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Urteil Versicherungsgericht (SG - IV 2017/176)

Zusammenfassung des Urteils IV 2017/176: Versicherungsgericht

Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen forderte von A. Rückzahlungen von insgesamt Fr. 310'408.-- für unrechtmässig erhaltene Invalidenrenten und Verzugszinsen. A. wurde des Betrugs schuldig gesprochen und zu einer Ersatzforderung von Fr. 258'944.-- verurteilt. A. erhob Beschwerde gegen die Rückforderung, die jedoch abgewiesen wurde. Es wurde festgestellt, dass die Rückforderung gerechtfertigt ist und die Verjährungsfristen eingehalten wurden. Die Gerichtskosten wurden nicht erhoben, und der Staat übernimmt die Kosten für A.s Rechtsvertretung in Höhe von Fr. 1'696.45.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts IV 2017/176

Kanton:SG
Fallnummer:IV 2017/176
Instanz:Versicherungsgericht
Abteilung:IV - Invalidenversicherung
Versicherungsgericht Entscheid IV 2017/176 vom 27.02.2020 (SG)
Datum:27.02.2020
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:Entscheid Art. 25 Abs. 1 und 2 ATSG. Relative und absolute Verwirkungsfrist eines Rückforderungsanspruchs bei deliktischem Erwirken einer Rente. Dass strafrechtlich auf eine Ersatzforderung (wohl gemäss Art. 71 Abs. 1 StGB) in einem geringeren Betrag (als jenem der sozialversicherungsrechtlichen Rückforderung) erkannt worden ist, vermag an der Tatsache des ungerechtfertigten sozialversicherungsrechtlichen Leistungsbezugs der gesamten Summe und an der grundsätzlichen entsprechenden verwaltungsrechtlichen Rückerstattungspflicht im gesamten Betrag nichts zu ändern. Eine Doppelzahlungspflicht muss allerdings ausgeschlossen werden (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 27. Februar 2020, IV 2017/176).
Schlagwörter: Rückforderung; Rente; Leistung; Renten; Verfügung; Leistungen; Staat; Recht; Urteil; Kantons; Rückerstattung; Verwirkung; IV-Stelle; Gallen; Observation; Staatsanwaltschaft; Verzugszinsen; Verwirkungsfrist; Zahlung; Klage; Ersatzforderung; Bundesgericht; Entscheid; Verfahren; Betrag; Betrug
Rechtsnorm: Art. 122 StPO ;Art. 123 ZPO ;Art. 146 StGB ;Art. 25 ATSG ;Art. 71 StGB ;
Referenz BGE:119 V 431; 133 V 579; 138 V 74; 140 V 521;
Kommentar:
-

Entscheid des Verwaltungsgerichts IV 2017/176

Entscheid vom 27. Februar 2020

Besetzung

Versicherungsrichterinnen Karin Huber-Studerus (Vorsitz) und Monika Gehrer-Hug und Versicherungsrichter Ralph Jöhl; Gerichtsschreiberin Fides Hautle

Geschäftsnr. IV 2017/176

Parteien

A. ,

Beschwerdeführerin,

vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Adrian Fiechter, Anwalt und Beratung GmbH,

Poststrasse 6, Postfach 239, 9443 Widnau,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Postfach 368, 9016 St. Gallen,

Beschwerdegegnerin, Gegenstand Rückforderung Sachverhalt

A.

    1. A. wurde mit Verfügungen vom 11. November 2009 ab 1. September 2006 eine ganze Invalidenrente samt einer Kinderrente zugesprochen. Es wurden ihr für die Zeit bis 31. Oktober 2009 eine Nachzahlung von Fr. 115'378.--, eine Verzugszinszahlung von Fr. 5'852.-- und die laufende Monatsleistung für November 2009 von Fr. 3'115.-- ausgerichtet. Für die Zeit ab 1. September 2008 sprach ihr die Sozialversicherungsanstalt/IV-Stelle des Kantons St. Gallen eine weitere Kinderrente zu (Nachzahlung bis Oktober 2009 Fr. 12'352.--, laufende Monatsleistung Fr. 890.--).

    2. Mit Verfügung vom 6. August 2013 stellte die Sozialversicherungsanstalt/IV-Stelle die Rentenleistungen vorsorglich ein und entzog einer Beschwerde die aufschiebende Wirkung. Nach einer anlässlich einer amtlichen Revision erfolgten psychiatrischen Begutachtung vom Februar 2012 sei eine Observation veranlasst worden. Da davon ausgegangen werden müsse, dass bei der Versicherten seit langem eine Arbeitsfähigkeit vorliege, habe die IV-Stelle am . Januar 2013 eine Strafklage erhoben. Das Beweisergebnis lasse keinen anderen Schluss zu, als dass die Versicherte die Rente zu Unrecht erwirkt habe, und versuche, weitere Leistungen unrechtmässig zu erwirken. Die Interessenabwägung zwischen ihrem Interesse an Akteneinsicht und Weiterausrichtung der Leistung und den Interessen der IV-Stelle,

      einerseits keine Leistungen erbringen zu müssen, die wahrscheinlich nicht geschuldet seien und deren Rückforderung uneinbringlich wäre, und anderseits das Strafverfahren nicht zu beeinträchtigen, müsse daher zu Lasten der Versicherten ausfallen.

    3. Mit Vorbescheid vom 10. Juli 2015 stellte die Sozialversicherungsanstalt/IV-Stelle des Kantons St. Gallen der Versicherten die Aufhebung der Verfügung vom

      11. November 2009 und die Feststellung in Aussicht, dass sie keinen Anspruch auf eine Rente habe. Am 18. September 2015 erging die entsprechende Verfügung.

    4. Nachdem die am 28. September 2015 gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde am 12. Januar 2016 vorbehaltlos zurückgezogen worden war, wurde das Beschwerdeverfahren am 14. Januar 2016 abgeschrieben.

    5. Inzwischen war die Versicherte mit Entscheid des zuständigen Kreisgerichts vom

      2015 des Betrugs und des Betrugsversuchs für schuldig erklärt worden. Unter anderem wurde auf eine Ersatzforderung des Staates im Betrag von Fr. 258'944.-- erkannt.

    6. Mit Mitteilung vom 24. November 2016 (im Sinn eines Vorbescheids) gab die IV- Stelle des Kantons St. Gallen dem Rechtsvertreter der Versicherten bekannt, es würden von der Versicherten für die Zeit vom 1. September 2006 bis 31. Juli 2013

Fr. 310'408.-- zurückgefordert. Angesichts der Verurteilung sei die Verjährungsfrist von 15 Jahren massgebend, weshalb die gesamte Forderung zu leisten sei bzw. die gesamten Leistungen zurückzuerstatten seien. - Am 4. April 2017 verfügte die IV-Stelle wie angekündigt. Das Erlassgesuch der Versicherten vom 22. Dezember 2016 wies die IV-Stelle am 19. April 2017 ab.

B.

Gegen die Verfügung vom 4. April 2017 richtet sich die von Rechtsanwalt lic. iur. Adrian Fiechter für die Betroffene am 10. Mai 2017 erhobene Beschwerde. Der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin beantragt, die angefochtene Verfügung sei aufzuheben und die Sache sei zur Neubeurteilung unter Gewährung des rechtlichen Gehörs an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen, eventualiter sei die Rückforderung auf

Fr. 258'944.-- zu reduzieren. Ausserdem sei der Beschwerdeführerin die unentgeltliche Rechtspflege und Rechtsverbeiständung zu bewilligen. Obwohl sich die Beschwerdegegnerin auf das Strafurteil beziehe, habe sie einen viel (nämlich um

Fr. 51'464.--) höheren Rückforderungsbetrag festgesetzt. Der Grund sei nicht nachvollziehbar.

C.

In ihrer Beschwerdeantwort vom 26. Juni 2017 beantragt die Beschwerdegegnerin die Abweisung der Beschwerde. Im Sinn einer reformatio in peius sei die angefochtene Verfügung zu korrigieren und der Rückforderungsbetrag auf Fr. 316'260.-- festzusetzen. Nach Eingang des Observationsberichts im Mai 2012 habe sie (die Beschwerdegegnerin) weitere Abklärungen vorgenommen. Insbesondere habe sie eine Beurteilung eines Arztes eingeholt, der die Beschwerdeführerin früher (zu Beginn des Jahres 2012) begutachtet gehabt habe. Nachdem ein konkreter Betrugsverdacht vorgelegen habe, sei die Strafanzeige erfolgt. Am . Juni 2013 habe die Staatsanwaltschaft mitgeteilt, die Beschwerdeführerin sei in Kenntnis des Strafverfahrens. Daraufhin habe die Beschwerdegegnerin nach vorgängiger Anhörung am 29. Juli 2013 die vorsorgliche Renteneinstellung angeordnet. Am 2015 habe die Staatsanwaltschaft die Beschwerdeführerin angeklagt. Das Kreisgericht habe sich in betraglicher Hinsicht an der Anklageschrift orientiert, die nur die bis Mai 2012 geflossenen Renten als Gegenstand des vollendeten Betrugs zur Anklage gebracht habe. Für die Zeit nach dem Eingang des Observationsberichts im Mai 2012 habe die Staatsanwaltschaft praxisgemäss angenommen, die Beschwerdegegnerin habe sich nicht mehr geirrt, weshalb kein vollendeter Betrug mehr angenommen werden könne. Für die später erbrachten Leistungen sei nur noch ein Versuch anzunehmen. Die Beschwerdegegnerin habe jedoch tatsächlich noch bis Juli 2013 Leistungen erbracht. Die vorsorgliche Einstellung sei unverzüglich erfolgt, nachdem das Geheimhaltungsinteresse der Staatsanwaltschaft Ende Juni 2013 weggefallen sei. Eine frühere Renteneinstellung sei nicht möglich gewesen, weil sonst die Abklärungen der Staatsanwaltschaft gefährdet worden wären und wichtige Beweismittel nicht hätten sichergestellt werden können. Die Differenz erkläre sich also durch die Summe der ab Juni 2012 noch erbrachten Leistungen. Bei der Prüfung der Berechnung habe sich gezeigt, dass die Ausgleichskasse es versehentlich unterlassen habe, auch die Verzugszinsen in der Höhe von Fr. 5'852.-- zurückzufordern.

D.

Am 3. Juli 2017 ist dem Gesuch um Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege

(Bewilligung der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung) entsprochen worden.

E.

Mit Replik vom 4. September 2017 bestätigt der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin die Anträge mit Ausnahme des Rückweisungsgesuchs. Obwohl sich die Vorwürfe der Beschwerdegegnerin gegen die Beschwerdeführerin im Wesentlichen auf die Ergebnisse der Observation stützten, habe die Beschwerdegegnerin nach deren Vorliegen Ende Mai 2012 bis zur Erhebung der Strafklage am . Januar 2013 noch fast ein ganzes Jahr gewartet. Sie hätte jedoch bereits vorher eine vorsorgliche Renteneinstellung verfügen können, denn gemäss Anklageschrift habe sie schon einen Täuschungsverdacht gehabt. Stattdessen habe sie bis im Juni 2013 noch weitere Rentenbeträge von zusammen Fr. 53'204.-- ausbezahlt und die vorsorgliche Einstellung erst am 6. August 2013 verfügt. Es könne nicht sein, dass das Versäumnis der Beschwerdegegnerin, die vorsorgliche Einstellung bei Eintreten des Täuschungsverdachts sofort zu verfügen, der Beschwerdeführerin zur Last gelegt werde. Sie sei nach wie vor gesundheitlich angeschlagen und finanziell nicht in der Lage, den Rückforderungsbetrag zurückzuerstatten. Es sei auch nicht ersichtlich, weswegen so lange ein Geheimhaltungsinteresse bestanden haben sollte. Gegen die Beschwerdeführerin seien bereits im Juni 2013 diverse Zwangsmassnahmen angeordnet worden. Inwiefern bei einer (früheren) vorsorglichen Renteneinstellung wichtige Beweismittel nicht hätten sichergestellt werden können, habe die Beschwerdegegnerin mit dieser vagen Behauptung offen gelassen. Insbesondere sei fraglich, welche Verdunkelungshandlungen die Beschwerdeführerin im Zusammenhang mit dem Haus [...] hätte begehen können, das angeblich durch die Rentenzahlungen finanziert worden sei, von welchem Vorwurf die Beschwerdeführerin aber freigesprochen worden sei. Die Beschwerdegegnerin stütze sich ausserdem auf die Anklageerhebung, während aber der Strafentscheid entscheidrelevant sei. Das sei rechtsstaatlich nicht vertretbar. Eine Verzugszinspflicht auf allfälligen Rückerstattungs­ forderungen von Leistungen (sogenannte Vergütungszinsen) bestehe nicht.

F.

In ihrer Duplik vom 18. September 2017 bringt die Beschwerdegegnerin vor, es werde versucht, die Beschwerdegegnerin als säumig darzustellen, doch das sei sie in keiner Weise gewesen. Aus der Tatsache, dass die Beschwerdegegnerin nach der Erstattung der Strafanzeige zugewartet habe, bis aus Sicht der Staatsanwaltschaft kein Geheimhaltungsinteresse mehr bestanden habe, könne die Beschwerdeführerin nichts zu ihren Gunsten ableiten. Die Staatsanwaltschaft habe umfangreiche Beweise erhoben, unter anderem mittels polizeilicher Observation und einer Hausdurchsuchung.

Gerade das bei letzterer sichergestellte umfangreiche Foto- und Videomaterial habe eine rückblickende Beurteilung der Sache ermöglicht. Hierauf habe sich die Verfügung vom 18. September 2015 wesentlich gestützt. Eine vorsorgliche Einstellung schon nach Eintreffen des Observationsberichts im Mai 2012 dagegen hätte die Sachverhaltsabklärung sabotiert, weil die Beschwerdeführerin allen Grund gehabt hätte, Beweismittel zu beseitigen. Mit einem solchen Vorgehen hätte die Beschwerdegegnerin somit indirekt gegen ihren Abklärungsauftrag verstossen. Die Beschwerdeführerin habe auch die Verzugszinsen auf den Rentennachzahlungen zurückzuerstatten.

Erwägungen

1.

    1. Mit der im Streit liegenden Verfügung vom 4. April 2017 hat die Beschwerdegegnerin für die Zeit vom 1. September 2006 bis 31. Juli 2013 Invalidenrenten (samt IV-Kinderrenten) im Betrag von Fr. 310'408.-- von der Beschwerdeführerin zurückgefordert. In ihrer Beschwerdeantwort vom 26. Juni 2017 beantragt die Beschwerdegegnerin im Sinn einer reformatio in peius eine Rückforderung von total Fr. 316'260.--. - Die Erlassfrage bildet vorliegend nicht Streitgegenstand (sondern im Verfahren IV 2017/94), ist sie doch erst zu prüfen, wenn die Rechtsbeständigkeit der Rückforderung feststeht (vgl. Bundesgerichtsurteil vom 2. Juli 2015, 9C_466/2014).

    2. Es ist keine Verletzung des rechtlichen Gehörs erfolgt, welche eine Aufhebung der

angefochtenen Verfügung aus formellen Gründen rechtfertigen würde.

2.

    1. Unrechtmässig bezogene Leistungen sind zurückzuerstatten (Art. 25 Abs. 1 ATSG).

    2. Gemäss der Verfügung vom 18. September 2015, die durch Abschreibung des Beschwerdeverfahrens am 14. Januar 2016 rechtskräftig wurde, steht fest, dass die Beschwerdeführerin (bis dahin) noch nie einen (rechtmässigen) Rentenanspruch hatte (die ursprüngliche Rentenzusprache ist aufgehoben worden). Die Beschwerdeführerin bezog demnach alle IV-Rentenleistungen ab 1. September 2006 (bis 31. Juli 2013) und die Verzugszinsen (von Fr. 5'862.--) zu Unrecht. Der Betrag der ausbezahlten Leistungen (einschliesslich der Beschwerdeführerin ausgerichtete Verzugszinsen) stellt

      sich gemäss der Beschwerdegegnerin auf Fr. 316'260.--, ohne Verzugszinsen auf Fr. 310'408.--, was nicht zu beanstanden ist.

    3. Dass strafrechtlich auf eine Ersatzforderung (wohl gemäss Art. 71 Abs. 1 StGB) von lediglich Fr. 258'944.-- (für vollendete Straftat, Leistungen bis 31. Mai 2012) erkannt worden ist, vermag an der Tatsache des ungerechtfertigten sozialversicherungsrechtlichen Leistungsbezugs der gesamten oben genannten Summe an Rentenleistungen und Verzugszinsen und an der grundsätzlichen entsprechenden verwaltungsrechtlichen Rückerstattungspflicht im gesamten Betrag von Fr. 316'260.-- (zur Rückerstattungspflicht der Verzugszinsen aber unten E. 3.2.7)

nichts zu ändern. Denn die betreffende strafrechtliche Anordnung einer Ersatzforderung basiert nicht etwa auf einem adhäsionsweise beurteilten zivilrechtlichen Anspruch der Beschwerdegegnerin. Öffentlich-rechtliche Ansprüche können nicht adhäsionsweise im Strafprozess geltend gemacht werden und zählen nicht zu den Zivilansprüchen im Sinn von Art. 122 Abs. 1 StPO (vgl. Bundesgerichtsurteil vom 22. März 2019, 6B_1324/2018/6B_22/2019 E. 5.1; Entscheid des Kantonsgerichts des Kantons

St. Gallen, Strafkammer, vom 12. August 2014, ZS.2014.11, publiziert auf https:// publikationen.sg.ch/rechtsprechung-gerichte-detail/1945/, besucht am 27. Februar 2020; vgl. Donatsch/Hansjakob/Lieber [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, N 5 zu Art. 122 StPO). Um solche öffentlich-rechtlichen Ansprüche handelt es sich aber beim sozialversicherungsrechtlichen Rückforderungsanspruch der Beschwerdegegnerin nach Art. 25 ATSG. - Auch anderweitig ist kein relevanter Einfluss der Anordnung einer Ersatzforderung des Staates auf die vorliegende Streitsache anzunehmen. Sowohl eine Beschränkung der sozialversicherungsrechtlichen Forderung wie eine Doppelzahlungspflicht müssen ausgeschlossen werden. Nach Eintritt der Rechtskraft des Strafurteils bestehen denn auch aus strafrechtlichem Blickwinkel betrachtet gemäss einem Entscheid des Kantonsgerichts des Kantons St. Gallen, Strafkammer, vom 4. Mai 2017 (ST.2016.77

E. 1b.cc, publiziert auf https://publikationen.sg.ch/rechtsprechung-gerichte-detail/ 2636/, besucht am 27. Februar 2020) die verwaltungsrechtliche Rückforderung und die strafrechtliche Ersatzforderung nebeneinander. Sobald der Beschuldigte die strafrechtliche Ersatzforderung des Staates befriedigt, sind diese Zahlungen - zwecks Vermeidung einer doppelten Inanspruchnahme - an die verwaltungsrechtliche Rückerstattungsforderung anzurechnen. Sollte der Beschuldigte hingegen der Rückerstattungsverfügung [in casu: der Sozialhilfe] nachkommen, so reduziert sich die strafrechtliche Ersatzforderung im Umfang der Rückerstattung.

3.

3.1. Der Rückforderungsanspruch erlischt mit dem Ablauf eines Jahres, nachdem die Versicherungseinrichtung davon Kenntnis erhalten hat, spätestens aber mit dem Ablauf von fünf Jahren nach der Entrichtung der einzelnen Leistung. Wird der Rückerstattungsanspruch aus einer strafbaren Handlung hergeleitet, für welche das Strafrecht eine längere Verjährungsfrist vorsieht, so ist diese Frist massgebend (Art. 25 Abs. 2 ATSG).

3.2.

      1. Was die relative einjährige Verwirkungsfrist betrifft, ist nach der Rechtsprechung unter der Wendung "nachdem die Versicherungseinrichtung davon Kenntnis erhalten hat" der Zeitpunkt zu verstehen, in dem die Verwaltung bei Beachtung der ihr zumutbaren Aufmerksamkeit hätte erkennen müssen, dass die Voraussetzungen für eine Rückerstattung bestehen, mit andern Worten, in welchem sich der Versicherungsträger hätte Rechenschaft geben müssen über Grundsatz, Ausmass und Adressat des Rückforderungsanspruchs (vgl. Bundesgerichtsurteil vom 17. Oktober 2017, 9C_559/2017 E. 2, BGE 140 V 521 E. 2.1).

      2. Das Bundesgericht hat indessen auch wiederholt erkannt, es sei nicht bundesrechtswidrig, zuverlässige Kenntnis von der Rechtswidrigkeit des Leistungsbezugs erst nach Eintritt der Rechtskraft der Rentenaufhebung (bzw. - herabsetzung) anzunehmen (vgl. Bundesgerichtsurteile vom 29. November 2016, 8C_601/2016 und 8C_602/2016 E. 7.2.2; vom 26. August 2016, 8C_85/2016 E. 7.4;

        vom 23. März 2015, 8C_642/2014 E. 3.2; und vom 19. Dezember 2014, 8C_640/2014

        E. 3.3). Die relative, einjährige Verwirkungsfrist beginnt demnach frühestens an dem Tag zu laufen, an dem die der Rückforderung zugrunde liegende Korrekturverfügung rechtskräftig geworden ist. An diesem Tag hat der Versicherungsträger definitiv Kenntnis von allen Einzelheiten des Rückforderungsanspruchs, so dass in diesem Zeitpunkt auch die Voraussetzungen des Art. 25 Abs. 2 ATSG für die Auslösung der einjährigen Verwirkungsfrist erfüllt sind (vgl. Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 16. November 2016, IV 2014/559 E. 2.2).

      3. Gemäss dieser Rechtsprechung ist die relevante fristauslösende Kenntnis

        vorliegend am 14. Januar 2016 (bei Rechtskraft der Korrekturverfügung) anzunehmen.

      4. Die Einwände, wonach die Beschwerdegegnerin früher in einem Kenntnisstand gewesen sei, der es erlaubt hätte, die Rente vorsorglich abschliessend

        einzustellen, vermögen hieran nichts zu ändern. In einem Urteil vom 16. Mai 2011 (9C_68/2011 E. 4.2) entschied das Bundesgericht betreffend einen Sachverhalt mit Observation, die Sichtung des entsprechenden Materials, das belegt habe, dass der (dort betroffene) Versicherte trotz Gesundheitsschadens und voller Invalidität verschiedene Sportarten habe ausüben können, habe der Verwaltung noch keine zuverlässige Kenntnis von einem unrechtmässigen Rentenbezug verschafft. Auch in der Tatsache, dass vorinstanzlich für den Beginn des Fristenlaufs nicht auf die Kenntnisnahme von einer medizinischen Begutachtung durch die Verwaltung abgestellt worden sei, liege keine Bundesrechtsverletzung. Das hat auch vorliegend zu gelten. Der (blosse) Verdacht, den die Beschwerdegegnerin schon längst vor der Verfügung zur rückwirkenden Aufhebung des Rentenanspruchs vom September 2015 gehegt hatte (die Staatsanwaltschaft datiert das Aufkommen eines relevanten Verdachts bei der Beschwerdegegnerin gemäss der Anklageschrift auf den Zeitpunkt des Zugangs der Ergebnisse der von der Beschwerdegegnerin veranlassten Observation Ende Mai 2012), genügt nach dem Dargelegten nicht, die einjährige relative Verwirkungsfrist für eine Rückforderung der Leistungen auszulösen. Es bleibt vielmehr bei der Fristauslösung durch Eintritt der Rechtskraft der Verfügung einer prozessualen Revision mit Aufhebung der Rente ex tunc vom 14. Januar 2016.

      5. Fristwahrend ist in der Invalidenversicherung nicht erst der Erlass der Rückforderungsverfügung, sondern unter der Herrschaft des Vorbescheidverfahrens bereits der Vorbescheid (vgl. BGE 119 V 431 E. 3c, BGE 133 V 579 E. 4.3.1).

      6. Den Vorbescheid ("Mitteilung") über die Rückforderung von Fr. 310'408.-- Rentenleistungen hat die Beschwerdegegnerin mit Datum vom 24. November 2016 zugestellt. Die einjährige relative Verwirkungsfrist ist daher diesbezüglich eingehalten.

      7. Mit der Beschwerdeantwort vom 26. Juni 2017 macht die Beschwerdegegnerin eine Erhöhung der Rückforderung um Fr. 5'852.-- Verzugszinsen geltend. Diese ergänzende Rückforderung ist allerdings (angesichts des Beginns der einjährigen relativen Verwirkungsfrist am 14. Januar 2016) als verwirkt zu betrachten. Die Verjährungsfrist ist nur für den Betrag von Fr. 310'408.-- eingehalten.

3.3.

      1. Bei der absoluten Verwirkungsfrist ist zu beachten, dass die Ausnahmeregelung des Art. 25 Abs. 2 zweiter Satz ATSG nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts bezweckt, die Vorschriften des Sozialversicherungs- und des Strafrechts im Bereich der Verjährung zu harmonisieren. Es soll vermieden werden, dass der

        sozialversicherungsrechtliche Anspruch verwirkt, bevor die Verfolgungsverjährung des Strafrechts eintritt; denn es erschiene unbefriedigend, wenn der Täter zwar noch bestraft werden könnte, die Rückerstattung unrechtmässig bezogener Leistungen aber nicht mehr verlangt werden dürfte. Dieser ratio legis wird entsprochen, wenn für den Beginn der längeren strafrechtlichen Verjährungsfrist auf die entsprechende strafrechtliche Regelung abgestellt wird (vgl. BGE 138 V 74 E. 5.2).

      2. Da die Beschwerdeführerin wegen Betrugs verurteilt wurde und hierfür eine strafrechtliche (Verfolgungs-) Verjährungsfrist von fünfzehn Jahren (ab Aufhören des strafbaren Verhaltens, vgl. Art. 98 lit. b StGB) gilt (vgl. Art. 97 Abs. 1 lit. b i.V.m. Art. 146 Abs. 1 StGB), ist für die absolute Verwirkung gemäss Art. 25 Abs. 2 ATSG ebenfalls diese Frist massgebend. Es ist daher nicht zu beanstanden, dass die Beschwerdegegnerin mit der angefochtenen Verfügung vom 4. April 2017 Leistungen bis September 2006 zurück von der Beschwerdeführerin zurückforderte. Die absolute Verwirkungsfrist ist demnach ebenfalls gewahrt.

4.

Die Rückforderung der Beschwerdegegnerin beträgt daher - wie verfügt -

Fr. 310'408.--. Der Antrag auf reformatio in peius ist abzulehnen.

5.

    1. Im Sinn der vorstehenden Erwägungen die Beschwerde abzuweisen.

    2. Nach Art. 69 Abs. 1bis IVG ist das IV-Beschwerdeverfahren bei Streitigkeiten um die Bewilligung die Verweigerung von IV-Leistungen vor dem kantonalen Versicherungsgericht kostenpflichtig. In Streitigkeiten um Rückforderungen werden dagegen nach kantonaler Praxis keine Gerichtskosten erhoben (vgl. Art. 61 lit. a ATSG).

    3. Zufolge Unterliegens der Beschwerdeführerin und der Bewilligung der unentgeltlichen Prozessführung (Bewilligung der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung) durch die Gerichtsleitung am 3. Juli 2017 ist der Staat zu verpflichten, für die Kosten der Rechtsvertretung der Beschwerdeführerin aufzukommen. Ihr Rechtsvertreter hat eine Kostennote über einen Betrag von

      Fr. 2'100.35 (Honorar bei Fr. 250.-- Ansatz total Fr. 1'870.--, Barauslagen Fr. 74.80 und MWSt Fr. 155.55) eingereicht. Eine entsprechende Parteientschädigung erscheint der Bedeutung der Streitsache und dem Aufwand angemessen. Das Honorar ist indessen in Anwendung von Art. 31 Abs. 3 des st. gallischen Anwaltsgesetzes (sGS 963.70) um

      einen Fünftel auf Fr. 1'496.-- zu reduzieren, womit sich eine Entschädigung von

      Fr. 1'696.45 (Honorar Fr. 1'496.--, Barauslagen Fr. 74.80 und MWSt Fr. 125.65) ergibt.

    4. Wenn ihre wirtschaftlichen Verhältnisse es ihr gestatten, kann die Beschwerdeführerin zur Nachzahlung der Auslagen für die Vertretung verpflichtet werden (vgl. Art. 123 ZPO i.V.m. Art. 99 Abs. 2 VRP/SG).

Entscheid

1.

Die Beschwerde wird abgewiesen.

2.

Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.

Der Staat entschädigt den unentgeltlichen Rechtsbeistand der Beschwerdeführerin, Rechtsanwalt lic. iur. Adrian Fiechter, mit Fr. 1'696.45 (einschliesslich Barauslagen und Mehrwertsteuer).

Quelle: https://www.sg.ch/recht/gerichte/rechtsprechung.html
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