erwerbstätig als nichterwerbstätig einzustufen ist, ergibt sich aus der Prüfung, was sie bei im Übrigen unveränderten Umständen täte, wenn keine gesundheitliche Beeinträchtigung bestünde. Entscheidend ist somit nicht, welches Ausmass der Erwerbstätigkeit der versicherten Person im Gesundheitsfall zugemutet werden könnte, sondern in welchem Pensum sie hypothetisch erwerbstätig wäre. Bei im Haushalt tätigen Versicherten im Besonderen sind die persönlichen, familiären, sozialen und erwerblichen Verhältnisse ebenso wie allfällige Erziehungsund Betreuungsaufgaben gegenüber Kindern, das Alter, die beruflichen Fähigkeiten und die Ausbildung sowie die persönlichen Neigungen und Begabungen zu berücksichtigen. Inwieweit die Ausübung einer Erwerbstätigkeit im Lichte der bestehenden finanziellen Verhältnisse als notwendig erscheint, ist nicht entscheidend (BGer 9C_426/2014 vom 18. August 2014 E. 3.3). Die Statusfrage beurteilt sich praxisgemäss nach den Verhältnissen, wie sie sich bis zum Erlass der Verwaltungsverfügung entwickelt haben, wobei für die hypothetische Annahme einer im Gesundheitsfall ausgeübten (Teil-)Erwerbstätigkeit der im Sozialversicherungsrecht übliche Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit erforderlich ist (BGE 137 V 334 E. 3.2 S. 338 mit Hinweisen; BGer 9C_490/2014 vom 23. Januar 2015 E. 3.1 mit Hinweisen; BGE 133 V 504 E. 3.3 S. 507 f., 130 V
393 E. 3.3 S. 396).
Für die Frage nach der hypothetischen Erwerbstätigkeit im Gesundheitsfall sind bei der Würdigung der konkreten Lebensumstände insbesondere auch die zuvor gelebten Verhältnisse zu berücksichtigen (vgl. BGer 9C_559/2009 vom
18. Dezember 2009 E. 4). Bei der Frage, in welchem Ausmass ohne gesundheitliche Beeinträchtigung eine Erwerbstätigkeit ausgeübt würde, handelt es sich
zwangsläufig um eine hypothetische Betrachtung, die auch hypothetische Willensentscheidungen der versicherten Person berücksichtigen muss. Solche sind als innere Tatsachen einer direkten Beweisführung nicht zugänglich und müssen in aller Regel aus äusseren Indizien erschlossen werden (BGer 8C_486/2013 vom
4. November 2013 E. 3.2). Indes hat sich die Prüfung der im Gesundheitsfall ausgeübten Tätigkeit stets nach den konkreten Gegebenheiten des Einzelfalls zu bestimmen und kann sich nicht auf eine Bezugnahme auf die allgemeine Lebenserfahrung statistische Erhebungen und Erfahrungswerte beschränken (BGer 9C_311/2013 vom 12. November 2013 E. 5.1 mit Hinweis). Gemäss der Rechtsprechung braucht es nach mehrjähriger voller Erwerbstätigkeit allerdings überzeugende, greifbare Anhaltspunkte, damit neu der Schluss gezogen werden kann, die Reduktion des Beschäftigungsgrades wäre auch ohne gesundheitliche Probleme erfolgt (BGer 9C_559/2009 vom 18. Dezember 2009 E. 4). Im Rahmen einer Haushaltabklärung ist sodann den Angaben der versicherten Person regelmässig erhöhtes Gewicht beizumessen (BGer 9C_286/2013 vom 28. August 2013 E. 4.3).
Die Beschwerdeführerin machte primär geltend, sie habe in der Haushaltabklärung vom 17. Februar 2015 lange vor der Mandatierung eines Anwalts
angegeben, im Gesundheitsfall zu 100% erwerbstätig zu sein. Im Einwandverfahren sei diese Äusserung mit ökonomischen Argumenten unterlegt und dokumentiert worden. Die IV-Stelle habe aber unrichtigerweise die gemischte Methode angewandt. Seit April/Mai 2013 sei sie gemäss den medizinischen Beurteilungen nur noch zu 40% arbeitsfähig. Es liege auf der Hand, dass ihr in dieser Situation nicht vorgeworfen werden könne, sich nicht um 100%-Stellen bemüht zu haben. Zudem habe sie mit den in den Jahren 2012 und 2013 ausgeübten Verkaufsund Putzaktivitäten mehr geleistet, als ihr gesundheitlich zumutbar gewesen sei. Die familiären Einkommensverhältnisse zeigten, dass sie auf ein ganzes Einkommen angewiesen gewesen wäre. Sie hätte sich bemüht, vor ihrer Pensionierung noch etwas auf die Seite zu legen um die Rentensituation zu verbessern. Zudem verstosse die Anwendung der gemischten Methode gemäss dem EGMR-Urteil Di Trizio gegen das Recht auf Achtung des Familienlebens. Es gehe nicht an, sie wegen einer kurzzeitigen Reduktion des Arbeitspensums zugunsten der Pflege des kranken Ehemanns über die Klinge der gemischten Methode springen zu lassen.
Die IV-Stelle begründete die Abweisung des Leistungsbegehrens damit, die Beschwerdeführerin habe sich nach der Geschäftsaufgabe nicht auf Vollzeitstellen, sondern lediglich auf Teilzeitstellen zwischen 60% und 80% beworben. Angesichts der gesamten Umstände erscheine eine Arbeitstätigkeit im Umfang eines 100%- Pensums im Gesundheitsfall nicht als glaubwürdig. Daran vermöge die geltend gemachte finanzielle Notwendigkeit nichts zu ändern. Der Ehemann der Beschwerdeführerin erziele monatliche Einnahmen von mindestens Fr. 3'920.-. Zusammen
mit dem hypothetischen, aus einer 70%-Anstellung zu erzielenden Einkommen würde das Paar über genügend hohe Einnahmen verfügen, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Ein höheres Erwerbs-Pensum als 70% sei nicht überwiegend wahrscheinlich. Aus diesem Grund werde an der gemischten Methode festgehalten.
Die Beschwerdeführerin war während vielen Jahren, insbesondere auch nach der Geburt ihrer Söhne, [im Familienbetrieb] vollzeitlich erwerbstätig. Nach der Betriebsaufgabe Ende 2011 bzw. im Verlauf des Jahres 2012 kümmerte sie sich allein um die Geschäftsauflösung und pflegte ihren Ehemann. Zusätzlich war sie mit den Wohnungsauflösungen und den Nachlässen ihrer Schwiegermutter und ihrer Mutter (die in den Jahren 2011 und 2012 verstarben) beschäftigt und übte verschiedene Teilzeittätigkeiten aus. In der Folge traten gesundheitliche Probleme auf ( ), die unbestrittenermassen ab Mai 2013 zu einer Arbeitsunfähigkeit von 60% führten.
Die Akten zeigen somit, dass die Versicherte nebst ihren familiären Aufgaben während vielen Jahren voll erwerbstätig war. Es steht sodann fest, dass sie nach der Aufgabe des Familienbetriebs im Wesentlichen nur deshalb teilzeitliche Arbeitsstellen suchte, weil sie - nebst der Geschäftsauflösung mit der Pflege ihres Ehemannes beschäftigt war, sich also während einer beschränkten Zeit familiären Aufgaben widmete. Ob vor diesem Hintergrund nach dem EGMR-Urteil
„Di Trizio gegen die Schweiz vom 2. Februar 2016 (7186/09) die gemischte Bemessungsmethode grundsätzlich überhaupt zur Anwendung gelangen dürfte, kann offen bleiben. Auch wenn die Pflege des Ehemannes als familiär bedingter Grund für die Teilerwerbstätigkeit in den Schutzbereich von Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Privatund Familienlebens) fällt, handelt es sich hier weder um ein Rentenrevisionsverfahren (vgl. dazu auch BGer 9C_552/2016 vom 9. März 2017 E. 4.3.2) noch liegt ohne weiteres auf der Hand, dass die im Rahmen der Kinderbetreuung vom EGMR bejahte faktische Diskriminierung - unbesehen auch für die Pflege von Ehegatten zutrifft. Nach bislang publizierter Bundesgerichtsrechtsprechung spräche daher wohl nichts gegen die grundsätzliche Anwendung der gemischten Methode. Indes ist in Würdigung aller Umstände überwiegend wahrscheinlich, dass die Versicherte nach der beschränkten Zeit der Pflege ihres Ehemannes (und der Absorption durch die Geschäftsauflösung) ohne gesundheitliche Beeinträchtigung wieder eine vollzeitliche Erwerbstätigkeit gesucht und aufgenommen hätte. Die diesbezügliche Erklärung anlässlich des im Februar 2015 erstellten Haushaltabklärungsberichts scheint angesichts ihrer Erwerbsbiographie plausibel. Demgegenüber kann im Umstand, dass sich die Beschwerdeführerin nach der Geschäftsaufgabe lediglich auf Teilzeitstellen beworben hatte, in Anbetracht der konkreten Umstände kein überzeugender,
greifbarer Anhaltspunkt gesehen werden, der den Schluss rechtfertigen würde, der Beschäftigungsgrad wäre nach der langjährigen Vollerwerbstätigkeit auch ohne gesundheitliche Probleme dauerhaft reduziert worden.
Mit einem unbestrittenen Invaliditätsgrad von 48.75% hat die Beschwerdeführerin unter Anwendung des Einkommensvergleichs Anspruch auf eine Viertelsrente.
Die Beschwerde erweist sich als begründet; sie ist gutzuheissen.
Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.
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