Zusammenfassung des Urteils Nr. 10/2004/7: Obergericht
Der Beschuldigte wurde in einem Berufungsverfahren vom Vorwurf des vorsätzlichen Vergehens gegen das Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer im Sinne von Art. 115 Abs. 1 lit. b AuG freigesprochen. Er wurde jedoch schuldig gesprochen des vorsätzlichen Vergehens gegen das Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer im Sinne von Art. 115 Abs. 1 lit. c AuG. Er wurde zu einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je Fr. 30.- verurteilt, wovon 102 Tagessätze als durch Haft geleistet gelten. Die Kosten der Untersuchung und des erstinstanzlichen Verfahrens werden dem Beschuldigten zur Hälfte auferlegt und zur Hälfte auf die Gerichtskasse genommen. Die Kosten des Berufungsverfahrens werden auf die Gerichtskasse genommen. Eine Genugtuung von Fr. 5'000.- wird dem Beschuldigten für erlittene Überhaft zugesprochen. Der Richter ist männlich, die verlorene Partei ist eine männliche Person.
Kanton: | SH |
Fallnummer: | Nr. 10/2004/7 |
Instanz: | Obergericht |
Abteilung: | - |
Datum: | 08.04.2005 |
Rechtskraft: | - |
Leitsatz/Stichwort: | Art. 29 Abs. 2 BV; Art. 190 ZPO. Zulässigkeit der Beweisaussage zu eigenen Gunsten |
Schlagwörter : | Beweis; Beweismittel; Befragung; Kanton; Recht; Gehör; Zivilprozess; Anspruch; Kantons; Behauptung; Behauptungen; Schaffhausen; Regelung; Zeuge; Beweisaussage; Beklagten; Abtretung; Forderungen; Kantonsgericht; Entscheid; Verfahren; Bundesgericht; Ehrenzeller; Hinweisen; Praxis |
Rechtsnorm: | Art. 189 ZPO ;Art. 190 ZPO ;Art. 193 ZPO ;Art. 279 ZPO ;Art. 29 BV ;Art. 36 BV ; |
Referenz BGE: | 117 Ia 268; |
Kommentar: | - |
Veröffentlichung im Amtsbericht.
Der Ausschluss der persönlichen Befragung als Beweismittel zugunsten von Behauptungen der eigenen Partei in Art. 190 ZPO wirkt sich dann, wenn sich die beweisbelastete Partei in einem Beweisnotstand befindet, verfassungswidrig aus. In einem solchen Fall ist die Beweisaussage zu eigenen Gunsten zuzulassen (Praxisänderung).
Aus den Erwägungen:
.- Gemäss Art. 190 der Zivilprozessordnung für den Kanton Schaffhausen vom 3. September 1951 (ZPO, SHR 273.100) kann sich jede Partei für die von ihr zu beweisenden Tatsachen nur auf die persönliche Befragung der Gegenpartei berufen. Vorliegend ist die Verfassungsmässigkeit dieser Regelung umstritten. ...
.- Die Kläger verlangen, ihr Stiftungsrat A.S. sei persönlich zu befragen. Sie wollen damit beweisen, dass dieser nach Erhalt der Schreiben der Beklagten ... den zuständigen Sachbearbeiter der Beklagten, P.S., angerufen und ihm erklärt habe, dass die Abtretung der Forderungen ungültig sei, weil gar keine Forderungen bestünden, und dass die Kläger diese Abtretung niemals akzeptieren würden.
Bereits vor Kantonsgericht bezeichneten die Kläger zum genannten Beweisthema unter anderem die persönliche Befragung von A.S. als Beweismittel. Das Kantonsgericht nahm dieses offerierte Beweismittel jedoch nicht ab.
.- Das 1. Kapitel des 2. Titels der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV, SR 101) regelt in den Art. 7 - 36 die Grundrechte.
Art. 29 BV enthält allgemeine Verfahrensgarantien. Dessen Abs. 2 bestimmt, dass die Parteien Anspruch auf rechtliches Gehör haben. Das rechtliche Gehör dient gemäss BGE 117 Ia 268 f. E. 4b einerseits der Sachaufklärung, andererseits stellt es ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines Entscheids dar, welcher in die Rechtsstellung des Einzelnen eingreift. Dazu gehört insbesondere das Recht des Betroffenen, sich vor dem Erlass eines solchen Entscheids zur Sache zu äussern, erhebliche Beweise
beizubringen, Einsicht in die Akten zu nehmen, mit erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher Beweise entweder mitzuwirken sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen. Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst als Mitwirkungsrecht somit alle Befugnisse, die einer Partei einzuräumen sind, damit sie in einem Verfahren ihren Standpunkt wirksam zur Geltung bringen kann. Diesem Mitwirkungsrecht entspricht die Pflicht der Behörde, die Argumente und Verfahrensanträge der Partei entgegenzunehmen und zu prüfen, sowie die ihr rechtzeitig und formrichtig angebotenen Beweismittel abzunehmen, es sei denn, diese beträfen eine nicht erhebliche Tatsache seien offensichtlich untauglich, über die streitige Tatsache Beweis zu erbringen. Diese vom Bundesgericht aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör abgeleiteten beweisrechtlichen Garantien lassen sich im Begriff des Rechts auf Beweis zusammenfassen (vgl. auch Sabine Kofmel Ehrenzeller, Das Recht auf Beweis im Zivilverfahren ein Überblick unter besonderer Berücksichtigung der neuen Bundesverfassung, in: Christoph Leuenberger [Hrsg.], Der Beweis im Zivilprozess, Bern 2000, S. 139 ff. mit Hinweisen auch auf die entsprechenden, sich aus Art. 6 Ziff. 1 der europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 [EMRK, SR 0.101] ergebenden Garantien).
Nach bisheriger Rechtsprechung des Bundesgerichts darf freilich der Anspruch, Beweisanträge zu stellen, von der Einhaltung prozessualer Fristen und Formen abhängig gemacht und auf verfahrensrechtlich vorgesehene Beweismittel beschränkt werden (vgl. Reinhold Hotz in: Ehrenzeller/Mastronardi/Schweizer/Vallender [Hrsg.], Die schweizerisches Bundesverfassung, Kommentar, Zürich 2002, Art. 29 Rz. 33, S. 406 f.). In diesem Zusammenhang ist von Bedeutung, dass im Zivilprozessrecht des Kantons Schaffhausen die persönliche Befragung als Beweismittel vom Vaterschaftsprozess abgesehen (vgl. Art. 279 Abs. 1 ZPO) - nur zugunsten von Behauptungen der Gegenpartei zulässig ist (vgl. Art. 190 ZPO und dazu Annette Dolge, Der Zivilprozess im Kanton Schaffhausen im erstinstanzlichen ordentlichen Verfahren, Diss. Zürich 2001, S. 253 ff. mit weiteren Hinweisen). Eine derart einschränkende Regelung besteht heute nur noch in wenigen Kantonen (vgl. dazu Vogel/Spühler, Grundriss des Zivilprozessrechts, 7. A., Bern 2001, 10. Kapitel Rz. 73, 170 ff., S. 268 und 288, sowie das nachfolgend erwähnte Bundesgerichtsurteil vom 26. Januar 1998, E. 1c, je mit weiteren Hinweisen). Sie wirkt sich im Kanton Schaffhausen zusätzlich deshalb sehr problematisch aus, weil Organe von juristischen Personen im Unterschied zu andern Kantonen nicht als Zeugen einvernommen werden können (vgl. Art. 193 ZPO und dazu Dolge, S. 254). Aufgrund der bestehenden gesetzlichen Regelung hat das Obergericht jedoch bisher die persönliche Befragung zugunsten von Behauptungen der eigenen Partei auch in Fällen eines Beweis-
notstands nicht als Beweismittel zugelassen und das Bundesgericht hat diese Praxis geschützt (vgl. zuletzt BGE 4P.262/1997 vom 26. Januar 1998 und BGE 4P.216/2000 vom 14. Dezember 2000). Die Vereinbarkeit der Regelung von Art. 190 ZPO mit dem Anspruch auf rechtliches Gehör hat das Bundegericht namentlich im Entscheid vom 26. Januar 1998 näher geprüft. Es ist damals in einem Prozess zwischen zwei natürlichen Personen zum Schluss gelangt, die Nichtzulassung der persönlichen Befragung als Beweismittel zum Beweis eigener Behauptungen liege grundsätzlich in der Gestaltungsfreiheit des kantonalen Gesetzgebers und stelle jedenfalls im konkreten Fall keine Verletzung des rechtlichen Gehörs bzw. des Willkürverbots dar, weil die betreffende Partei ihren Standpunkt einlässlich habe darlegen können und bei gehöriger Wahrung der prozessualen Rechte von der formellen persönlichen Befragung daher nichts weiter zu erwarten gewesen wäre. Immerhin schloss es nicht aus, dass sich eine gesetzliche Beweismittelbeschränkung allenfalls in einem konkreten Fall als verfassungswidrig auswirken könnte und zugleich wies es auf die zunehmende Kritik am gesetzlichen Ausschluss der Parteiaussage als Beweismittel in der Lehre hin (E. 1c).
Im vorliegenden Prozess zwischen juristischen Personen auferlegte das Kantonsgericht den Klägern den Hauptbeweis für ihre Behauptung, A.S. habe nach Erhalt der Schreiben der Beklagten ... den zuständigen Sachbearbeiter der Beklagten, P.S., angerufen und ihm erklärt, dass die Abtretung der Forderungen ungültig sei, weil gar keine Forderungen bestünden, und dass die Kläger diese Abtretung niemals akzeptieren würden. Die Kläger offeierten zum genannten Beweisthema die Dossierkopien der Notifikatiosanzeigen ..., die Einvernahme von P.S. als Zeuge sowie die persönliche Befragung von A.S. als Beweismittel. Das Kantonsgericht zog die erwähnten Dossierkopien bei und vernahm P.S. als Zeuge ein, lehnte jedoch die Befragung von A. S. gestützt auf Art. 190 ZPO ab.
Der Zeuge P.S. verneinte an der Beweisverhandlung ... das von den Klägern behauptete Telefongespräch. Die erwähnten Dossierkopien konnten zur Klärung des Sachverhalts nichts beitragen. Damit versagen die Beweismittel der Kläger. Unter diesen Umständen aber kann nicht gesagt werden, die Kläger hätten ihren Standpunkt genügend darstellen können und es sei von einer Einvernahme von A.S., welche gemäss Art. 193 ZPO nicht als Zeugenbefragung, sondern höchstens als formelle persönliche Befragung durchgeführt werden kann, nichts weiteres zu erwarten. Wird in dieser Situation gestützt auf Art. 190 ZPO die persönliche Befragung von A.S. nicht zugelassen, ihr mithin zum vornherein jeglicher Beweiswert abgesprochen, wird den Klägern vielmehr der Beweis des von ihnen behaupteten Telefongesprächs verunmöglicht. Dieser Umstand läuft auf eine Verweigerung des Rechts auf Beweis hinaus. Da es jedoch nicht zulässig ist, elementare rechtsstaatliche Verfah-
rensgarantien wie eben der Anspruch auf rechtliches Gehör, mithin das Recht auf Beweis auszuschalten, wirkt sich der Ausschluss der persönlichen Befragung als Beweismittel zugunsten von Behauptungen der eigenen Partei in Art. 190 ZPO zumindest in der vorliegenden Konstellation, in welcher sich die Kläger in einem Beweisnotstand befinden, verfassungswidrig aus, weshalb das beantragte Beweismittel ohne Rücksicht auf die erwähnte Beschränkung in Art. 190 ZPO zuzulassen ist (vgl. dazu auch allerdings mit genereller Begründung - Dolge, S. 258, und Kofmel Ehrenzeller, S. 154 f.; zur Zulässigkeit der richterlichen Normenkontrolle gegenüber kantonalen Gesetzen bzw. der Nichtbeachtung der sich im vorliegenden Fall als verfassungswidrig erweisenden Einschränkung in Art. 190 ZPO vgl. Art. 38 Abs. 2 der Verfassung des Kantons Schaffhausen vom 17. Juni 2002 [KV, SHR 101.000] und Fridolin Schiesser, Die akzessorische Prüfung, Diss. Zürich 1984, S. 35). Es kann in diesem Zusammenhang auch darauf hingewiesen werden, dass die Expertenkommission für die Schaffung einer Schweizerischen Zivilprozessordnung die Beweisaussage als vollwertiges Beweismittel vorsieht und festgehalten hat, dass die Beweisaussage in der Praxis zwar kein sehr häufig angewendetes Beweismittel sei, es jedoch Fälle gebe, wo die Nichtzulassung dieses Beweismittels auf eine Verweigerung des Rechts zum Beweis hinauslaufen würde (vgl. Vorentwurf einer Schweizerischen Zivilprozessordnung vom Juni 2003, Erläuterungen zu Art. 186, S. 91). Der Problematik des Beweismittels der Parteiaussage zugunsten der befragten Partei - die naturgemässe Befangenheit der Parteien bzw. ihrer Organe ist sodann im Rahmen der freien Beweiswürdigung (vgl. Art. 189 Abs. 2 ZPO) Rechnung zu tragen.
Dahingestellt bleiben kann unter diesen Umständen, ob die in den erwähnten neueren Lehrmeinungen vertretene, über die bundesgerichtliche Rechtsprechung hinausgehende Auffassung zutrifft, dass ein Recht auf Beweis unabhängig von den gesetzlichen Beweisvorschriften besteht und gesetzliche Beweismittelbeschränkungen daher grundsätzlich nur unter den Voraussetzungen von Art. 36 BV (gesetzlichen Grundlage, öffentliches Interesse, Verhältnismässigkeit, Kerngehaltsgarantie) zulässig sind (vgl. dazu Kofmel Ehrenzeller, S. 154 f.). Dagegen lässt sich einerseits einwenden, dass Art. 36 BV nach herrschender Auffassung auf die Freiheitsrechte, nicht auf die Sozialrechte und Rechtsstaatsgarantien zugeschnitten ist. Andererseits trifft es zu, dass Lehre und Praxis zum Teil auch in den letzteren Bereichen für die Abgrenzung von Grundrechtsansprüchen auf diese Kriterien zurückgreifen (vgl. dazu Häfelin/Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 6. A., Zürich/Basel/Genf 2005, N. 302 f. und 869, S. 93 f. und 248, mit Hinweisen). Da vorliegend aber lediglich eine Verfassungsverletzung aufgrund der Auswirkungen der Regelung von Art. 190 ZPO im konkreten Fall angenommen wird, kann diese Frage offen bleiben.
Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.
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