Zusammenfassung des Urteils Nr. 51/2011/6: Obergericht
Der Angeklagte wird in einem Fall von einfacher Körperverletzung und Tätlichkeiten freigesprochen. Die Aussagen der Geschädigten sind unkonstant und widersprüchlich, ebenso wie die Aussagen des Angeklagten und seiner Ehefrau. Es besteht kein ausreichendes Beweisfundament für eine Verurteilung. Die Gerichtskosten werden auf die Gerichtskasse genommen, und dem Angeklagten wird eine Prozessentschädigung von Fr. 4'000.- für die anwaltliche Verteidigung zugesprochen.
Kanton: | SH |
Fallnummer: | Nr. 51/2011/6 |
Instanz: | Obergericht |
Abteilung: | - |
Datum: | 15.04.2011 |
Rechtskraft: | - |
Leitsatz/Stichwort: | Art. 29 Abs. 2 BV; Art. 107 Abs. 2, Art. 109 Abs. 1 und Art. 318 Abs. 1 StPO. Mitteilung der vorgesehenen Einstellung eines Strafverfahrens; rechtliches Gehör |
Schlagwörter : | Verfahren; Einstellung; Verfahren; Hinweis; Verfahrens; Verfahrens; Beweisanträge; Staatsanwaltschaft; Gehör; Recht; Frist; Beschuldigte; Einstellungsverfügung; Prozessordnung; Parteien; Gehörs; Schweizerische; Mitteilung; Erledigung; Stellung; Geschädigte; Obergericht; Abklärung; Entscheid; Staatsanwältin |
Rechtsnorm: | Art. 105 StPO ;Art. 107 StPO ;Art. 109 StPO ;Art. 29 BV ;Art. 318 StPO ; |
Referenz BGE: | 127 I 56; 134 I 147; |
Kommentar: | - |
Veröffentlichung im Amtsbericht.
Die Mitteilung der geplanten Einstellung eines Strafverfahrens ist mit dem Hinweis zu versehen, dass die Betroffenen innert der angesetzten Frist nicht nur allfällige Beweisanträge stellen, sondern auch zur vorgesehenen Erledigung Stellung nehmen können.
In einem Strafverfahren wegen Vernachlässigung von Unterhaltspflichten teilte die Staatsanwaltschaft den Betroffenen mit, dass sie die Einstellung des Strafverfahrens vorsehe, da der Beschuldigte aufgrund seiner Sachdarstellung vorübergehend über zu wenig finanzielle Mittel verfügt, anschliessend die Ausstände aber beglichen habe, weshalb fehlender Vorsatz angenommen werde. Sie setzte der Anzeigerin und Geschädigten Frist, um allfällige Beweisanträge zu stellen. Diese Frist lief ungenutzt ab. Gegen die anschliessende Einstellungsverfügung erhob die Geschädigte Beschwerde ans Obergericht. Dieses hiess die Beschwerde gut und wies die Sache zur weiteren Abklärung und zu neuem Entscheid an die Staatsanwaltschaft zurück.
Aus den Erwägungen:
2.a)
Die Begründung der Einstellungsverfügung wird substantiiert bestritten. Die zuständige Staatsanwältin nimmt zu den konkreten Rügen der Beschwerdeschrift in ihrer Vernehmlassung keine Stellung, ebenso wenig der Verteidiger des Beschuldigten ... Es ist jedoch nicht Sache des Obergerichts als kantonaler Beschwerdeinstanz, bei nicht vollständig abgeklärten Sachverhalten zu prüfen, ob das Strafverfahren weitergeführt werden müsse. Dies ist vielmehr Aufgabe der Staatsanwaltschaft als Strafverfolgungsbehörde.1 Um entsprechende unnötige Weiterungen zu vermeiden, muss in der in Art. 318 Abs. 1 StPO vorgesehenen Mitteilung über die vorgesehene Ein-
Art. 16 der Schweizerischen Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (Strafprozessordnung,
StPO, SR 312.0).
stellung des Strafverfahrens den Parteien nicht nur Gelegenheit gegeben werden, zusätzliche Beweisanträge zu stellen, wie dies in der erwähnten Vorschrift ausdrücklich vorgesehen und vorliegend praktiziert worden ist, sondern auch die Gelegenheit eingeräumt werden, sich zur vorgesehenen Erledigung zu äussern. Dies kann etwa dadurch geschehen, dass in der Fristansetzung festgehalten wird, die Parteien könnten sich zur vorgesehenen Erledigung äussern und allfällige Beweisanträge stellen.
In Art. 318 Abs. 1 StPO ist dies zwar nicht ausdrücklich vorgesehen, doch ist diese Vorschrift, welche nicht besonders auf die Einstellung von Strafverfahren zugeschnitten ist, sondern eine zusammenfassende Regelung der Schlussverfügungen bzw. Parteimitteilungen für alle Arten des Untersuchungsabschlusses enthält, ohnehin interpretationsbedürftig. So muss die Ankündigung einer geplanten Verfahrenseinstellung auch wie vorliegend geschehen zumindest summarisch begründet werden, da es andernfalls den Parteien praktisch verunmöglicht wäre, sinnvolle Beweisanträge zu stellen.2 Ebenso muss ein Äusserungsrecht zur vorgesehenen Einstellung bestehen, da
dies für die Begründung allfälliger Beweisanträge erforderlich ist und es überdies der Staatsanwaltschaft ermöglicht, allfällige Einwendungen gegen die vorgesehene Verfahrenserledigung wie sie vorliegend erst im Beschwerdeverfahren erhoben wurden zu prüfen, bevor sie die Einstellungsverfügung erlässt. Ein entsprechendes Äusserungsrecht ergibt sich denn auch bereits aus dem in Art. 29 Abs. 2 BV3 verankerten, für alle Verfahren vor Verwaltungsund Gerichtsbehörden geltenden Grundsatz des rechtlichen Gehörs, das auch Teilgehalt des allgemeinen Grundsatzes des fairen Verfahrens von Art. 6 Ziff. 1 EMRK4 und Art. 29 Abs. 1 BV ist.5 Danach wird den Betroffenen das Recht eingeräumt, sich vor Erlass eines in ihre Rechtsstellung eingreifenden Entscheids zur Sache zumindest schriftlich zu äussern.6 Die Einstellung eines Strafverfahrens kann in die Rechtsstellung der daran Beteiligten, insbesondere eines Geschädigten und Privatklägers, eingreifen, was einen entsprechenden Äusserungsanspruch begründet.7 Zwar besteht ein solcher Anspruch auch oh-
Vgl. Silvia Steiner, Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, Jugendstrafprozessordnung, Basel 2011, Art. 318 N. 8, S. 2201.
Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV, SR 101).
Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (EMRK, SR 0.101).
5 BGE 134 I 147 E. 5.2.
Vgl. Gerold Steinmann in: Ehrenzeller/Mastronardi/Schweizer/Vallender (Hrsg.), Die schweizerische Bundesverfassung, Kommentar, 2. A., St. Gallen/Zürich/Basel/Genf 2008, Art. 29 Rz. 22, 25, S. 590 ff., unter anderem mit Hinweis auf BGE 127 I 56 E. 2b.
BGE 127 I 56 E. 2b mit Hinweis. Vgl. auch den generellen Hinweis auf die Verfahrensrechte der Verfahrensbeteiligten zur Wahrung ihrer Interessen in Art. 105 Abs. 2 StPO.
ne ausdrücklichen Hinweis, was Art. 109 Abs. 1 StPO insoweit betont, dass die Parteien der Verfahrensleitung grundsätzlich jederzeit Eingaben machen können. Doch rechtfertigt es sich namentlich mit Blick auf nicht rechtskundige Verfahrensbeteiligte, zum besseren Verständnis und zur Information über die bestehenden Rechte ausdrücklich auf diese Äusserungsmöglichkeit hinzuweisen. Eine entsprechende Hinweispflicht sieht Art. 107 Abs. 2 StPO denn auch vor.
Die vorliegende Sache könnte daher grundsätzlich bereits wegen ungenügender Gehörswahrung an die Vorinstanz zurückgewiesen werden. Soweit die Gehörsverweigerung nicht systematisch betrieben wird, ist allerdings unter gewissen Voraussetzungen eine Heilung von Gehörsverletzungen im Rechtsmittelverfahren möglich.8 Im vorliegenden Fall entfällt diese Möglichkeit jedoch, weil namentlich die Staatsanwaltschaft auch im Beschwerdeverfahren nicht zu den konkreten Rügen der Beschwerdeführerin Stellung genommen hat und es wie erwähnt - nicht Sache des Obergerichts als Beschwerdeinstanz sein kann, selber entsprechende Abklärungen zu treffen und
dann über die Weiterführung des Strafverfahrens zu entscheiden. Angesichts der Behauptungen der Beschwerdeführerin hätte sich die Staatsanwältin jedenfalls nicht weiterhin mit der blossen, nicht näher begründeten Feststellung begnügen dürfen, die vorübergehende Zahlungsunfähigkeit lasse sich nicht widerlegen. Ohne Analyse der damaligen finanziellen Verhältnisse des Beschuldigten - nötigenfalls unter Beizug zusätzlicher Unterlagen (neben den bereits an den Akten befindlichen) lässt sich diese summarische Feststellung nicht nachvollziehen. Keine eigenständige strafausschliessende Bedeutung kann im Übrigen die weitere Feststellung der Staatsanwältin haben, der Beschuldigte habe die Ausstände im Zeitpunkt der untersuchungsrichterlichen Einvernahme bereits in vollem Umfang nachbezahlt. Strafbar macht sich gegebenenfalls auch, wer seinen Verpflichtungen zu spät nachkommt.9
Die angefochtene Einstellungsverfügung ist daher in Gutheissung der Beschwerde aufzuheben, und die Sache ist zur Durchführung der entsprechenden Abklärungen und zu neuem Entscheid an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen.
Steinmann, Art. 29 Rz. 32 f., S. 596 f.
Stefan Trechsel, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, Zürich/St. Gallen 2008, Art. 217 N. 11, S. 965, mit Hinweis.
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