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Urteil Versicherungsgericht (SG - IV 2019/38)

Zusammenfassung des Urteils IV 2019/38: Versicherungsgericht

Die Beschwerdeführerin, eine junge Frau, leidet an verschiedenen Geburtsgebrechen und hat bisher eine Hilflosenentschädigung mittleren Grades erhalten. Nach einer Überprüfung wurde entschieden, dass sie nun nur noch eine leichte Hilflosigkeit aufweist, da sie in vielen Bereichen selbstständiger geworden ist. Die IV-Stelle hat daraufhin die Hilflosenentschädigung herabgesetzt. Der Vater der Beschwerdeführerin hat dagegen Beschwerde eingelegt, die an das Versicherungsgericht weitergeleitet wurde. Nach Prüfung der Sachlage wurde festgestellt, dass die Herabsetzung der Entschädigung gerechtfertigt war, jedoch der Wirkungszeitpunkt korrigiert werden muss. Die Beschwerdegegnerin muss die Gerichtskosten tragen, und der bereits geleistete Kostenvorschuss wird der Beschwerdeführerin zurückerstattet.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts IV 2019/38

Kanton:SG
Fallnummer:IV 2019/38
Instanz:Versicherungsgericht
Abteilung:IV - Invalidenversicherung
Versicherungsgericht Entscheid IV 2019/38 vom 20.02.2020 (SG)
Datum:20.02.2020
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:Entscheid Art. 17 Abs. 2 ATSG. Art. 42ter IVG. Art. 37 IVV. Revision der Hilflosenentschädigung. Leichtgradige Hilflosigkeit (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 20. Februar 2020, IV 2019/38).
Schlagwörter: Verfügung; IV-act; Hilflosenentschädigung; Eltern; Hilflosigkeit; IV-Stelle; Vater; Abklärung; Grades; Entschädigung; Hilfe; Begleitung; Zahlung; Dritthilfe; Versicherungsgericht; Herabsetzung; Eingabe; Recht; Lebensverrichtungen; Tochter; Hilfebedarf
Rechtsnorm: Art. 17 ATSG ;Art. 30 ATSG ;Art. 56 ATSG ;
Referenz BGE:-
Kommentar:
-

Entscheid des Verwaltungsgerichts IV 2019/38

Entscheid vom 20. Februar 2020

Besetzung

Präsident Ralph Jöhl, Versicherungsrichterinnen Monika Gehrer-Hug und Karin Huber- Studerus; Gerichtsschreiber Tobias Bolt

Geschäftsnr. IV 2019/38

Parteien

A. ,

Beschwerdeführerin,

vertreten durch B. und C. , gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Postfach 368, 9016 St. Gallen,

Beschwerdegegnerin,

Gegenstand Hilflosenentschädigung Sachverhalt

A.

    1. A. litt infolge eines Geburtsgebrechens (Charge-Syndrom) an einer Kleinwüchsigkeit, an einem Papillenkolobom rechts, an einem Mikrophtalmus rechts, an einer angeborenen Innenohr-Schwerhörigkeit beidseits, an einer Stimmbandparese, an einer psychomotorischen Retardierung und an einer Mikrocephalie; zudem lag eine Kopf-Schiefhaltung nach links mit einer Torticollis nach rechts vor (vgl. IV-act. 306). Die IV-Stelle sprach ihr mit einer Verfügung vom 21. August 2001 eine Vergütung für die Hauspflege (IV-act. 42) und mit einer weiteren Verfügung vom 30. August 2002 einen Pflegebeitrag bei einer Hilflosigkeit leichten Grades zu, was zu einer Herabsetzung der Vergütung für die Hauspflege führte (IV-act. 62 f.). Der Pflegebeitrag wurde mit einer Verfügung vom 13. April 2004 per 1. Juni 2004 durch eine Hilflosenentschädigung abgelöst, die einer Hilflosigkeit mittleren Grades entsprach; zusätzlich erhielt die Versicherte (weiterhin) einen Intensivpflegezuschlag (IV-act. 97). Nach einer Abklärung in der Wohnung der Eltern am 15. November 2006 notierte eine Abklärungsbeauftragte der IV-Stelle (IV-act. 178), der Gesundheitszustand der Versicherten habe sich seit der letzten Abklärung nicht erheblich verändert. Da die Versicherte zwischenzeitlich das sechste Lebensjahr vollendet habe, müsse der Hilfebedarf nun für alle Lebensverrichtungen als nicht mehr altersbedingt normal, sondern als behinderungsbedingt qualifiziert werden, weshalb neu ein Anspruch auf eine Entschädigung bei einer Hilflosigkeit schweren Grades bestehe. Der Überwachungsaufwand sei gestiegen, da die Versicherte sehr agil geworden sei, Gefahren aber nicht einschätzen könne. Der übrige Betreuungsaufwand sei dagegen geringer geworden. Die Versicherte könne die meisten Transfers nun selbständig ausführen. Sie habe gelernt, selber mit Löffel und Gabel zu essen. Nur ein Teil der Nahrung werde noch von den Eltern eingegeben zerkleinert. Die Versicherte gehe selbständig auf die Toilette. Die Reinigung nach dem Verrichten der Notdurft werde von der Versicherten teilweise ebenfalls selbständig verrichtet. Der gesamte

      behinderungsbedingte Mehraufwand belaufe sich nun auf weniger als vier Stunden pro Tag, weshalb kein Anspruch mehr auf einen Intensivpflegezuschlag bestehe. Mit einer Verfügung vom 6. Februar 2007 erhöhte die IV-Stelle die Hilflosenentschädigung rückwirkend per 1. Juni 2006; den Intensivpflegezuschlag hob sie per 31. März 2007 auf (IV-act. 189). Der behandelnde Kinderarzt Dr. med. D. berichtete am 27. August 2008 (IV-act. 216), die Versicherte habe wegen einer Stimmbandparese monatelang durch eine Trachealkanüle beatmet werden müssen. Dabei habe teilweise Tag und Nacht stündlich Schleim abgesaugt werden müssen. Auch aktuell kontrollierten die Eltern nachts alle zwei Stunden den Zustand, wobei sich aber die Frage nach der medizinischen Notwendigkeit dieser häufigen Kontrollen stelle. Insgesamt sei es schwierig, bezüglich der Schlafsituation zwischen Schlafstörungen, der habituellen Angst der Eltern und der objektiven, von der Stimmbandparese herrührenden Behinderung zu unterscheiden. Das Ostschweizer Kinderspital hielt in einem Bericht vom 23. April 2009 fest (IV-act. 231), dass die Eltern sich jeden Abend zum Einschlafen zur Versicherten legten und dass sie alle zwei Stunden den Zustand ihrer Tochter kontrollierten. Nach einer weiteren Abklärung in der Wohnung der Eltern am 21. August 2009 hielt der Abklärungsbeauftragte der IV-Stelle fest (IV-act. 232), die aktuellen Hauptprobleme seien ein allgemeiner Entwicklungsrückstand, eine Innenohrschwerhörigkeit und ein extremer Kleinwuchs. Ansonsten sei die Versicherte kaum eingeschränkt und sehr gut beweglich. Zu Beginn des Monats sei sie gleichzeitig an den Mandeln und an den Stimmbändern operiert worden. Die Eltern hätten sie während des Spitalaufenthaltes umfangreich betreut. Sie habe sich erstaunlich schnell erholt. Für die alltäglichen Lebensverrichtungen Aufstehen/Absitzen/Abliegen und Essen sei die Versicherte nicht mehr auf eine regelmässige und erhebliche Dritthilfe angewiesen. Grundsätzlich könne sich die Versicherte weitgehend selbständig an- und ausziehen. Aus zeitlichen Gründen und wegen feinmotorischen Einschränkungen werde ihr aber oft beim Anziehen geholfen. Beim Ausziehen müsse höchstens noch „im Oberbereich“ etwas nachgeholfen werden. Bei der Körperpflege sei bloss noch eine Hilfe beim Baden respektive beim Einseifen und Haare waschen notwendig, weil sich die Versicherte ansonsten wenig zuverlässig waschen würde. Tagsüber nässe sich die Versicherte teilweise noch leicht ein, weil sie wohl zu lange warte, bis sie zur Toilette gehe. Bei der Reinigung nach einem Stuhlgang benötige sie Hilfe. Ansonsten verrichte sie ihre Notdurft selbständig. Auch bei der eigentlichen Fortbewegung sei die

      Versicherte nicht mehr eingeschränkt. Im Freien werde sie jedoch engmaschig überwacht, weil sie wegen ihres Schiefhalses und wegen einer verlangsamten Reaktion oft stürze und sich nicht schnell genug mit den Händen auffangen könne. Ausserdem könne sie sich nicht gegen andere Kinder wehren, sodass sie auf dem Spielplatz meistens begleitet werde. Eine Weglaufgefahr bestehe nicht. Im Strassenverkehr könne sich die Versicherte nicht adäquat verhalten. Wegen ihrer geistigen Retardierung und wegen ihrer eingeschränkten Kommunikationsfähigkeit spiele sie in aller Regel für sich alleine. Mit einer Verfügung vom 30. Oktober 2009 setzte die IV-Stelle die Hilflosenentschädigung auf das Ende des der Zustellung der Verfügung folgenden Monats auf eine Entschädigung bei einer Hilflosigkeit mittleren Grades herab (IV-act. 240).

    2. Im Oktober 2014 forderte die IV-Stelle die Eltern der Versicherten auf, einen Fragebogen zur Überprüfung der Hilflosenentschädigung auszufüllen (vgl. IV-act. 286). Die Eltern gaben an (IV-act. 287), dass der Hilfebedarf im Wesentlichen unverändert geblieben sei. Die Versicherte könne sich mittlerweile aber verbal etwas besser ausdrücken. Noch immer benötige sie aber eine Dritthilfe bei jeglichen Tätigkeiten. Diese Dritthilfe werde hauptsächlich von der Mutter geleistet. Der behandelnde Kinderarzt Dr. D. berichtete im Dezember 2014 (IV-act. 299), die Versicherte leide an einem allgemeinen Entwicklungsrückstand. Ihre Selbständigkeit entspreche etwa jener eines fünf- sechsjährigen Kindes. Sie mache zwar Fortschritte, aber nur sehr langsam. Am 21. Januar 2015 fand eine telefonische Abklärung bezüglich der Hilflosigkeit der Versicherten statt (IV-act. 301). Dabei gab der Vater der Versicherten an, beim An- und Auskleiden müsse immer ein Elternteil dabei sein und der Versicherten "1:1" helfen. Die Versicherte könne sich nicht allein gründlich und zuverlässig waschen und duschen; mündliche Aufforderungen reichten nicht aus, weil die Versicherte diese nicht umsetzen könne. Nach dem Stuhlgang müsse der Versicherten bei der Reinigung immer geholfen werden. Zudem müssten ihre Kleider vor und nach dem WC-Gang geordnet werden. Ohne eine Begleitperson könne die Versicherte die Wohnung nicht verlassen. Generell könne die Versicherte nie allein gelassen werden; Tag und Nacht müsse jemand bei ihr sein. Die Abklärungsperson notierte allerdings, dass die Versicherte den Schulweg mit dem Schulbus bewältige. Sie werde von einem Elternteil zum Bus gebracht und wieder abgeholt. Die

      Abklärungsperson ging davon aus, dass der Hilfebedarf der Versicherten im Wesentlichen unverändert geblieben sei. Am 17. Februar 2015 teilte die IV-Stelle den Eltern der Versicherten mit, dass weiterhin ein unveränderter Anspruch auf die bisherige Hilflosenentschädigung bestehe (IV-act. 303).

    3. Im Mai 2018 füllten die Eltern der Versicherten einen weiteren Fragebogen zur Überprüfung der Hilflosenentschädigung aus (IV-act. 387). Sie gaben an, der Hilfebedarf der Versicherten habe sich seit der letzten Abklärung nicht wesentlich verändert. Die Kinderärztin Dr. med. E. berichtete im Juni 2018 (IV-act. 393), der Gesundheitszustand der Versicherten sei unverändert geblieben. Sie kenne die Versicherte allerdings erst seit April 2018, da sie deren Behandlung von ihrem Praxis- Vorgänger Dr. D. übernommen habe. Am 9. August 2018 führte die IV-Stelle eine telefonische Abklärung durch (IV-act. 396). Die Abklärungsperson notierte, gemäss den telefonischen Angaben der Mutter sei die Versicherte in den letzten beiden Jahren viel selbständiger geworden. Im Alltag benötige sie zwar immer noch viel Unterstützung und Begleitung, aber ein regelmässiger und erheblicher Bedarf an Dritthilfe bestehe bezüglich der alltäglichen Lebensverrichtungen nur noch für die Fortbewegung und für die Pflege von gesellschaftlichen Kontakten. Dabei stehe eine Unsicherheit der Versicherten im Vordergrund, die diese daran hindere, die Wohnung der Eltern alleine zu verlassen. Sie könne keine Kontakte zu anderen Menschen herstellen pflegen. Hinzu komme, dass sie oft verträumt sei und deshalb die Umwelt und insbesondere Gefahren nicht zu wenig wahrnehme. Gerade im Strassenverkehr entstünden dadurch immer wieder gefährliche Situationen. Mit Blick auf die Notwendigkeit einer lebenspraktischen Begleitung sei zu berücksichtigen, dass die Versicherte eine Begleitung zur Ermöglichung des selbständigen Wohnens benötige, dass sie bei ausserhäuslichen Tätigkeiten begleitet werden müsse und dass es ohne die Mithilfe der Eltern zu einer dauernden Isolation kommen würde. Der Vater der Versicherten bestätigte die Richtigkeit dieses Protokolls der telefonischen Abklärung am 15. August 2018 unterschriftlich. Mit einem Vorbescheid vom 27. September 2018 teilte die IV- Stelle den Eltern der Versicherten mit (IV-act. 399), dass sie vorsehe, die laufende Hilflosenentschädigung auf eine Entschädigung bei einer Hilflosigkeit leichten Grades herabzusetzen, weil lediglich noch ein Bedarf nach einer lebenspraktischen Begleitung ausgewiesen sei. Bei einem Schalterbesuch am 11. Oktober 2018 gab der Vater der

      Versicherten offenbar an, dass er aktuell keine Einwände gegen die vorgesehene Herabsetzung der laufenden Hilflosenentschädigung habe (IV-act. 400). Am 13. Dezember 2018 verfügte die IV-Stelle die Nachzahlung einer Entschädigung bei einer Hilflosigkeit mittleren Grades für den Zeitraum vom 1. April 2018 bis zum 30. November 2018 (IV-act. 409). Mit einer weiteren Verfügung vom 4. Januar 2019 setzte die IV-Stelle die laufende Hilflosenentschädigung per 1. Februar 2019 auf eine Entschädigung bei einer Hilflosigkeit leichten Grades herab (IV-act. 410).

    4. Am 18. Januar 2019 „beschwerte“ sich der Vater der Versicherten bei der IV-Stelle gegen die Herabsetzung der Hilflosenentschädigung (IV-act. 412). Er machte geltend, es sei ihm ein Rätsel, wie die IV-Stelle zu diesem Entscheid gelangt sei. Sämtliche Ärzte und Spezialisten hätten doch einen hohen Hilfebedarf bestätigt. Die Versicherte benötige immer Unterstützung und Hilfe beim An- und Auskleiden, beim Essen, bei der Körperpflege und beim Verrichten der Notdurft. Seit ihrer Geburt habe man eine Hilflosigkeit mittleren Grades anerkannt. Die Versicherte sei weiterhin auf die entsprechende Unterstützung angewiesen. Die IV-Stelle erliess am 29. Januar 2019 einen – nicht mit einer Rechtsmittelbelehrung versehenen – Nichteintretensentscheid

(IV-act. 415), den sie mit der fehlenden Zuständigkeit begründete. Sie verwies auf die Rechtsmittelbelehrung der angefochtenen Verfügung und sie teilte dem Vater der Versicherten mit, dass sie seine Eingabe in Anwendung des Art. 30 ATSG zuständigkeitshalber an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen weitergeleitet habe.

B.

    1. Am 29. Januar 2019 übermittelte die IV-Stelle dem Versicherungsgericht die Eingabe des Vaters der Versicherten vom 18. Januar 2019 sowie eine

      „Orientierungskopie“ ihres Antwortschreibens vom 29. Januar 2019 (act. G 1). Am 30. Januar 2019 reichte die IV-Stelle die beiden „Verfügungsteile“ vom 13. Dezember 2018 nach (act. G 2). Das Versicherungsgericht forderte den Vater der Versicherten am 11. Februar 2019 bezugnehmend auf dessen Eingabe vom 18. Januar 2019 auf, eine Vertretungsvollmacht der Tochter einzureichen (act. G 4). Am 8. März 2019 ging dem Versicherungsgericht ein Dispositivauszug eines Entscheides der zuständigen Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde vom 6. März 2019 zu, laut dem die Eltern zu

      Beiständen ihrer Tochter ernannt und zur Interessensvertretung gegenüber dem Versicherungsgericht befugt worden waren (act. G 7). Nachdem die Versicherte (nachfolgend: die Beschwerdeführerin) einen Kostenvorschuss geleistet hatte, forderte das Versicherungsgericht die IV-Stelle (nachfolgend: die Beschwerdegegnerin) zur Beschwerdeantwort betreffend die Eingabe vom 18. Januar 2019 auf (act. G 9).

    2. Die Beschwerdegegnerin beantragte am 10. Mai 2019 unter Verweis auf eine Stellungnahme des „Fachbereichs“ vom 29. April 2019 die Abweisung der Beschwerde (act. G 10). In jener Stellungnahme war festgehalten worden (IV-act. 431), die telefonische Abklärung vom 9. August 2018 habe ergeben, dass die Beschwerdeführerin lediglich noch bei der lebenspraktischen Begleitung und bei der Kontaktpflege auf eine regelmässige und erhebliche Dritthilfe angewiesen sei. Die Kontaktpflege müsse unter die lebenspraktische Begleitung subsumiert werden, damit keine Doppelberücksichtigung resultiere. In allen anderen Bereichen sei die Beschwerdeführerin mehrheitlich selbständig. Der Vater der Beschwerdeführerin habe den Bericht als korrekt gegengezeichnet.

    3. Die Beschwerdeführerin liess am 31. Mai 2019 an ihrem Antrag festhalten und geltend machen (act. G 12), sie könne die Kürzung der Hilflosenentschädigung nicht nachvollziehen. Die Beschwerdegegnerin habe sich gar kein eigenes Bild vom massgebenden Sachverhalt gemacht; es sei niemand für eine Abklärung vorbeigekommen.

    4. Die Beschwerdegegnerin verzichtete auf eine Duplik (vgl. act. G 13 f.).

    5. Die Eltern der Beschwerdeführerin wiesen am 17. September 2019 darauf hin (act. G 15), dass ihrer Tochter eine Rente bei einem Invaliditätsgrad von 91 Prozent zugesprochen worden sei. Wer in einem solch hohen Mass invalid sei, müsse einen Anspruch auf eine Entschädigung bei einer Hilflosigkeit mittleren Grades haben.

    6. Die Beschwerdegegnerin verzichtete auf eine Stellungnahme (act. G 17).

    7. Das Versicherungsgericht ersuchte die zuständige Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde am 23. Januar 2020 anzugeben, ob der Vater der Beschwerdeführerin aus kindes- und erwachsenenschutzrechtlicher Sicht überhaupt

rechtswirksam für seine Tochter eine Beschwerde habe erheben können (act. G 19). Die Behörde antwortete am 27. Januar 2020 (act. G 20), sie habe dem Vater zwar keine rückwirkende Prozessvollmacht erteilt, aber es wäre überspitzt formalistisch, wenn die Legitimation des Vaters zur Beschwerdeerhebung verneint würde, da dieser im wohlverstandenen Interesse seiner Tochter gehandelt habe, für die er seit ihrer Geburt gesorgt habe.

Erwägungen

1.

    1. Der Vater der Beschwerdeführerin hat sich am 18. Januar 2019 bei der Beschwerdegegnerin gegen die Verfügungen vom 13. Dezember 2018 und vom 4. Januar 2019 „beschwert“ und verlangt, dass die Hilflosigkeit der Beschwerdeführerin wieder auf „mittel“ zurückgestuft werde. Die im 2000 geborene Beschwerdeführerin ist bei der Eröffnung der beiden Verfügungen vom 13. Dezember 2018 und vom 4. Januar 2019 bereits volljährig gewesen. Eigentlich hätte also nur sie selbst und nicht ihr Vater eine Beschwerde erheben können. Eine Vollmacht, die den Vater zur Beschwerdeerhebung im Namen seiner Tochter legitimiert hätte, liegt nicht vor; die zuständige Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde hat ihm erst später eine Prozessvollmacht für dieses Beschwerdeverfahren erteilt und sie hat explizit erklärt, dass sie diese Vollmacht nur für die Zukunft und nicht rückwirkend erteilt habe. Unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände dürfte allerdings zumindest eine Geschäftsführung ohne Auftrag vorgelegen haben, die mit der Erteilung der Prozessvollmacht dann nachträglich bewilligt worden ist. Folglich ist davon auszugehen, dass der Vater der Beschwerdeführerin in deren Namen tätig geworden ist.

    2. Bleibt die Frage zu beantworten, ob seine „Beschwerde“ zuhanden der Beschwerdegegnerin als eine Beschwerde im Sinne des Art. 56 Abs. 1 ATSG qualifiziert werden kann. Gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kann eine während der laufenden Rechtsmittelfrist gegenüber irgendeiner weiterleitungspflichtigen Behörde abgegebene Nichteinverständniserklärung immer nur ein beim zuständigen Gericht eingereichtes Rechtsmittel und nicht ein Wiedererwägungsgesuch sein (Urteil des Bundesgerichtes 9C_211/2015 vom 21. September 2015). Das bedeutet, dass es sich bei der Eingabe an die Beschwerdegegnerin vom 18. Januar 2019 um eine Beschwerde im Sinne des Art. 56 Abs. 1 ATSG gehandelt haben muss. Die Beschwerdegegnerin hat diese Eingabe also

zu Recht an das Versicherungsgericht weitergeleitet. Sie hat ihre entsprechende Reaktion auf die Eingabe vom 18. Januar 2019 zwar als einen

„Nichteintretensentscheid“ bezeichnet, aber dabei kann es sich nur um eine rein informative Mitteilung gehandelt haben, da es sich nach dem oben Ausgeführten bei dieser Eingabe nicht um ein Wiedererwägungsgesuch gehandelt haben kann und da die Beschwerdegegnerin offensichtlich nicht über die Eintretensfrage bezüglich der von ihr als solche erkannten Beschwerde an das Versicherungsgericht hat entscheiden können.

2.

Die Beschwerdeführerin hat im 2018 ihr 18. Altersjahr vollendet. Die Beschwerdegegnerin hat deshalb ein Revisionsverfahren (Art. 17 Abs. 2 ATSG) betreffend die Hilflosenentschädigung der Beschwerdeführerin eröffnet, das sie schliesslich mit der hier angefochtenen Verfügung vom 4. Januar 2019 abgeschlossen hat. Offenbar hat sie bei der Eröffnung dieses Revisionsverfahrens die Auszahlung der laufenden Hilflosenentschädigung vorsorglich eingestellt, denn anders lässt sich die am

13. Dezember 2018 verfügte Nachzahlung der Hilflosenentschädigung ab 1. April 2018 nicht erklären. Wäre die Auszahlung der Hilflosenentschädigung nämlich nicht vorsorglich eingestellt worden, hätte gar kein Nachzahlungsanspruch entstehen können. In den Akten fehlt eine Verfügung betreffend diese vorsorgliche Leistungseinstellung. Es fehlt auch eine Verfügung, mit der diese vorsorgliche Leistungseinstellung ausdrücklich wieder aufgehoben worden wäre. Nur die Nachzahlungsverfügung vom 13. Dezember 2018 belegt, dass die Auszahlung der formell rechtskräftig zugesprochenen Hilflosenentschädigung ab dem 1. April 2018 (formwidrig) vorsorglich eingestellt gewesen ist. Der Wortlaut des Dispositivs dieser Verfügung beschränkt sich zwar auf die Anordnung einer Nachzahlung, aber diese Nachzahlung wäre gar nicht möglich gewesen, wenn nicht gleichzeitig auch der vorsorgliche Auszahlungsstopp aufgehoben worden wäre. Der lückenhafte Dispositivwortlaut ist deshalb entsprechend zu ergänzen. Der Entscheidinhalt der Verfügung vom 13. Dezember 2018 besteht also in der Aufhebung der vorsorglichen Leistungseinstellung und der daraus resultierenden Nachzahlung für die monatlichen Leistungen bis und mit Dezember 2018. Beim in der Verfügung vom 13. Dezember 2018 enthaltenen Hinweis auf eine vorgesehene revisionsweise Herabsetzung der laufenden Hilflosenentschädigung kann es sich deshalb nur um eine Information gehandelt haben, denn andernfalls wäre die Revisionsverfügung vom 4. März 2019 sinnlos gewesen. Die laufende Entschädigung bei einer mittelgradigen Hilflosigkeit ist also mit der Verfügung vom 4. Januar 2019 per 1. Februar 2019 auf eine Entschädigung bei einer leichten Hilflosigkeit herabgesetzt worden. Da sich die

Beschwerdeführerin nur gegen diese Herabsetzung der Hilflosenentschädigung gewendet hat, ist die Verfügung vom 13. Dezember 2018 unangefochten in formelle Rechtskraft erwachsen, weshalb ihre Rechtmässigkeit in diesem Verfahren nicht zu prüfen ist. Den Streitgegenstand in diesem Beschwerdeverfahren bildet also allein die revisionsweise Herabsetzung der Hilflosenentschädigung per 1. Februar 2019.

3.

    1. Massgebend für die Höhe der Hilflosenentschädigung ist laut dem Art. 42ter Abs. 1 IVG das Ausmass der persönlichen Hilflosigkeit der versicherten Person. Gemäss dem Art. 37 Abs. 2 IVV liegt eine mittelgradige Hilflosigkeit vor, wenn die versicherte Person trotz der Abgabe von Hilfsmitteln in mindestens vier der sechs alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist wenn sie in mindestens zwei alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter und zusätzlich auf eine dauernde persönliche Überwachung auf eine lebenspraktische Begleitung angewiesen ist. Eine leichtgradige Hilflosigkeit liegt vor, wenn die versicherte Person trotz der Abgabe von Hilfsmitteln in mindestens zwei alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist (Art. 37 Abs. 3 lit. a IVV), wenn sie eine dauernde persönliche Überwachung benötigt (Art. 37 Abs. 3 lit. b IVV), wenn sie eine durch das Gebrechen bedingte ständige und besonders aufwendige Pflege benötigt (Art. 37 Abs. 3 lit. c IVV), wenn sie wegen einer schweren Sinnesschädigung wegen eines schweren körperlichen Gebrechens nur dank regelmässiger und erheblicher Dienstleistungen Dritter gesellschaftliche Kontakte pflegen kann (Art. 37 Abs. 3 lit. d IVV) wenn sie dauernd auf eine lebenspraktische Begleitung angewiesen ist (Art. 37 Abs. 3 lit. e IVV). Bezieht eine versicherte Person gestützt auf eine formell rechtskräftige Verfügung bereits eine Hilflosenentschädigung, ist einer anspruchsrelevanten Sachverhaltsveränderung in einem Revisionsverfahren im Sinne des Art. 17 Abs. 2 ATSG Rechnung zu tragen.

    2. Die Beschwerdeführerin hat gestützt auf die Verfügung vom 30. Oktober 2009 über Jahre hinweg eine Entschädigung bei einer Hilflosigkeit mittleren Grades für Minderjährige bezogen, weil sie beim An- und Auskleiden, bei der Körperpflege, beim Verrichten der Notdurft und bei der Fortbewegung auf eine regelmässige und erhebliche Dritthilfe angewiesen gewesen ist, aber keine dauernde persönliche Überwachung benötigt hat und – als Minderjährige – zum Vorneherein keinen anspruchsrelevanten Bedarf nach einer lebenspraktischen Begleitung hat haben können. Eine summarische Abklärung am Ende des Jahres 2014 hat kein Indiz für eine anspruchsrelevante Sachverhaltsveränderung seit dem 30. Oktober 2009 ergeben,

      weshalb die Beschwerdegegnerin damals auf die Eröffnung eines Revisionsverfahrens verzichtet hat (vgl. die Mitteilung vom 17. Februar 2015). Zu prüfen ist vor diesem Hintergrund, ob zwischen dem 30. Oktober 2009 und dem 4. Januar 2019 (Eröffnung der angefochtenen Verfügung) eine Sachverhaltsveränderung eingetreten ist, die es gerechtfertigt hat, die laufende Entschädigung bei einer Hilflosigkeit mittleren Grades auf eine Entschädigung bei einer Hilflosigkeit leichten Grades herabzusetzen.

    3. Im August 2018 hat die Mutter telefonisch angegeben, die Beschwerdeführerin könne sich nun komplett selbständig an- und ausziehen. Auch die Körperpflege verrichte die Beschwerdeführerin nun – abgesehen von gelegentlichen kleineren Hilfestellungen – selbständig. Schliesslich sei sie mittlerweile auch in der Lage, ihre Notdurft selbständig zu verrichten. Der Vater der Beschwerdeführerin hat diese Angaben unterschriftlich bestätigt, so dass im Ergebnis beide Elternteile angegeben haben, die Beschwerdeführerin sei nur noch bei der Fortbewegung auf eine regelmässige und erhebliche Dritthilfe angewiesen. Das ist überzeugend, weil diese Entwicklung angesichts der medizinischen Entwicklung zu erwarten gewesen ist. Zudem erscheint es angesichts der Tendenz der Eltern zur Überbehütung (vgl. den Hinweis von Dr. D. im August 2008 auf eine entsprechende Tendenz mit einer monatelangen zweistündlichen Überwachung in der Nacht ohne eine entsprechende medizinische Notwendigkeit) als unwahrscheinlich, dass die Eltern den Hilfebedarf der Beschwerdeführerin zu tief eingeschätzt hätten. Damit steht mit dem erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit fest, dass die Beschwerdeführerin im August 2018 nur noch bei der Fortbewegung eine erhebliche und regelmässige Dritthilfe benötigt hat. Infolge der Vollendung des 18. Altersjahres ist aber erstmals auch ein Bedarf nach einer lebenspraktischen Begleitung zu berücksichtigen gewesen (Art. 38 Abs. 1 IVV), der angesichts des Umstandes, dass die Beschwerdeführerin aufgrund ihres Geburtsgebrechens nicht fähig gewesen ist, einen eigenen Haushalt zu führen (Art. 38 Abs. 1 lit. a IVV), dass sie noch immer eine Begleitung für ausserhäusliche Tätigkeiten benötigt hat (Art. 38 Abs. 1 lit. b IVV) und dass es ohne die Mithilfe der Eltern zu einer dauernden Isolation gekommen wäre (Art. 38 Abs. 1 lit. c IVV), ohne weiteres mit dem erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit ausgewiesen ist. Zusammenfassend hat die Beschwerdeführerin also nur noch in einer der sechs alltäglichen Lebensverrichtungen eine erhebliche und regelmässige Dritthilfe sowie – an sich weiterhin, aber erst nach der Vollendung des 18. Altersjahres neu zu berücksichtigen – eine lebenspraktische Begleitung benötigt. Folglich ist sie nur noch leichtgradig und nicht mehr mittelgradig hilflos gewesen, weshalb sich die angefochtene Verfügung, mit der die Beschwerdegegnerin die laufende Hilflosenentschädigung auf eine Entschädigung bei einer Hilflosigkeit leichten

Grades herabgesetzt hat, als rechtmässig erweist. Allerdings muss der Wirkungszeitpunkt korrigiert werden. Die Beschwerdegegnerin hat auf den Art. 88 bis Abs. 2 lit. a IVV verwiesen, der eine Wirkung auf den ersten Tag des zweiten des auf die Zustellung der Verfügung folgenden Monats vorsieht. Wahrscheinlich ist die Beschwerdegegnerin davon ausgegangen, dass sie die Herabsetzungsverfügung früh genug für eine Zustellung noch im Dezember 2018 erlassen könne, womit die Anwendung des Art. 88bis Abs. 2 lit. a IVV zu einer Herabsetzung per 1. Februar 2019 geführt hätte. Die Verfügung ist dann allerdings erst am 4. Januar 2019 ergangen und folglich auch erst im Januar 2019 zugestellt worden, weshalb die Hilflosenentschädigung erst per 1. März 2019 hätte herabgesetzt werden dürfen. Diesbezüglich ist die angefochtene Verfügung in teilweiser Gutheissung der Beschwerde zu korrigieren.

4.

Praxisgemäss gilt dieser Verfahrensausgang hinsichtlich der Kosten- und Entschädigungsfolgen als ein vollständiges Obsiegen der Beschwerdeführerin, weil diese mit ihrem Hauptanliegen – der Korrektur der von ihr als rechtswidrig erachteten Verfügung – vollumfänglich durchgedrungen ist, auch wenn das Ergebnis nicht vollständig ihrem konkreten Beschwerdebegehren entspricht. Die Gerichtskosten von 600 Franken sind folglich der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen. Der Beschwerdeführerin wird der von ihr geleistete Kostenvorschuss zurückerstattet.

Entscheid

im Zirkulationsverfahren gemäss Art. 39 VRP

1.

In teilweiser Gutheissung der Beschwerde wird der Beschwerdeführerin mit Wirkung ab dem 1. März 2019 eine Entschädigung bei einer Hilflosigkeit leichten Grades von 470 Franken monatlich zugesprochen.

2.

Die Beschwerdegegnerin hat die Gerichtskosten von 600 Franken zu bezahlen; der Beschwerdeführerin wird der von ihr geleistete Kostenvorschuss von 600 Franken zurückerstattet.

Quelle: https://www.sg.ch/recht/gerichte/rechtsprechung.html
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