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Urteil Versicherungsgericht (SG)

Kopfdaten
Kanton:SG
Fallnummer:IV 2018/3
Instanz:Versicherungsgericht
Abteilung:IV - Invalidenversicherung
Versicherungsgericht Entscheid IV 2018/3 vom 01.04.2020 (SG)
Datum:01.04.2020
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:Entscheid Art. 28 IVG, Art. 17 Abs 1 ATSG. Aufhebung Rentenanspruch. Die Voraussetzungen für eine revisionsweise Renteneinstellung sind nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung erfüllt, wenn eine Aggravation nach der Rentenzusprache auftritt und der medizinische Gutachter eine Arbeitsunfähigkeit nicht mit dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu bescheinigen vermag (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 1. April 2020, IV 2018/3).
Schlagwörter: Beschwerde; IV-act; Rente; Beschwerdeführer; Psychiatrisch; Psychiatrische; Recht; Beschwerdegegnerin; IV-Stelle; Stellung; Arbeitsfähigkeit; Bundesgericht; Rentenzusprache; Zuverlässig; Abklärung; Medizinisch; Verfügung; Gesundheitszustand; Aggravation; Hinweis; Einschränkung; Medizinische; Sachverhalt; Diagnose; Urteil; Stellungnahme; Zuverlässige; Sicht; Bundesgerichts; Hinweise
Rechtsnorm: Art. 17 ATSG ; Art. 53 ATSG ;
Referenz BGE:133 V 108; 135 V 469; 141 V 281; 141 V 287; 143 V 409;
Kommentar zugewiesen:
Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017
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Entscheid
Entscheid vom 1. April 2020

Besetzung

Präsidentin Marie Löhrer, Versicherungsrichterinnen Michaela Machleidt Lehmann und Marie-Theres Rüegg Haltinner; Gerichtsschreiber Philipp Geertsen

Geschäftsnr. IV 2018/3

Parteien

A. ,

Beschwerdeführer,

vertreten durch Rechtsanwältin Karin Herzog, M.A. HSG in Law, Amparo Anwälte und

Notare, Neugasse 26, Postfach 148, 9001 St. Gallen,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Postfach 368, 9016 St. Gallen,

Beschwerdegegnerin,

Gegenstand

Rentenrevision (Einstellung) Sachverhalt

A.

    1. A. meldete sich am 31. August 2007 zum Bezug von IV-Leistungen an (IV- act. 2). Der behandelnde Dr. med. B. , Facharzt für Allgemeine Medizin FMH,

      berichtete am 22. Oktober 2007, der Versicherte leide an einem lumbospondylogenen Schmerzsyndrom rechtsbetont, einem cervicospondylogenen Schmerzsyndrom rechtsbetont und einer Anpassungsstörung bei Status nach traumatischen Erlebnissen im Heimatland. Die angestammte Reinigungstätigkeit hielt er nicht mehr für zumutbar. Für eine leidensangepasste Tätigkeit bescheinigte er dem Versicherten eine 50%ige Arbeitsfähigkeit (IV-act. 23-1 ff.). Die an der Psychiatrischen Poliklinik am Universitätsspital Zürich zur Abklärung beauftragten Ärzte diagnostizierten eine mittelgradige depressive Episode (ICD-10: F32.11), eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung (ICD-10: F45.4) und einen Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10: F43.1). Die Arbeitsfähigkeit des Versicherten liege gegenwärtig bei ca. 30 bis 40% (Abschlussbericht vom 14. April 2008, IV-act. 31). Gestützt auf den für nachvollziehbar erachteten Bericht der Psychiatrischen Poliklinik beurteilte der RAD-Arzt Dr. med. C. , Facharzt für Allgemeinmedizin, den Versicherten bezogen auf leidensangepasste Tätigkeiten zu 35% arbeitsfähig. Zusätzliche medizinische Abklärungen seien nicht indiziert (Stellungnahme vom 23. Mai 2008, IV-act. 32). Mit Verfügung vom 10. März 2009 sprach die IV-Stelle dem Versicherten mit Wirkung ab 1. August 2007 eine ganze Rente zu (IV-act. 43).

    2. Am 26. Juni 2009 (Datum Dokumenteingang) erhielt die IV-Stelle ein anonymes Schreiben, worin geltend gemacht wurde, der Versicherte sei ein Lügner und müsse unbedingt beobachtet werden (IV-act. 44).

    3. Im Rahmen einer von Amtes wegen eingeleiteten Revision gab der Versicherte am

      11. September 2014 an, sein Gesundheitszustand sei stationär geblieben (IV-act. 53). Am 18. September 2014 (Datum Dokumenteneingang) erhielt die IV-Stelle einen anonymen Hinweis, dass der Versicherte teilweise im Gastro-Reinigungsbereich einer Schwarzarbeit nachgegangen sei (IV-act. 55; siehe auch das Meldeblatt - Hinweis BVM vom 19. September 2014, IV-act. 56). Der behandelnde Dr. med. D. , Spezialarzt für Neurologie, berichtete am 24. September 2014, der Gesundheitszustand des Versicherten sei seit Januar 2009 stationär geblieben (IV-act. 59). Im Verlaufsbericht vom 6. Oktober 2014 gab Dr. B. an, der Gesundheitszustand des Versicherten habe sich eher verschlechtert, insbesondere was die psychische Situation anbelange. Immer wieder komme es zu aggressiven Durchbrüchen, welche sich aber meist verbal äusserten. Die Diagnose habe sich nicht verändert (IV-act. 61). Dr. med. E. , Fachärztin für Neurologie, Mitarbeiterin der IV-Stelle, empfahl eine gutachterliche Reevaluation der Situation (Stellungnahme vom 21. Oktober 2014, IV-act. 64) unter Einbezug fremdanamnestischer Abklärungen über das Aktivitätsniveau des Versicherten in Situationen, in denen er sich unbeobachtet wähne (Stellungnahme vom

      22. Oktober 2014, IV-act. 65).

    4. Im Auftrag der IV-Stelle wurde der Versicherte am 3., 4., 7., 10. und 11. November 2014 durch den F. observiert (siehe den Ermittlungsbericht vom 16. November 2014, IV-act. 69; zur weiteren Observation vom 20. November, 4. und 8. Dezember

      2014 siehe den Nachtragsbericht vom 20. Dezember 2014, IV-act. 71; zu den

      Beobachtungen vom 4. Dezember 2015 vgl. die Aktennotiz vom 17. Dezember 2015, IV-act. 103). Nach der Durchsicht des Observationsmaterials empfahl Dr. E. eine psychiatrisch-rheumatologische Verlaufsbegutachtung. Entgegen seiner Aussage,

      kaum die Wohnung zu verlassen, sei der Versicherte während der Beobachtungszeit an fast allen Tagen bei Aktivitäten ausser Haus gesehen worden. Videografisch festgehaltene Verhalten hätten keine äusserlich erkennbaren Zeichen einer Ängstlichkeit, Verunsicherung, Zerstreutheit oder Vergesslichkeit erkennen lassen. Der Versicherte sei jedoch keiner Schwarzarbeit nachgegangen (Stellungnahme vom 21. Januar 2015, IV-act. 74). Auf Anfrage der IV-Stelle äusserte sich der Versicherte am

      3. Februar 2015 zu seinem Gesundheitszustand und seinen Aktivitäten (IV-act. 75).

    5. Im Rahmen eines Standortgesprächs vom 18. Februar 2015 wurde der Versicherte zu seinem Gesundheitszustand und seinen Alltagsaktivitäten befragt, bevor er mit den Observationsergebnissen konfrontiert wurde (IV-act. 79). Dr. D. kritisierte im Schreiben an die IV-Stelle vom 15. April 2015 deren Vorgehen. Seit den «Verhören» durch die IV-Stelle gehe es dem Versicherten psychisch deutlich schlechter (IV-act. 93). Im Auftrag der IV-Stelle wurde der Versicherte am 11. Mai 2015 von Dr. med. G. , Fachärztin für Psychiatrie und Psychiatrie, sowie am 19. Mai 2015 von Dr. med. H. , Facharzt für Rheumatologie und Innere Medizin FMH, begutachtet. Im bidisziplinären Gutachten vom 11. September 2015 führten die Gutachter aus, die Arbeitsfähigkeit des Versicherten sei aus rheumatologischer Sicht lediglich für körperlich schwere Tätigkeiten bzw. monotonrepetitive Tätigkeiten mit längerdauernden Zwangshaltungen der Wirbelsäule eingeschränkt. Für jegliche leidensangepassten Tätigkeiten bestehe unverändert zur Beurteilung aus dem Jahr 2007 dagegen keine somatisch begründbare Einschränkung der Arbeitsfähigkeit. Dagegen bestehe aus psychiatrischer Sicht weiterhin eine wesentliche Einschränkung der Arbeitsfähigkeit von 60%. Auch psychiatrisch ergebe sich keine Änderung der Beurteilung im Vergleich zur Vorbeurteilung im März 2008. Aus psychiatrischer Sicht solle eine Wiedereingliederung in den Arbeitsprozess im Rahmen der aktuellen Restarbeitsfähigkeit versucht werden. Zusätzlich werde ein Ausbau der medikamentösen Behandlung mit Antidepressiva sowie eine Behandlung mit vor allem psychoedukativen und verhaltenstherapeutischen Massnahmen mit Fokussierung auf Schmerzbewältigung und Traumaverarbeitung empfohlen. Wie sich dies mittel- und langfristig auf die Arbeitsfähigkeit auswirken werde, bleibe abzuwarten. Angesichts der bereits fortgeschrittenen Chronifizierung müsse allerdings von einer eher ungünstigen Prognose ausgegangen werden (IV-

      act. 100, insbesondere S. 19; zum psychiatrischen Teilgutachten vom 7. August 2015

      siehe IV-act. 101).

    6. Dr. E. hielt das rheumatologische Teilgutachten für überzeugend, nicht jedoch das psychiatrische Teilgutachten. Dieses enthalte keine fundierte Ableitung der Diagnosen gemäss ICD-10. Die Konsistenzprüfung sei ungenügend. Deshalb empfahl Dr. E. eine erneute psychiatrische Begutachtung des Versicherten (Stellungnahme vom 12. Februar 2016, IV-act. 104). Am 6. Oktober 2016 erstattete Dr. med. I. , Facharzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, der IV-Stelle ein psychiatrisches

      Gutachten, dem persönliche Untersuchungen vom 10. und 26. Mai 2016 sowie eine neuropsychologische Abklärung vom 22. August 2016 zu Grunde liegen (zum neuropsychologischen Abklärungsbericht vom 21. September 2016 siehe IV-act. 118). Darin führte er aus, bei der Untersuchung hätten sich viele Hinweise auf «Aggravation bis Diskrepanzen» gefunden, sodass letztlich keine zuverlässige Diagnose gestellt werden könne und vor allem auch nicht zuverlässig zu Einschränkungen Stellung genommen werden könne. Das heisse nicht, dass nicht allenfalls ein psychisches Leiden bestehe. Es sei aber unmöglich zu sagen, ob dies tatsächlich der Fall sei und bejahendenfalls wie stark ausgeprägt und vor allem auch, wie stark allfällige Einschränkungen seien. Eingliederungsmassnahmen würden grundsätzlich zumutbar sein. Man müsse aufgrund des Verhaltens des Versicherten bei der Abklärung jedoch schliessen, dass er dazu nicht motiviert sei. Die neuropsychologische Abklärung habe valide Resultate ergeben. Das Leistungsprofil sei unauffällig gewesen. Aufgrund der eingeschränkten Mitwirkung des Versicherten seien aus psychiatrischer Sicht keine zuverlässigen Angaben bezüglich des retrospektiven Verlaufs möglich (IV-act. 119, insbesondere S. 73, 77, 80 und 90 oben). Dr. E. nahm am 23. November 2016 Stellung zum Gutachten von Dr. I. und hielt fest, aufgrund der nicht zuverlässigen Angaben des Versicherten sowie der eingeschränkten Mitwirkung bei der aktuellen Abklärung sei aufgrund der Aktenlage eine zuverlässige Aussage weder über den Gesundheitszustand bei der Rentenzusprache noch über den weiteren Verlauf möglich. Zum heutigen Zeitpunkt könne keine Diagnose mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit gestellt werden. Aus psychiatrischer Sicht bestehe also keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit (IV-act. 120).

    7. Mit Vorbescheid vom 20. Juni 2017 stellte die IV-Stelle dem Versicherten die revisionsweise Einstellung der Rente in Aussicht. Die früher erhobenen psychiatrischen Diagnosen könnten heute nicht mehr gestellt werden. Es seien zur Zeit der ersten Rentenabklärung bei einem äusserst diffusen Krankheitsbild keine zuverlässigen medizinischen Einschätzungen vorgelegen (IV-act. 121). Dagegen erhob der Versicherte am 21. August 2017 Einwand (IV-act. 127; zur ergänzenden Begründung vom 6. Oktober 2017 samt Berichten von Dr. B. vom 24. August 2017 und 20. Mai 2011 siehe IV-act. 129 f.). Am 22. November 2017 verfügte die IV-Stelle die Aufhebung der Rente auf Ende des der Verfügung folgenden Monats (IV-act. 134).

B.

    1. Gegen die Verfügung vom 22. November 2017 richtet sich die vorliegende Beschwerde vom 2. Januar 2018. Der Beschwerdeführer beantragt darin deren Aufhebung und es seien ihm die gesetzlichen Leistungen weiterhin auszurichten; unter Kosten- und Entschädigungsfolge. Zur Begründung stellt er sich im Wesentlichen auf den Standpunkt, dass sich sein Gesundheitszustand seit der Rentenzusprache nicht wesentlich verändert habe, weshalb eine revisionsweise Rentenaufhebung nicht zulässig sei. Die Beschwerdegegnerin habe eine Verbesserung des Gesundheitszustands nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit belegen können (act. G 1).

    2. Die Beschwerdegegnerin beantragt in der Beschwerdeantwort vom 12. März 2018 die Abweisung der Beschwerde. Sie bringt vor, aufgrund der Aggravation habe der Beschwerdeführer die Folgen der Unsicherheit zu tragen. Es seien heute keine relevanten Diagnosen und Funktionseinbussen nachgewiesen. In verfahrensrechtlicher Sicht dürfe also eine Verbesserung des Gesundheitszustands angenommen werden, zumal durch die Observation ein gutes Funktionsniveau dokumentiert sei und auch von einer schwerwiegenden und andauernden Schmerzproblematik nicht mehr ausgegangen werden könne. Zudem seien heute eindeutige Aggravationen dokumentiert, von denen früher nicht berichtet worden sei, was als Indiz für eine Verbesserung gewertet werden könne. Hinzu komme, dass bei der ursprünglichen Rentenzusprache die Abklärungspflicht verletzt worden sei, was eine Wiedererwägung rechtfertige. Demnach sei die Rente zu Recht im Sinn einer Anpassung mit der substituierenden Begründung der Wiedererwägung überprüft und angepasst worden (act. G 4).

    3. In der Replik vom 7. Mai 2018 hält der Beschwerdeführer unverändert an der Beschwerde fest. Er bestreitet, dass die Rentenzusprache auf einer ungenügend medizinisch abgeklärten Situation beruht habe. Zudem rügt er, das Gutachten von Dr. I. stelle eine unzulässige «second opinion» dar (act. G 7).

    4. Die Beschwerdegegnerin hält in der Duplik vom 28. Mai 2018 unverändert an der

      beantragten Beschwerdeabweisung fest. Sie bestreitet, dass das Gutachten von

      Dr. I. den Charakter einer unzulässigen «second opinion» habe (act. G 9).

    5. Am 15. Juni 2018 hat die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers eine Honorarnote eingereicht (act. G 11 und G 11.1).

    6. Mit Schreiben vom 27. September 2019 orientiert das Versicherungsgericht die Parteien über seinen Beschluss, bei Dr. med. J. , Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie, ein psychiatrisches Gerichtsgutachten einzuholen, da der medizinische Sachverhalt nicht spruchreif sei (act. G 15).

    7. Der Beschwerdeführer teilt dem Versicherungsgericht am 14. Oktober 2019 mit, dass keine Einwände gegen die vorgesehene Begutachtung bestünden. Er ersucht, für die Begutachtung eine/einen K. sprechende/r Dolmetscher/in zu berücksichtigen (act. G 16).

    8. In der Eingabe vom 15. Oktober 2019 vertritt die Beschwerdegegnerin den Standpunkt, der Sachverhalt sei spruchreif abgeklärt. Deshalb sei sie mit einer weiteren Begutachtung nicht einverstanden (act. G 17).

    9. Mit Entscheid vom 31. Oktober 2019, IV 2018/3 Z, ordnet das Versicherungsgericht an, Dr. J. werde mit der Erstattung eines psychiatrischen Gerichtsgutachtens zur Beantwortung des im Schreiben vom 27. September 2019 formulierten Fragekatalogs beauftragt (act. G 19). Die dagegen von der Beschwerdegegnerin erhobene Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 11. Dezember 2019 (act.

G 22.1) heisst das Bundesgericht mit Urteil vom 14. Januar 2020, 9C_824/2019,

teilweise gut und es hebt den Zwischenentscheid des Versicherungsgerichts vom

31. Oktober 2019 auf (act. G 25). Hierzu nimmt der Beschwerdeführer am 18. Februar 2020 Stellung (act. G 27). Die Beschwerdegegnerin verzichtet stillschweigend auf eine Stellungnahme.

Erwägungen 1.

Zwischen den Parteien umstritten und nachfolgend zu prüfen ist die von der Beschwerdegegnerin per 31. Dezember 2017 verfügte Rentenaufhebung. In der angefochtenen Verfügung vom 22. November 2017 nahm die Beschwerdegegnerin eine revisionsweise Anpassung des Rentenanspruchs vor (IV-act. 134-3). In der Beschwerdeantwort vom 12. März 2018 hält sie ihr Vorgehen «im Sinne einer

Anpassung (Art. 17 ATSG) mit der substituierenden Begründung der Wiedererwägung (Art. 53 Abs. 2 ATSG)» gerechtfertigt (act. G 4, Rz 12).

2.

Zunächst ist die Frage zu prüfen, ob die Rentenverfügung vom 10. März 2009 (IV- act. 43) einer Wiedererwägung zugänglich ist.

    1. Der Versicherungsträger kann auf formell rechtskräftige Verfügungen und Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese zweifellos unrichtig sind und wenn ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist (Art. 53 Abs. 2 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG; SR 830.1]).

    2. Die Wiedererwägung gemäss Art. 53 Abs. 2 ATSG dient der Korrektur einer anfänglich unrichtigen Rechtsanwendung einschliesslich unrichtiger Feststellung im Sinn der Würdigung des Sachverhalts, insbesondere bei einer klaren Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes. Zweifellose Unrichtigkeit bedeutet, dass kein vernünftiger Zweifel an der (von Beginn weg bestehenden) Unrichtigkeit der Verfügung möglich, also einzig dieser Schluss denkbar ist. Soweit ermessengeprägte Teile der Anspruchsprüfung vor dem Hintergrund der Sach- und Rechtslage einschliesslich der Rechtspraxis im Zeitpunkt der rechtskräftigen Leistungszusprechung in vertretbarer Weise beurteilt worden sind, scheidet die Annahme zweifelloser Unrichtigkeit aus. Bei der Annahme zweifelloser Unrichtigkeit im Bereich der invaliditätsmässigen Leistungsvoraussetzungen ist daher Zurückhaltung geboten. Ansonsten würde die Wiedererwägung zum Instrument einer voraussetzungslosen Neuprüfung des Anspruchs, was sich nicht mit dem Wesen der Rechtsbeständigkeit formell zugesprochener Dauerleistungen verträgt (Urteil des Bundesgerichts vom 20. April 2018, 9C_886/2017, E. 3.2 mit Hinweisen).

    3. Die vorliegende Rentenzusprache erfolgte noch vor dem vom Bundesgericht eingeführten strukturierten normativen Prüfungsraster bzw. strukturierten Beweisverfahren für somatoforme Schmerzstörungen (BGE 141 V 281) und depressive Leiden (BGE 143 V 409), worin u.a. dem Vorliegen von Inkonsistenzen und Aggravation eine besondere Bedeutung zugemessen wird (siehe BGE 141 V 287 f. E. 2.2.1 f.).

    4. In medizinischer Hinsicht stützte sich die Rentenzusprache im Wesentlichen auf den Abschlussbericht der Ärzte der Psychiatrischen Poliklinik am Universitätsspital Zürich vom 14. April 2008. Diese hatten den Beschwerdeführer zuvor siebenmal im Rahmen der Sprechstunde für Migration gesehen. Sie begründeten ausführlich ihre diagnostische Beurteilung (mittelgradige depressive Episode [ICD-10: F32.11];

      anhaltende somatoforme Schmerzstörung [ICD-10: F45.4] und Verdacht auf eine posttraumatische Belastungsstörung [ICD-10: F43.1]) und führten u.a. aus: Phänomenologisch hätten beim Beschwerdeführer neben einer deutlichen Somatisierung in Form von anhaltender somatoformer Schmerzstörung, einer gedrückten Stimmungslage, dem Gefühl der Perspektivenlosigkeit, vor allem eine verminderte Energie, Insuffizienzgefühle und eine Schlafstörung imponiert. Des Weiteren sei der zunehmende soziale Rückzug, vermehrte Angespanntheit und schnelle Reizbarkeit sowie das zunehmende verbale aggressive Verhalten von ihm zu erwähnen. Weiterhin seien die vom Beschwerdeführer vorgetragenen Symptome in Form von Wiedererleben und Vermeidungsverhalten sowie innere Unruhe aufzuführen (IV-act. 31-1). Der Abschlussbericht enthält zudem eine ausführlich begründete Befunderhebung und Anamnese (IV-act. 31-3 f.). Aus rein psychiatrischer Sicht bescheinigten sie dem Beschwerdeführer eine 30 bis 40%ige Arbeitsfähigkeit (IV-

      act. 31-2). Es ist daher plausibel, zumindest jedoch nicht zweifellos unrichtig (vgl. Urteil des Bundesgerichts vom 26. Dezember 2013, 9C_700/2013, E. 4.3.1 am Schluss), dass der RAD-Arzt Dr. C. bei der Würdigung dieser psychiatrischen Einschätzung zum Schluss gelangte, sie sei nachvollziehbar, gestützt darauf sei für leidensangepasste Tätigkeiten von einer 35%igen Arbeitsfähigkeit auszugehen und zusätzliche medizinische Abklärungen seien nicht indiziert (Stellungnahme vom 23. Mai 2008, IV- act. 32). Die Beschwerdegegnerin legt denn auch nicht näher dar, dass die Rentenzusprache bei der damals zu beachtenden Sach- und Rechtslage zweifellos unrichtig gewesen sei bzw. auf einer klaren Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes beruhte. Dass die Ärzte der Psychiatrischen Poliklinik am Universitätsspital Zürich auf eindeutige Formulierungen und das Vortäuschen einer Sicherheit, die es bei der ermessenbehafteten Einschätzung psychischer und psychosomatischer Krankheitsbilder zwangsläufig nicht gibt, verzichteten, sondern ausdrücklich auf die Komplexität der psychischen Situation hinwiesen (IV-act. 31-2 oben), ist entgegen der nicht näher begründeten Auffassung der Beschwerdegegnerin (act. G 4, Rz 1) gerade ein Qualitätsmerkmal einer Expertise (vgl. Urteil des Bundesgerichts vom 19. November 2007, I 961/06, E. 3.1 mit Hinweisen). Die Beschwerdegegnerin legt darüber hinaus auch nicht dar - insbesondere auch nicht Dr. E. in der Stellungnahme vom

      23. November 2016 (IV-act. 120-3) -, weshalb der ausführliche Abschlussbericht, dessen Inhalt versicherungsmedizinisch vom RAD bestätigt wurde, die Voraussetzungen für eine beweiskräftige medizinische Expertise (BGE 125 V BGE 352

      E. 3a mit Hinweisen) nicht erfüllt und das Einholen einer weiteren Expertise - nach der damals massgeblichen Rechtspraxis und entgegen der damaligen RAD-Einschätzung (IV-act. 32) - unabdingbar gewesen wäre. Es kann auch nicht die Rede davon sein, fachmedizinische Abklärungen seien überhaupt nicht oder sie seien unsorgfältig

      durchgeführt worden (vgl. Urteil des Bundesgerichts vom 26. Dezember 2013, 9C_700/2013, E. 4.3.4).

    5. Die Verfügung vom 10. März 2009 ist somit vor der Sach- und Rechtslage, wie sie bei Erlass der Verfügung bestand, nicht als offensichtlich unrichtig zu beurteilen, womit auf diese nicht wiedererwägungsweise zurückgekommen werden kann. Daran ändert nichts, dass die damalige Rentenzusprache nach heutigen Massstäben - insbesondere unter dem Aspekt einer objektiv-kritischen Konsistenz- und Ressourcenprüfung (BGE 141 V 281 und BGE 143 V 409) - allenfalls nicht in allen Teilen zu überzeugen vermag (zur massgeblichen Sach- und Rechtslage sowie Rechtspraxis siehe vorstehende

E. 2.2).

3.

Zu prüfen bleibt damit, ob die Rentenaufhebung gestützt auf eine Anpassung im Sinn von Art. 17 Abs. 1 ATSG zulässig ist. Die Beschwerdegegnerin hält eine solche vorliegend für zulässig, da heute klare Hinweise auf eine Aggravation bestünden. Diese Umstände liessen eine Verbesserung der Befunde und des Gesundheitszustands annehmen. Es sei keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit mehr nachgewiesen (IV- act. 134).

    1. Ändert sich der Invaliditätsgrad einer Rentenbezügerin oder eines Rentenbezügers erheblich, so wird die Rente von Amtes wegen oder auf Gesuch hin für die Zukunft entsprechend erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben (Art. 17 Abs. 1 ATSG). Die Frage, ob im Spektrum der anspruchserheblichen Tatsachen eine zur Anpassung des Rentenanspruchs führende Veränderung eingetreten ist, beurteilt sich im Vergleich mit den Verhältnissen zur Zeit der letzten rechtskräftigen Verfügung, die auf einer materiellen Prüfung des Rentenanspruchs mit rechtskonformer Sachverhaltsabklärung, Beweiswürdigung und Durchführung eines Einkommensvergleichs beruht (BGE 133 V 108). Ein früher nicht gezeigtes Verhalten der versicherten Person kann gemäss der bundesgerichtlichen Rechtsprechung unter Umständen eine im Sinn von Art. 17 Abs. 1 ATSG relevante Tatsachenänderung darstellen, wenn es sich auf den Invaliditätsgrad und damit auf den Umfang des Rentenanspruchs auszuwirken vermag. Dies trifft etwa zu bei Versicherten mit einem Beschwerdebild im Sinn von BGE 141 V 281, wenn ein Ausschlussgrund vorliegt, d.h. die Leistungseinschränkung auf Aggravation oder einer ähnlichen Konstellation beruht, die eindeutig über die blosse (unbewusste) Tendenz zur Beschwerdenausweitung und -verdeutlichung hinausgeht (Urteil des Bundesgerichts vom 11. Oktober 2019, 8C_380/2019. E. 4.1 und E. 4.4).

    2. In medizinischer Hinsicht liegt der Rentenzusprache bzw. der Verfügung vom

      10. März 2009 der Abschlussbericht der Ärzte der Psychiatrischen Poliklinik am Universitätsspital Zürich vom 14. April 2008 zugrunde, worin dem Beschwerdeführer eine Restarbeitsfähigkeit von 30 bis 40% bescheinigt wurde. Darin werden - namentlich im Rahmen der diagnostischen Beurteilung - keine Hinweise auf Diskrepanzen, Inkonsistenzen oder eine Aggravation beschrieben (eingehend zum Inhalt der diagnostischen Beurteilung siehe vorstehende E. 2.4 und IV-act. 31-1).

    3. Demgegenüber ergibt sich aus dem psychiatrischen Gutachten von Dr. I. vom

6. Oktober 2016, auf das sich die Beschwerdegegnerin für die Rentenaufhebung stützt,

ein anderes Bild.

      1. Bezüglich des Beweiswerts dieses Gutachtens führte das Versicherungsgericht im Zwischenentscheid vom 31. Oktober 2019, IV 2018/3 Z, E. 2.1 ff. verschiedene Umstände an, die im Sinn von BGE 135 V 469 f. E. 4.4 ernsthafte Zweifel begründen würden, weshalb es beschloss, ein psychiatrisches Gerichtsgutachten in Auftrag zu geben (act. G 19). Demgegenüber verwarf das Bundesgericht in seinem Urteil vom

        14. Januar 2020, 9C_824/2019, die Betrachtungsweise der fehlenden Spruchreife und hob den Zwischenentscheid ersatzlos auf (act. G 25). Damit ist es dem Versicherungsgericht entgegen dem Antrag des Beschwerdeführers (vgl. act. G 27) nicht möglich, dennoch ein Gerichtsgutachten in Auftrag zu geben. Vielmehr hat es für das vorliegende Verfahren von der Beweiskraft der Beurteilung von Dr. I. auszugehen, da gemäss Bundesgericht nicht ausreichend konkrete Indizien gegen seine Zuverlässigkeit vorliegen.

      2. Dr. I. sah sich offenbar «aufgrund der eingeschränkten Mitwirkung» des Beschwerdeführers nicht in der Lage, «zuverlässige Angaben» zum Gesundheitsverlauf ab dem 10. März 2009 zu machen (IV-act. 119-89 f.). Die grosse Schwierigkeit bei der psychiatrischen Diagnostik sei die Tatsache, dass man sich dabei weitgehend auf subjektive Angaben der Exploranden abstützen müsse, die nicht nachprüfbar seien. Auch die Verhaltensbeobachtung lasse keine absolut zuverlässigen Rückschlüsse zu, weil auch das Verhalten gegebenenfalls bei der Untersuchung von den Exploranden manipuliert werden könne. Man sei darum darauf angewiesen, dass die subjektiven Angaben der Exploranden zuverlässig seien und das Verhalten während der Untersuchung authentisch sei. Im Fall des Beschwerdeführers sei dies aber

        «weitgehend nicht der Fall. Es finden sich bei der Untersuchung Hinweise auf Aggravation bis Diskrepanzen, sodass letztlich keine zuverlässige Diagnose gestellt werden kann und vor allem auch nicht zuverlässig zu Einschränkungen Stellung

        genommen werden kann». Das heisse nicht, dass nicht allenfalls ein psychisches Leiden bestehe. Es sei aber «unmöglich» zu sagen, ob dies tatsächlich der Fall sei, wenn ja, wie stark ausgeprägt und vor allem auch, wie stark allfällige Einschränkungen seien. In dieser unklaren Situation sei es ihm «nicht möglich», eine Diagnose zu stellen oder zu Einschränkungen Stellung zu nehmen (IV-act. 119-73). Der Umstand, dass nach der Sicht von Dr. I. (im Gegensatz zum der Rentenzusprache zugrunde liegenden Sachverhalt) neu Widersprüche und Aggravationstendenzen bestünden, begründet nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts (siehe vorstehende E. 3.1) im vorliegenden Fall eine revisionsrelevante Sachverhaltsänderung.

      3. Daran vermag die abweichende Arbeitsfähigkeitsschätzung von Dr. G. nichts zu ändern, da deren Expertise nicht beweiskräftig ist, wie das Versicherungsgericht bereits im Zwischenentscheid vom 31. Oktober 2019, IV 2018/3 Z, E. 3, darlegte (act. G 19). Darauf wird verwiesen.

      4. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung muss die vorliegende Sachverhaltskonstellation, in welcher der Gutachter wegen der nach der Rentenzusprache aufgetretenen Aggravation eine Arbeitsunfähigkeit nicht mehr mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu bescheinigen vermag, zur Folge haben, dass der bisherige Rentenanspruch des Beschwerdeführers revisionsweise auf Ende des der Zustellung der Revisionsverfügung folgenden Monats eingestellt wird (siehe etwa das Urteil des Bundesgerichts vom 11. Oktober 2019, 8C_380/2019, E. 4 und E. 5). Ob eine tatsächliche gesundheitliche Verbesserung ausgewiesen ist, was der Beschwerdeführer verneint (act. G 27), kann deshalb offenbleiben.

4.

    1. Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen.

    2. Das Beschwerdeverfahren ist kostenpflichtig. Die Kosten werden nach dem Verfahrensaufwand und unabhängig vom Streitwert im Rahmen von Fr. 200.-- bis Fr. 1'000.-- festgelegt (Art. 69 Abs. 1bis IVG). Eine Gerichtsgebühr von Fr. 600.--

      erscheint als angemessen. Der Beschwerdeführer hat ausgangsgemäss die gesamte Gerichtsgebühr von Fr. 600.-- zu bezahlen. Der von ihm geleistete Kostenvorschuss von Fr. 600.-- ist ihm daran anzurechnen.

    3. Ausgangsgemäss hat der Beschwerdeführer keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung.

Entscheid

im Zirkulationsverfahren gemäss Art. 39 VRP

1.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.

Der Beschwerdeführer hat eine Gerichtsgebühr von Fr. 600.-- zu bezahlen. Der von ihm

geleistete Kostenvorschuss von Fr. 600.-- wird ihm daran angerechnet.

Quelle: https://www.sg.ch/recht/gerichte/rechtsprechung.html
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