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Urteil Verwaltungsgericht (ZH - VB.2019.00317)

Zusammenfassung des Urteils VB.2019.00317: Verwaltungsgericht

Eine deutsche Staatsangehörige namens B, geboren 1942, stellte ein Gesuch um eine Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz aufgrund von Trisomie21 und Demenz. Nachdem das Migrationsamt das Gesuch abgelehnt hatte, legten B und ihre Schwester A Beschwerde ein. Das Verwaltungsgericht entschied, dass B aufgrund ausreichender finanzieller Mittel und Krankenversicherung Anspruch auf die Aufenthaltsbewilligung hat. Die Kosten des Verfahrens wurden dem Beschwerdegegner auferlegt, und B erhielt eine Parteientschädigung von 2'000 CHF.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts VB.2019.00317

Kanton:ZH
Fallnummer:VB.2019.00317
Instanz:Verwaltungsgericht
Abteilung:4. Abteilung/4. Kammer
Verwaltungsgericht Entscheid VB.2019.00317 vom 19.12.2019 (ZH)
Datum:19.12.2019
Rechtskraft:Dieser Entscheid ist rechtskräftig.
Leitsatz/Stichwort:Aufenthaltsrecht gestützt auf Art. 24 Abs. 1 Anhang I FZA
Schlagwörter: Aufenthalt; Aufenthalts; AnhangI; Schweiz; Aufenthaltsbewilligung; Ergänzungsleistungen; Höhe; EU/EFTA; Recht; Migration; Gesuch; Migrationsamt; Rekurs; Verbindung; Sozialhilfe; Person; Ausgaben; Einkommen; Verwaltungsgericht; Kammer; Sicherheitsdirektion; Prozessfähigkeit; Anspruch; Unterstützung
Rechtsnorm:-
Referenz BGE:-
Kommentar:
-

Entscheid des Verwaltungsgerichts VB.2019.00317

Verwaltungsgericht

des Kantons Zürich

4. Abteilung

VB.2019.00317

Urteil

der 4.Kammer

vom 19.Dezember 2019

Mitwirkend: Abteilungspräsidentin Tamara Nüssle (Vorsitz), Verwaltungsrichter Marco Donatsch, Verwaltungsrichter Martin Bertschi, Gerichtsschreiber Christoph Raess.

In Sachen

A,

B,

gegen

betreffend Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA,


hat sich ergeben:

I.

B, eine 1942 geborene Staatsangehörige Deutschlands, reiste am 1.Januar 2019 in die Schweiz ein und stellte am 4.Januar 2019 ein Gesuch um Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA. B hat Trisomie21 und ist dement. Sie wohnt bei ihrer Schwester A, die auch als ihre Betreuerin amtet. Mit Verfügung vom 5.März 2019 wies das Migrationsamt das Gesuch ab und setzte B eine Frist zum Verlassen der Schweiz bis 31.Mai 2019.

II.

Den dagegen erhobenen Rekurs vom 15.März 2019 wies die Sicherheitsdirektion am 4.April 2019 ab. Die Rekurskosten wurden auf die Staatskasse genommen.

III.

A und B führten am 16.Mai 2019 Beschwerde beim Verwaltungsgericht und beantragten, unter Entschädigungsfolgen sei der Rekursentscheid vom 4.April 2019 aufzuheben, das Migrationsamt anzuweisen, B eine Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA zu erteilen, eventualiter die Sache zur weiteren Untersuchung an die Vorinstanz zurückzuweisen, B während des hängigen Verfahrens der Aufenthalt in der Schweiz zu gestatten, und es seien alle Vollzugshandlungen betreffend Wegweisung zu unterlassen. In prozessualer Hinsicht stellten sie den Antrag, ihnen sei die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren und den unterzeichnenden Rechtsanwalt C als unentgeltlichen Rechtsvertreter zu bestellen.

Die Sicherheitsdirektion verzichtete ausdrücklich auf eine Vernehmlassung, das Migrationsamt stillschweigend auf die Beschwerdeantwort. Mit Eingabe vom 28.Mai 2019 reichten A und B ein weiteres Beweismittel ein.

Die Kammer erwägt:

1.

1.1 Das Verwaltungsgericht ist für Beschwerden gegen Rekursentscheide der Sicherheitsdirektion über Anordnungen des Migrationsamts betreffend das Aufenthaltsrecht zuständig (§§41 des Verwaltungsrechtspflegegesetzes vom 24.Mai 1959 [VRG, LS175.2]).

1.2 Die Prozessfähigkeit ist eine von Amtes wegen zu prüfende Prozessvoraussetzung, welche bei der Beschwerdeerhebung wie auch zum Zeitpunkt der Entscheidfällung gegeben sein muss (VGr, 16.September 2009, VB.2009.00335, E.1.3). Die Prozessfähigkeit ist das Gegenstück zur zivilrechtlichen Handlungsfähigkeit (Martin Bertschi, in: Alain Griffel [Hrsg.], Kommentar zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des Kanton Zürich [VRG], 3.A., Zürichetc. 2014, Vorbemerkungen zu §§2121a N.7). Handlungsfähig ist, wer volljährig und urteilsfähig ist (Art.13 des Schweizerischen Zivilgesetzbuches vom 10.Dezember 1907 [SR210]).

Da die Beschwerdeführerin2 Trisomie21 hat und an Demenz leidet, ist sie urteilsunfähig. Ihr fehlt es deshalb an der Prozessfähigkeit. Ob die Vertretungsbefugnisse der Beschwerdeführerin1 als Betreuerin ihrer Schwester ausreichen, um im Namen der Beschwerdeführerin2 im eigenen Namen im Interesse der Beschwerdeführerin2 Beschwerde zu erheben, kann wie sich sogleich zeigt offenbleiben.

1.3 Würde der Beschwerdeführerin2 die Anwesenheit in der Schweiz untersagt, würde das in Art.8 Ziff.1 EMRK geschützte Recht der Beschwerdeführerin1 auf Achtung ihres Familienlebens berührt (BGE144 II 1 E.6.1). Folglich ist die Beschwerdeführerin1 zur Beschwerde legitimiert.

1.4 Da auch die übrigen Prozessvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde der Beschwerdeführerin1 einzutreten.

1.5 Das sinngemäss gestellte Gesuch um Erteilung der aufschiebenden Wirkung wird jedenfalls mit dem heutigen Entscheid gegenstandslos.

2.

2.1 Gemäss Art.6 des Abkommens vom 21.Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft (nunmehr Europäische Union) und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (Freizügigkeitsabkommen [FZA, SR0.142.112.681]) in Verbindung mit Art.24 Abs.1 AnhangI FZA erhalten Angehörige eines EU-Mitgliedstaats, die keine Erwerbstätigkeit ausüben, eine Aufenthaltsbewilligung, sofern sie über genügende finanzielle Mittel verfügen, sodass sie während ihres Aufenthalts keine Sozialhilfe in Anspruch nehmen müssen und sie zudem über einen Krankenversicherungsschutz verfügen, der sämtliche Risiken abdeckt. Über genügende finanzielle Mittel im Sinn von Art.24 Abs.1 AnhangI FZA verfügt eine Person, wenn sie durch eigene Finanzmittel durch finanzielle Unterstützung von anderen Personen ihren Lebensunterhalt finanzieren kann, ohne auf Leistungen der Sozialhilfe auf Ergänzungsleistungen angewiesen zu sein (BGE135 II 265 E.3.37, 142 II 35 E.5.1, 144 II 113 E.4.3). Die für den Lebensunterhalt notwendigen Kosten bestimmen sich gemäss Art.16 Abs.1 der Verordnung vom 22.Mai 2002 über die Einführung des freien Personenverkehrs (VEP, SR142.203) nach den Richtlinien für die Ausgestaltung und Bemessung der Sozialhilfe (SKOS-Richtlinien). Bei Rentnerinnen und Rentnern muss gemäss Art.16 Abs.2 VEP sichergestellt sein, dass die finanziellen Mittel höher sind als der Betrag, der in der Schweiz nach den Bestimmungen des Bundesgesetzes über Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung vom 19.März 1965 (ELG, SR831.30) zum Bezug von Ergänzungsleistungen berechtigt (vgl. auch die Weisungen und Erläuterungen des Staatssekretariats für Migration [SEM] zur Verordnung über die Einführung des freien Personenverkehrs vom November 2019, Ziff.8.2.3).

2.2

2.2.1 Da die Beschwerdeführerin2 Rentnerin ist, sind ihre finanziellen Mittel ausreichend, wenn sie höher sind als der Betrag, der sie zum Bezug von Ergänzungsleistungen zur AHV/IV berechtigt. Die Beschwerdeführerin2 wäre zum Bezug von Ergänzungsleistungen berechtigt, wenn ihre anerkannten Ausgaben im Sinn von Art.10 ELG höher wären als ihr nach Art.11 ELG anrechenbares Einkommen (vgl. Art.9 Abs.1 ELG).

Das anrechenbare Einkommen im Sinn von Art.11 ELG der Beschwerdeführerin2 beträgt grundsätzlich 1296.11Euro bzw. Fr.1426.- pro Monat (Umrechnungswert am 13.Dezember 2019: 1Euro = Fr.1.10). Es besteht aus der monatlichen Regelaltersrente in der Höhe von 443,11Euro bzw. Fr.487.-, dem monatlichen Pflegegeld in der Höhe von 728.-Euro bzw. Fr.801.- und dem Zusatzbetrag für die Tages-, Nacht- und Kurzzeitpflege in der Höhe von 125.-Euro bzw. Fr.138.-. Die anrechenbaren Ausgaben der Beschwerdeführerin2 bestehen aus einem jährlichen Betrag für den allgemeinen Lebensbedarf in der Höhe von Fr.19'450.- (Art.10 Abs.1 lit.a Ziff.1 ELG; BGE142 V 402 E.5.1), einem jährlichen Pauschalbetrag für die obligatorische Krankenpflegeversicherung in der Höhe von Fr.5'232.- (Art.10 Abs.3 lit.d ELG in Verbindung mit Ziff.3240.01 und Anhang1.3 der Wegleitung des Bundesamts für Sozialversicherungen über die Ergänzungsleistungen zur AHV und IV [WEL] in der ab 6.Dezember 2019 gültigen Fassung) und einem Beitrag für die Wohnungsmiete (Art.10 Abs.1 lit.b ELG), welcher aus dem Mietwert der Wohnung der Beschwerdeführerin1 und einer Pauschale für die Nebenkosten in der Höhe von Fr.1'680.- geteilt durch zwei besteht (Ziff.3236.01ff. in Verbindung mit Ziff.3237.02 WEL). Vorliegend kann offenbleiben, wie hoch der Beitrag für die Wohnungsmiete tatsächlich ist, da sich die Beschwerdeführerin1 bereit erklärt hat, für die Wohnkosten der Beschwerdeführerin2 aufzukommen. Die versprochene Unterstützung der Beschwerdeführerin1 erscheint unter den Umständen des Falls als nicht bloss vorgeschoben, sondern glaubhaft und gehört damit zu den finanziellen Mitteln der Beschwerdeführerin2 (vgl. BGE135 II 265 E.3.3f.). Damit betragen die massgebenden anrechenbaren Ausgaben der Beschwerdeführerin2 monatlich Fr.2'056.-.

Die anerkannten Ausgaben der Beschwerdeführerin2 sind somit grundsätzlich höher als ihr anrechenbares Einkommen (im Sinn von Art.11 ELG) von monatlich Fr.1'426.-. Zum anrechenbaren Einkommen von Fr.1'426.- ist aber noch der monatliche Unterstützungsbetrag von Fr.500.-, welcher durch die Nichte der Beschwerdeführerin2 und deren Ehemann glaubhaft zugesichert wurde, hinzuzurechnen (BGE135 II 265 E.3.3f., auch zum Folgenden). Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Beschwerdeführerin1 sich bereit erklärt hat, sämtliche Lebenshaltungskosten der Beschwerdeführerin2 zu übernehmen. Damit kann davon ausgegangen werden, dass diese über ausreichende finanzielle Mittel im Sinn von Art.24 Abs.1 AnhangI FZA verfügt.

2.2.2 Entgegen der Ansicht der Vorinstanz muss nicht sichergestellt sein, dass während der ganzen Dauer des Aufenthalts ausreichende finanzielle Mittel vorhanden sind. Das Aufenthaltsrecht der Beschwerdeführerin2 besteht so lang, wie sie die Bedingungen von Art.24 Abs.1 AnhangI FZA erfüllt (Art.24 Abs.8 AnhangI FZA). Diese Bedingungen wären nicht mehr erfüllt, wenn die Beschwerdeführerin 2 Sozialhilfe Ergänzungsleistungen beanspruchen würde. Art.24 Abs.8 AnhangI FZA erlaubt dem Aufenthaltsstaat während des gesamten Aufenthalts nachzuprüfen, ob die Bedingungen von Art.24 Abs.1 AnhangI FZA (noch) eingehalten werden (BGE135 II 265 E.3.3 in fine). Sind sie nicht mehr erfüllt, kann die Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA widerrufen werden (BGE135 II 265 E.3.6 in fine, E.3.7; vgl. auch BGr, 20.Januar 2014, 2C_7/2014).

2.3 Am 20.Mai 2019 bestätigte die Gemeinsame Einrichtung KVG der Beschwerdeführerin2, sie werde aufgrund ihres bestehenden Krankenkassenversicherungsschutzes in Deutschland von der Krankenversicherungspflicht in der Schweiz befreit und bei der Gemeinsamen Einrichtung KVG eingetragen, womit die medizinischen Behandlungen bei Krankheit und Nichtberufsunfall nach Schweizerischem Krankenversicherungsgesetz übernommen werden. Demzufolge verfügt die Beschwerdeführerin2 über einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz im Sinn von Art.24 Abs.1 lit.b AnhangI FZA.

2.4 Die Beschwerdeführerin2 erfüllt damit die Voraussetzungen von Art.24 Abs.1 AnhangI FZA und hat Anspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA.

3.

Da die Beschwerdeführerin2 gestützt auf Art.24 Abs.1 AnhangI FZA Anspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung EU/EFTA hat, kann offenbleiben, ob ihr auch gestützt auf Art.8 Ziff.1 EMRK ein Anwesenheitsanspruch zukommt.

4.

Nach dem Gesagten ist die Beschwerde der Beschwerdeführerin1 gutzuheissen.

5.

Ausgangsgemäss sind die Kosten des Beschwerdeverfahrens dem Beschwerdegegner aufzuerlegen (§65a in Verbindung mit §13 Abs.2 Satz1 VRG) und ist der obsiegenden Beschwerdeführerin1 antragsgemäss für das Beschwerdeverfahren eine Parteientschädigung in der Höhe von Fr.2'000.- zuzusprechen (§17 Abs.2 VRG).

Das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und -vertretung ist mangels Mittellosigkeit abzuweisen (§16 Abs.1 VRG).

Demgemäss erkennt die Kammer:

Fr. 2'000.--; die übrigen Kosten betragen:
Fr. 60.-- Zustellkosten,
Fr. 2'060.-- Total der Kosten.

Quelle: https://www.zh.ch/de/gerichte-notariate/verwaltungsgericht.html
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