BK 2022 441 - Nichtanhandnahme; Tätlichkeiten und Drohung
Obergericht
des Kantons Bern
Beschwerdekammer in Strafsachen
Cour suprême
du canton de Berne
Chambre de recours pénale
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Beschluss
BK 22 441
Bern, 25. April 2023
Besetzung Oberrichter Bähler (Präsident), Oberrichterin Bratschi,
Oberrichterin Hubschmid
Gerichtsschreiberin Kurt
Verfahrensbeteiligte A.__
Beschuldigter
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, Nordring 8, Postfach, 3001 Bern
B.__
Beschwerdeführer
Gegenstand Nichtanhandnahme
Strafverfahren wegen Tätlichkeiten und Drohung
Beschwerde gegen die Verfügung der Regionalen Staatsanwaltschaft Oberland vom 5. September 2022 (O 21 146)
Erwägungen:
1. Mit Verfügung vom 5. September 2022 nahm die Regionale Staatsanwaltschaft Oberland (nachfolgend: Staatsanwaltschaft) das Verfahren gegen den Beschuldigten wegen Tätlichkeiten und Drohung nicht an die Hand. Dagegen reichte B.__ (nachfolgend: Beschwerdeführer) am 17. Oktober 2022 Beschwerde ein und beantragte sinngemäss die Eröffnung eines Strafverfahrens. Der Beschuldigte sowie die Generalstaatsanwaltschaft verzichteten am 26. Oktober bzw. 10. November 2022 auf das Einreichen einer Stellungnahme.
2. Gegen Verfügungen und Verfahrenshandlungen der Staatsanwaltschaft kann bei der Beschwerdekammer in Strafsachen innert 10 Tagen schriftlich und begründet Beschwerde geführt werden (Art. 393 Abs. 1 Bst. a i.V.m. Art. 396 Abs. 1 der Strafprozessordnung [StPO; SR 312.0], Art. 35 des Gesetzes über die Organisation der Gerichtsbehörden und der Staatsanwaltschaft [GSOG; BSG 161.1] i.V.m. Art. 29 Abs. 2 des Organisationsreglements des Obergerichts [OrR OG; BSG 162.11]). Der Beschwerdeführer beruft sich auf einen gültigen Strafantrag. Der Strafantrag ist der Konstituierung als Straf- und Zivilkläger gleichgesetzt (Art. 118 Abs. 1 und Abs. 2 StPO), weshalb der Beschwerdeführer im Falle eines gültigen Strafantrags Partei im Beschwerdeverfahren, durch die Nichtanhandnahme unmittelbar in seinen rechtlich geschützten Interessen betroffen und folglich zur Beschwerde legitimiert wäre. Da die Frage des gültigen Strafantrags auch Gegenstand der materiellen Beurteilung bildet, stellt sie eine doppelrelevante Tatsache dar, was dazu führt, dass unabhängig von der Parteistellung des Beschwerdeführers auf die form- und fristgerechte Beschwerde einzutreten ist.
3. Gemäss Anzeigerapport vom 4. Januar 2021 kam es am 22. Oktober 2020 zwischen dem Beschwerdeführer, dem Beschuldigten, dessen Ehefrau und deren Sohn zu einer Auseinandersetzung, zu welcher die Polizei gerufen wurde. Der Beschwerdeführer wurde gleichentags als beschuldigte Person einvernommen. Am 8. Dezember 2020 reichte er selber Strafantrag gegen den Beschuldigten ein, konstituierte sich als Strafkläger und wurde in der Folge auch als geschädigte Person einvernommen. Die Staatsanwaltschaft geht in der angefochtenen Verfügung davon aus, dass der Beschwerdeführer in der Einvernahme vom 22. Oktober 2020 ausdrücklich darauf verzichtet habe, Strafantrag gegen den Beschuldigten zu stellen. Da der Verzicht unwiderruflich sei, könne die Anzeige vom 8. Dezember 2020 gegen den Beschuldigten nicht an die Hand genommen werden.
4.
4.1 Die Staatsanwaltschaft verfügt die Nichtanhandnahme, sobald aufgrund der Strafanzeige des Polizeirapports u.a. feststeht, dass die fraglichen Straftatbestände die Prozessvoraussetzungen eindeutig nicht erfüllt sind (Art. 310 Abs. 1 Bst. a StPO). Beim Strafantrag handelt es sich um eine Prozessvoraussetzung (BGE 145 IV 190 E. 1.5.2). Es ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer am 8. Dezember 2020 und damit innert Frist einen Strafantrag gegen den Beschuldigten eingereicht hat. Zu prüfen bleibt, ob der Beschwerdeführer bereits vorgängig auf einen Strafantrag verzichtet hat. In diesem Fall ist sein Strafantragsrecht erloschen und er kann keinen Strafantrag mehr stellen (vgl. Art. 30 Abs. 5 des Schweizerischen Strafgesetzbuches [StGB; SR 311.0]).
4.2 Der Verzicht auf den Strafantrag muss ausdrücklich und bedingungslos erklärt werden. Er bedarf gemäss Art. 304 Abs. 2 StPO der gleichen Form wie der Strafantrag selber (Donatsch, in: StGB/JStG Kommentar, 21. Aufl. 2022, N. 14 zu Art. 30 StGB mit weiteren Hinweisen). Ein Verzicht auf einen Strafantrag ist daher nur gültig, wenn er bei der Polizei, der Staatsanwaltschaft der Übertretungsstrafbehörde schriftlich eingereicht mündlich zu Protokoll gegeben wurde (Urteil des Bundesgerichts 6B_1048/2019 vom 28. Januar 2020 E. 1.6.2 sowie Riedo in: Basler Kommentar Strafrecht I, 4. Aufl. 2019, N. 121 sowie N. 119 zum Folgenden). Die Verzichtserklärung setzt inhaltlich voraus, dass der Berechtigte seinen Willen zum Ausdruck bringt, wegen eines begangenen Antragsdelikts solle keine Strafverfolgung stattfinden (BGE 90 IV 168 E. 1). Weiter kann ein Verzicht nur als solcher anerkannt werden, wenn er freiwillig erfolgt ist. Die Rechtslage ist insoweit dieselbe wie beim Rückzug des Strafantrages (Riedo, a.a.O. N. 126 zu Art. 30 StGB). Somit handelt es sich auch beim Verzicht um eine grundsätzlich unwiderrufliche Willenserklärung. Willensmängel im Sinne von Art. 23 ff. OR sind im Grunde genommen unbeachtlich. In analoger Anwendung von Art. 386 Abs. 3 StGB ist vom Grundsatz der Unbeachtlichkeit des Willensmangels dann eine Ausnahme zu machen, wenn die antragsberechtigte Person durch eine unrichtige behördliche Auskunft zu einem Verzicht veranlasst wurde. Diesfalls ist die antragsberechtigte Person in ihrem Vertrauen zu schützen und der durch die unrichtige behördliche Information Zusicherung hervorgerufene Willensmangel beachtlich, womit der erklärte Verzicht des Strafantrags nicht endgültig ist (vgl. Beschluss des Obergerichts des Kantons Bern BK 22 307 vom 23. Februar 2023 E. 5.3.2).
4.3 Der Beschwerdeführer wurde in seiner Einvernahme vom 22. Oktober 2020 von der Polizei gefragt, ob er jemanden anzeigen wolle. Der Beschwerdeführer antwortete: «Also nein, ich will niemanden anzeigen. Das ist nicht mein Charakter» (S. 4, Z. 130). Diese Aussage erfolgte freiwillig auf eine klare Frage hin. Es bestehen keine Hinweise, dass dieser Frage unrichtige behördliche Auskünfte vorangegangen sind der Beschwerdeführer die Bedeutung dieser Frage nicht richtig einschätzen konnte. Solches wird auch nicht geltend gemacht. Zwar sprach die Polizei nicht explizit von einem Strafantrag, aber es war mit Blick auf den Gesamtzusammenhang (der Beschwerdeführer gab an, bedroht worden zu sein, Z. 126 f.) unmissverständlich, dass es bei dieser Frage nach einer Anzeige darum ging, ob der Beschwerdeführer selbst eine Strafverfolgung gegen den Beschuldigten bzw. dessen Sohn anstrengen wollte. Der Verzicht auf eine Anzeige in diesem Zusammenhang ist mit einem Verzicht auf einen Strafantrag gleichzusetzen, zumal umgangssprachlich unter Laien mit Anzeige und Strafantrag regelmässig das Gleiche gemeint ist. Indem der Beschwerdeführer sagte, niemanden anzeigen zu wollen, und dies entsprechend begründete – das entspreche nicht seinem Charakter –, brachte er gegenüber der Polizei ausdrücklich, bedingungslos und abschliessend seinen Willen zum Ausdruck, keine Strafverfolgung gegen den Beschuldigten eine andere Person einleiten zu wollen. Dies stellt eine formgerechte Verzichtserklärung auf das Strafantragsrecht dar.
Der Beschwerdeführer führte in seiner Beschwerde aus, die Polizei habe ihm mitgeteilt, dass er ebenfalls Strafanträge einreichen könne. Wann und in welchem Zusammenhang diese Aufklärung erfolgt ist, zeigt er nicht auf. Allenfalls wurde damit beim Beschwerdeführer zwar der Eindruck erweckt, er könne auch nach der Einvernahme noch einen Strafantrag stellen. Eine solche Mitteilung ändert aber nichts an seinem ursprünglichen abschliessenden, vorbehaltslosen und inhaltlich begründeten Verzicht, keine Anzeige zu erheben. Der Beschwerdeführer macht denn auch nicht geltend, er sei durch eine unrichtige behördliche Auskunft zu einem Verzicht veranlasst worden. Er kann daher aus diesem Umstand nichts zu seinen Gunsten ableiten.
Somit ging die Staatsanwaltschaft zu Recht von einem Verzicht auf einen Strafantrag aus. Dieser ist gültig und unwiderruflich, weshalb das Strafantragsrecht des Beschwerdeführers erloschen ist.
Die Beschwerde ist abzuweisen.
5. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 428 Abs. 1 StPO). Entsprechend erhält er auch keine Entschädigung. Dem anwaltlich nicht vertretenen Beschuldigten sind durch das Beschwerdeverfahren keine entschädigungswürdigen Nachteile entstanden, weshalb auf die Ausrichtung einer Entschädigung verzichtet wird (Art. 430 Abs. 1 Bst. c i.V.m. Art. 436 Abs. 1 StPO).
Die Beschwerdekammer in Strafsachen beschliesst:
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens, bestimmt auf CHF 1'000.00, werden dem Beschwerdeführer zur Bezahlung auferlegt.
3. Es werden keine Entschädigungen gesprochen.
4. Zu eröffnen:
• dem Beschwerdeführer (per Einschreiben)
• dem Beschuldigten (per Einschreiben)
• der Generalstaatsanwaltschaft (per Kurier)
Mitzuteilen:
• der Regionalen Staatsanwaltschaft Oberland, Staatsanwältin C.__
(mit den Akten – per Einschreiben)
Bern, 25. April 2023
Im Namen der Beschwerdekammer
in Strafsachen
Der Präsident:
Oberrichter Bähler
Die Gerichtsschreiberin:
Kurt
i.V. Gerichtsschreiberin Neuenschwander
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden durch die Beschwerdekammer in Strafsachen in Rechnung gestellt.
Rechtsmittelbelehrung
Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen seit Zustellung beim Bundesgericht, Av. du Tribunal fédéral 29, 1000 Lausanne 14, Beschwerde in Strafsachen gemäss Art. 39 ff., 78 ff. und 90 ff. des Bundesgerichtsgesetzes (BGG; SR 173.110) geführt werden. Die Beschwerde muss den Anforderungen von Art. 42 BGG entsprechen.