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Urteil Versicherungsgericht (SG - IV 2014/208)

Zusammenfassung des Urteils IV 2014/208: Versicherungsgericht

A. hat sich im April 2012 bei der IV-Stelle angemeldet und beantragt, Leistungen der Invalidenversicherung zu erhalten. Nach verschiedenen medizinischen Untersuchungen und Gutachten wurde ihr Rentenbegehren abgelehnt. A. erhob Beschwerde und argumentierte, dass sie als Gesunde zu 100 Prozent erwerbstätig wäre. Die Beschwerdegegnerin beantragte die Abweisung der Beschwerde. Nach einer ausführlichen Prüfung und Gutachten wurde entschieden, dass A. Anspruch auf eine halbe Rente der Invalidenversicherung ab dem 1. Oktober 2012 hat. Die Gerichtskosten von CHF 600.-- sind von der Beschwerdegegnerin zu tragen. Die Parteientschädigung für A. beträgt CHF 3'000.--.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts IV 2014/208

Kanton:SG
Fallnummer:IV 2014/208
Instanz:Versicherungsgericht
Abteilung:IV - Invalidenversicherung
Versicherungsgericht Entscheid IV 2014/208 vom 15.12.2016 (SG)
Datum:15.12.2016
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:Entscheid Art. 28 und 28a IVG. Gemischte Methode. Statusfrage. Berechnung des Invaliditätsgrades (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 15. Dezember 2016, IV 2014/208).
Schlagwörter: ätig; Prozent; Invalidität; Gesundheit; IV-act; Haushalt; Abklärung; Person; Hilfsarbeit; Rente; Ausbildung; Invaliditätsgrad; Gesundheitsbeeinträchtigung; Angst; Erwerbstätigkeit; Aufgaben; Hilfsarbeiterin; Verfügung; IV-Stelle; Arbeitgeber; Psychiater; Arbeitsstelle; Mutter; Pensum
Rechtsnorm: Art. 16 ATSG ;
Referenz BGE:126 V 75; 141 V 281; 142 V 290;
Kommentar:
-

Entscheid des Verwaltungsgerichts IV 2014/208

Besetzung

Präsidentin Karin Huber-Studerus, Versicherungsrichter Joachim Huber und Ralph Jöhl; Gerichtsschreiber Tobias Bolt

Geschäftsnr.

IV 2014/208

Parteien

A. ,

Beschwerdeführerin,

vertreten durch Advokat lic. iur. Martin Boltshauser,

c/o Procap Schweiz, Frohburgstrasse 4, Postfach, 4601 Olten, gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Postfach 368, 9016 St. Gallen,

Beschwerdegegnerin,

Gegenstand Rente Sachverhalt A.

    1. A. meldete sich im April 2012 zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung an (IV-act. 1). Sie gab an, sie habe keine berufliche Ausbildung absolviert und sei seit längerem nicht arbeitstätig gewesen. Eine Sachbearbeiterin der IV-Stelle notierte, die Versicherte sei offenbar vorwiegend als Hausfrau tätig gewesen, weshalb kein Anspruch auf berufliche Massnahmen bestehe (IV-act. 5). Gemäss dem im Mai 2012 erstellten Auszug aus dem individuellen Beitragskonto hatte die Versicherte für diverse Arbeitgeber gearbeitet (IV-act. 8). Die Arbeitsverhältnisse hatten jeweils höchstens ein zwei Jahre angedauert; dazwischen war die Versicherte immer wieder arbeitslos gewesen. Nur in den Jahren 2001–2007 hatte sie ununterbrochen mehrere Jahre für dieselbe Arbeitgeberin (die Schweizerische Post) gearbeitet. Der Psychiater Dr. med. B. berichtete am 9. Juli 2012 (IV-act. 16), die Versicherte leide mindestens seit dem Jahr 2008 an rezidivierenden depressiven Episoden, die teilweise bis mittelgradig ausgeprägt gewesen seien. Aktuell liege eine leichtgradige Episode vor. Sie sei an verschiedenen Arbeitsplätzen als Hilfsarbeiterin tätig gewesen, habe ihre letzte Arbeitsstelle im Jahr 2007 verloren und sei seit dem Jahr 2009 sozialhilfeabhängig. Sie kümmere sich um die im selben Mehrfamilienhaus lebende, 90 Jahre alte Mutter. Mehrheitlich sei ihre Stimmung freudlos-deprimiert. Sie fühle sich in der momentanen Situation überfordert. Das Denken sei negativ geprägt. Sie leide an Angst und an Ängstlichkeit, an Gedankenkreisen und an Zukunftsangst. Sie klage über eine chronische Müdigkeit, über Schwindelgefühle und über ein Angstgefühl. Zu Beginn der Behandlung habe sie noch an einschiessenden Suizidgedanken gelitten. Die Prognose bezüglich der Wiedererlangung einer wirtschaftlich relevanten Arbeitsfähigkeit sei angesichts der gegenwärtigen sozialen Situation schlecht.

    2. Am 9. Oktober 2012 notierte Dr. med. C. vom IV-internen regionalen ärztlichen Dienst (RAD), aus medizinischer Sicht sei das Attest einer vollständigen Arbeitsunfähigkeit bei einer nur leichtgradigen depressiven Störung nicht nachvollziehbar; zur Prüfung des Leistungsbegehrens werde wohl eine psychiatrische Begutachtung notwendig sein (IV-act. 20). Am 6. Februar 2013 fand eine Abklärung im Haushalt der Versicherten statt. Die Abklärungsbeauftragte hielt in ihrem Bericht vom

      19. Februar 2013 fest (IV-act. 24), die Versicherte habe angegeben, sofort an Panikattacken zu leiden, wenn sie ihre Wohnung verlasse. Beispielsweise befürchte sie, bei einer mit Büchern gefüllten Tasche, die sie trage, könnte der Henkel abreissen, was dazu führen könnte, dass sie umfalle und dann von einem Auto angefahren werde. Sie versuche, besser mit ihren Ängsten umzugehen, aber länger als eine Stunde könne sie nicht in einem Bus in einem Restaurant verbringen. Wenn sie zum Sozialamt müsse, nehme sie vorher ein Benzodiazepin ein. Sie habe Mühe mit den vielen Leuten. Ihr Herz rase und sie erhalte keine Luft. Zuletzt habe sie in einem schwankenden Pensum von 30–50 Prozent gearbeitet. Wäre sie gesund, würde sie heute aus ökonomischen Gründen einer vollzeitigen Erwerbstätigkeit nachgehen. Die Abklärungsbeauftragte notierte, die Versicherte könne ihren Haushalt selber besorgen und auch die Wohnung ihrer Mutter reinigen. Einmal pro Woche werde sie von der Schwester unterstützt. Die Aussage der Versicherten, sie würde im Vollzeitpensum arbeiten, könne nicht nachvollzogen werden, denn diese sei seit über zehn Jahren sozialhilfeabhängig, habe aber überhaupt nichts unternommen, um eine Arbeitsstelle zu finden. Sie habe in einem Pensum von 30–50 Prozent gearbeitet.

      „Grosszügigerweise“ werde sie als zu 50 Prozent Erwerbstätige eingestuft. Die Wohnung der Versicherten sei sauber und aufgeräumt gewesen. Die Versicherte habe einen gesunden Eindruck gemacht. Die Abklärungsbeauftragte habe den Eindruck gewonnen, dass die Versicherte gar nicht arbeiten möchte. Die Versicherte selbst bemerkte, dass sie ihren Haushalt selber erledige und auch die Wohnung ihrer Mutter mit Einschränkungen reinige. Sie müsse sehr langsam putzen und dabei auch immer wieder Pausen einlegen.

    3. Im Auftrag der IV-Stelle erstattete der Psychiater Dr. med. D. am 9. Juli 2013 ein fachärztliches Gutachten (IV-act. 30). Er hielt fest, die Versicherte leide an einer rezidivierenden depressiven Störung mit einer gegenwärtig leichten Episode und an einer Angststörung mit Panikattacken und mit einer Sozialphobie. Zudem liege ein

      schädlicher Gebrauch von Benzodiazepin vor. Bis zum Ende der Schulzeit sei die Entwicklung der Versicherten gesundheitlich und persönlich unauffällig verlaufen. Nur eine überdurchschnittliche Tendenz zur Vereinzelung und zur Vermeidung von sozialen Kontakten sei schon in der Kindheit aufgefallen. In der beruflichen Entwicklung hätten sich dann erstmals mit dem Scheitern einer Ausbildung, mit einem überstürzten Auszug von zuhause im Rahmen einer ungeplanten Schwangerschaft und auch mit einer rasch gescheiterten ersten Partnerschaft Schwierigkeiten in der persönlichen Entwicklung mit einer ungenügenden Bewältigung von altersgemässen Aufgaben gezeigt. Durch ihr sozialphobisches Verhalten sei die Versicherte in sämtlichen Tätigkeiten eingeschränkt gewesen, die sie ausgeübt habe. Schon ab dem 19. Lebensjahr habe sie Benzodiazepine eingenommen. Das Beziehungsverhalten sei sehr regressiv gewesen. Nach der Aussteuerung im Jahr 2009 habe sich ihr Gesundheitszustand deutlich verschlechtert. Sie habe eine manifeste Angststörung und rezidivierende depressive Episoden entwickelt. Ab dem Jahr 2008 habe sie zunehmend ein Vermeidungsverhalten an den Tag gelegt. Die Intensität und die Frequenz der Panikattacken hätten zugenommen. Gleichzeitig sei die Grundstimmung vermehrt depressiv geworden. Auch die Losigkeitssymptomatik habe zugenommen. Die Beschwerden hätten nicht nur zu einer verminderten Leistungsfähigkeit bei den Bewerbungen, sondern auch zu einer deutlichen Leistungsminderung im Rahmen der Haushaltsführung geführt. Die Versicherte benötige für ihre Haushaltsaufgaben doppelt so lange wie die deutlich ältere Schwester. Sie könne nicht mehr alle Aufgaben selbst übernehmen. Ihr Bewegungsradius sei drastisch gesunken. Die Angaben des behandelnden Psychiaters Dr. B. seien konsistent und übereinstimmend mit dem aktuellen Befund. Nicht nachvollziehbar sei allerdings, weshalb Dr. B. die Sozialphobie nicht gewürdigt habe. Die entsprechenden Beschwerden hätten sich nämlich ab dem Jahr 2008 akzentuiert und ein Ausmass erreicht, das eine eigenständige Diagnosestellung erfordere. Auf der Ressourcenseite zeige die Versicherte eine durchschnittliche Intelligenz. Zudem habe sie eine einjährige Ausbildung zur Bürogehilfin abgeschlossen. Sie sei trotz der Angststörung in der Lage gewesen, Kontakt zu den eigenen Eltern, zum Sohn und zu einem Bruder durchgehend aufrecht zu erhalten. Trotz physischen und psychischen Einschränkungen sei sie bis dato in der Lage gewesen, die Selbstversorgung und den eigenen Haushalt aufrecht zu erhalten und im selben Ausmass den Haushalt der Mutter und eine niederschwellige

      Betreuung der Mutter zu gewährleisten. Funktionseinschränkungen zeigten sich insbesondere in der Kontaktfähigkeit durch Vermeidung von sozialen Situationen, in Gruppensituationen mit schweren Beeinträchtigungen, Panikattacken und der Notwendigkeit, vor Terminen Angstlöser einzunehmen. Daneben sei die Versicherte durch eine deutlich reduzierte Durchhaltefähigkeit mit einem hohen Pausenbedarf (sie habe der Exploration trotz zehn Minuten Pause pro Stunde kaum bis zum Schluss folgen können) sowie in der Entscheidungsfähigkeit und in der Planungsfähigkeit eingeschränkt. Auch sei der Bewegungsradius aufgrund der Angststörung und der Depression erheblich beeinträchtigt. Die Überwindungsfähigkeit, die Haushaltstätigkeiten zu erledigen, die über leichte Arbeiten hinausgingen eine vermehrte Ausdauer benötigten, sei nicht mehr gegeben. Die Angaben der Versicherten während der Untersuchung und die Angaben in den Akten seien konsistent. Die während der persönlichen Untersuchung festgestellten klinischen Befunde seien beim behandelnden Psychiater offenbar trotz der unverständlicherweise fehlenden Würdigung der Sozialphobie eindrücklich genug gewesen, um ein Arbeitsunfähigkeitsattest zu rechtfertigen. Bezüglich der Haushaltsführung sei zu berücksichtigen, dass es sich um zwei Einpersonenhaushalte handle. Ideal leidensadaptierte Tätigkeiten mit sehr wenig Personenkontakt, ohne Zeitdruck, mit ausreichender Pausengestaltungsmöglichkeit und Einsatzorten in der unmittelbaren Umgebung der Wohnung der Versicherten seien zu 50 Prozent zumutbar. Eine entsprechende Tätigkeit sei aber nur unter intensivierter psychotherapeutischer und psychopharmakologischer Behandlung und nur nach einer mindestens sechs Monate dauernden Eingewöhnungsphase im geschützten Rahmen realisierbar. Die RAD-Ärztin Dr. C. erachtete das Gutachten als ausführlich, umfassend, konsistent und nachvollziehbar.

    4. Mit einem Vorbescheid vom 8. Dezember 2013 teilte die IV-Stelle der Versicherten mit, dass sie die Abweisung ihres Rentenbegehrens vorsehe (IV-act. 35). Zur Begründung führte sie aus, dass die Versicherte als zu 50 Prozent im Haushalt und als zu 50 Prozent ausserhäuslich erwerbstätig einzustufen sei. Da sie den Haushalt versorgen könne, sei sie diesbezüglich nicht eingeschränkt. Bei einer Arbeitsfähigkeit von 50 Prozent könne sie auch ihr Erwerbspensum voll ausschöpfen. Der Invaliditätsgrad liege also in beiden Bereichen und somit auch gesamthaft bei null Prozent. Dagegen liess die nun vertretene Versicherte am 28. Januar 2014 einwenden

(IV-act. 39), sie wäre als Gesunde nicht nur zu 50 Prozent, sondern zu 100 Prozent erwerbstätig. Ihren Haushalt könne sie zudem nicht uneingeschränkt besorgen. Am 28. Februar 2014 liess sie ergänzend festhalten (IV-act. 42), die Qualifikation der Versicherten als zu je 50 Prozent im Aufgaben- und im Erwerbsbereich Tätige sei nicht nachvollziehbar. Die Versicherte werde im ersten Arbeitsmarkt nicht mehr Fuss fassen können. Mit einer Verfügung vom 10. März 2014 wies die IV-Stelle das Rentenbegehren ab (IV-act. 43).

B.

    1. Am 10. April 2014 liess die Versicherte (nachfolgend: die Beschwerdeführerin) eine Beschwerde erheben (act. G 1). Ihr Rechtsvertreter beantragte die Aufhebung der Verfügung vom 10. März 2014, die Zusprache einer Invalidenrente und eventualiter die Rückweisung der Sache zur weiteren Abklärung an die IV-Stelle (nachfolgend: die Beschwerdegegnerin). Zur Begründung führte er aus, die Behauptung der Beschwerdegegnerin, die Beschwerdeführerin habe nie Arbeitsbemühungen getätigt, sei haltlos, denn schon die im individuellen Beitragskonto ausgewiesenen Arbeitslosenentschädigungen belegten, dass die Beschwerdeführerin sich zumindest in jenen Zeiträumen um Arbeitsstellen bemüht haben musste. Das habe sogar der Psychiater Dr. D. realisiert. Die Beschwerdeführerin müsse als Vollerwerbstätige qualifiziert werden.

    2. Die Beschwerdegegnerin beantragte am 5. Juni 2014 unter Hinweis auf die Ausführungen in der angefochtenen Verfügung die Abweisung der Beschwerde (act. G 6).

    3. Die Beschwerdeführerin liess am 8. Juli 2014 an ihren Anträgen festhalten (act. G

9). Die Beschwerdegegnerin verzichtete auf eine Duplik (act. G 11).

Erwägungen

1.

    1. Versicherte, die ihre Erwerbsfähigkeit ihre Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich

      zu betätigen, nicht durch zumutbare Eingliederungsmassnahmen wieder herstellen,

      erhalten verbessern können, die während eines Jahres ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich mindestens 40 Prozent arbeitsunfähig gewesen sind und die nach dem Ablauf dieses Jahres zu mindestens 40 Prozent invalid sind, haben einen Anspruch auf eine Rente der Invalidenversicherung (Art. 28 Abs. 1 IVG). Für die Bemessung der Invalidität einer erwerbstätigen versicherten Person wird gemäss dem Art. 28a Abs. 1 IVG i.V.m. dem Art. 16 ATSG das Erwerbseinkommen, das diese nach dem Eintritt der Invalidität und nach der Durchführung der medizinischen Behandlung und allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine ihr zumutbare Tätigkeit bei einer ausgeglichenen Arbeitsmarktlage erzielen könnte, in Beziehung zu dem Erwerbseinkommen gesetzt, das sie erzielen könnte, wenn sie nicht invalid geworden wäre. Bei einer nicht erwerbstätigen versicherten Person, die im Aufgabenbereich tätig ist und der die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nicht zugemutet werden kann, wird gemäss dem Art. 28a Abs. 2 IVG für die Bemessung der Invalidität in Abweichung vom Art. 16 ATSG darauf abgestellt, in welchem Mass sie unfähig ist, sich im Aufgabenbereich zu betätigen. Bei einer versicherten Person, die nur zum Teil erwerbstätig ist, wird für diesen Teil die Invalidität nach dem Art. 16 ATSG festgelegt. Ist sie daneben auch im Aufgabenbereich tätig gewesen, wird die Invalidität für jenen Teil nach dem Art. 28a Abs. 2 IVG festgelegt. In diesem Fall sind der Anteil der Erwerbstätigkeit und der Anteil der Tätigkeit im Aufgabenbereich festzulegen und der Invaliditätsgrad in beiden Bereichen zu berechnen (Art. 28a Abs. 3 IVG).

    2. Die angefochtene Verfügung vom 10. März 2014, mit der das Rentenbegehren der Beschwerdeführerin abgewiesen worden ist, beruht auf einem Invaliditätsgrad, der anhand der gemischten Methode berechnet worden ist. Aus den Akten geht aber zweifelsfrei hervor, dass die Beschwerdeführerin während Jahren erwerbstätig gewesen war. Zudem hatte sie noch beim Eintritt der Gesundheitsbeeinträchtigung (in einem Teilzeitpensum) gearbeitet respektive eine Arbeitslosenentschädigung bezogen. Weil ihr einziger Sohn schon längst volljährig gewesen ist und selbständig gelebt hat und weil ihre Mutter noch nicht auf eine intensive Betreuung angewiesen gewesen ist, haben der Aufnahme einer Erwerbstätigkeit keine relevanten Betreuungspflichten entgegengestanden. Auch sonst sind keine Hinweise auf Umstände ersichtlich, die die Wiederaufnahme einer Erwerbstätigkeit als unzumutbar hätten erscheinen lassen. Die Beschwerdeführerin ist aus finanziellen Gründen auf die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit angewiesen gewesen, denn sie hat Sozialhilfe beziehen müssen. Auch

      wenn sie alleine lebt und wohl mit einem bescheidenen Einkommen auskommen dürfte, müsste sie angesichts des Umstandes, dass sie ausser eines einjährigen Kurses zur Bürogehilfin keine berufliche Ausbildung absolviert hat, eine Vollzeitstelle annehmen, um sich aus der Sozialhilfeabhängigkeit lösen zu können. Erfahrungsgemäss verdienen Hilfsarbeiterinnen in der Region Ostschweiz nämlich oft höchstens 3’500 Franken pro Monat, wenn sie vollzeitig erwerbstätig sind. Mit ihrem Einkommen müsste die Beschwerdeführerin aber nicht nur ihren aktuellen Lebensbedarf decken, sondern auch noch ihre Schulden bei der Sozialhilfebehörde zurückzahlen. Dazu wäre sie nicht in der Lage, wenn sie nicht vollzeitig erwerbstätig wäre. Schliesslich hat die Beschwerdeführerin ausdrücklich festgehalten, dass sie einer vollzeitigen Erwerbstätigkeit nachgehen würde, wenn sie gesund wäre. Aus der Telefonnotiz vom 16. Juli 2012 (IV-act. 17), laut der die Beschwerdeführerin angegeben haben soll, sie wäre auch bei guter Gesundheit nur teilweise erwerbstätig, kann nichts anderes abgeleitet werden. Der Notiz lässt sich nämlich nicht entnehmen, ob sich die Beschwerdeführerin dabei auf den fiktiven Sachverhalt ohne jede Gesundheitsbeeinträchtigung bezogen hat. Dies dürfte nicht der Fall gewesen sein, denn wie sich dem Gutachten von Dr. D. entnehmen lässt, ist die Beschwerdeführerin seit dem Beginn ihrer beruflichen Tätigkeit in ihrer Gesundheit beeinträchtigt gewesen. Nach über 30 Jahren dürfte sie nicht ohne weiteres in der Lage gewesen sein, sich den „hypothetischen Gesundheitsfall“ ohne eine vorgängige ausführliche Erläuterung, was darunter zu verstehen ist, vorzustellen. Zudem ist die Notiz nicht unterzeichnet worden, weshalb sie keinen Beweiswert hat. Im Protokoll betreffend die Haushaltsabklärung sind zwar weder die Ausführungen der Abklärungsbeauftragten noch jene der Beschwerdeführerin wortgetreu wiedergegeben. Folglich steht auch nicht mit dem erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit fest, dass es sich bei der Angabe, sie würde vollzeitig arbeiten, um die wahre Antwort auf die relevante Frage gehandelt hat. Allerdings ist aufgrund der gesamten Umstände kein gewichtiger Grund ersichtlich, der dagegen sprechen würde. Die Würdigung der Abklärungsperson bezüglich der sogenannten Statusfrage hat augenscheinlich auf aktenwidrigen Annahmen beruht und sachfremde Kriterien berücksichtigt. Die Abklärungsperson ist nämlich davon ausgegangen, dass sich die Beschwerdeführerin nie um eine Arbeitsstelle bemüht habe. Die Beschwerdeführerin hatte aber bis ins Jahr 2007 gearbeitet und danach eine Arbeitslosenentschädigung

      bezogen, die ihr selbstverständlich nicht ausgerichtet worden wäre, wenn sie sich nicht ausreichend um eine neue Arbeitsstelle bemüht hätte. Weshalb die Abklärungsperson nicht sämtliche Akten berücksichtigt hat, denen sich dies ohne weiteres hätte entnehmen lassen, ist nicht nachvollziehbar. Für die Beantwortung der Frage, wie sich die Beschwerdeführerin im fiktiven „Gesundheitsfall“ verhalten würde, können das trotz der Gesundheitsbeeinträchtigung ausgeübte Arbeitspensum und die trotz der Gesundheitsbeeinträchtigung getätigten Stellenbemühungen nicht massgebend sein. Dass die Abklärungsperson dennoch darauf abgestellt und die relevanten Tatsachen (keine Betreuungspflichten, finanzielle Notlage, Angabe der Beschwerdeführerin) ignoriert hat, ist schlicht unverständlich und weckt den Verdacht, sie könnte voreingenommen gewesen sein. Dazu passen nämlich ihre durch nichts belegte und laienhafte Behauptung, die Beschwerdeführerin habe gesund gewirkt und den Eindruck erweckt, gar nicht arbeiten zu wollen. Im gesamten Kontext wirkt die Angabe, das hypothetische Pensum werde „grosszügigerweise“ auf 50 Prozent festgelegt, beinahe zynisch, zumal es für das Ergebnis völlig belanglos gewesen ist, ob von einem Pensum von 30 Prozent von einem solchen von 50 Prozent ausgegangen wird. Die Würdigung der Abklärungsperson und damit auch die angefochtene Verfügung, die sich darauf gestützt hat, muss zusammenfassend als willkürlich bezeichnet werden. Gesamthaft würde also bei der Anwendung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zur sogenannten Statusfrage (vgl. etwa BGE 142 V 290 E. 7.1 S. 297) eine (hypothetische) Vollerwerbstätigkeit resultieren, weshalb der Invaliditätsgrad anhand eines reinen Einkommensvergleichs berechnet werden müsste.

    3. Allerdings erweist sich die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur Statusfrage und zur gemischten Methode bei genauerer Betrachtung als gesetzes- und verfassungswidrig, weil sie sich nicht am Konzept des Gesetzgebers, Beeinträchtigungen der Erwerbsfähigkeit (und nicht eines allfälligen Erwerbsausfalls) zu entschädigen orientiert und weil sie zu rechtsungleichen Ergebnissen führt. Unlängst ist die Rechtsprechung zudem als gegen die EMRK verstossend qualifiziert worden. Eine sorgfältige Interpretation der massgebenden Gesetzesbestimmungen zwingt dazu, den Invaliditätsgrad (ausser bei nie erwerbstätig gewesenen „Nur-Hausfrauen“, denen die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nicht zugemutet werden kann) stets nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs zu berechnen (vgl. die Urteile IV 2014/125 und IV 2014/37 des St. Galler Versicherungsgerichtes vom 24. Mai 2016 und

vom 19. Juli 2016). Da die Beschwerdeführerin nicht als „Nur-Hausfrau“ qualifiziert werden kann, muss ihr Invaliditätsgrad also ohnehin anhand eines reinen Einkommensvergleichs berechnet werden.

2.

    1. Die Beschwerdeführerin hat keinen Beruf erlernt und ist entsprechend als Hilfsarbeiterin tätig gewesen. Zwar hat sie einen einjährigen Kurs zur Bürogehilfin absolviert, doch hat ihr diese Ausbildung für sich allein offenbar keinen nennenswerten Vorteil verschafft, hat die Beschwerdeführerin doch ihre Arbeitsstelle nur in einer anderen Tätigkeit über längere Zeit halten können. Nachdem sie jahrelang nicht mehr als Bürogehilfin gearbeitet hat, dürfte ihr ihre Ausbildung gerade angesichts der rasanten Entwicklungen in der Informationstechnologie der letzten Jahre und der damit einhergehenden Umgestaltung der Büroarbeitsplätze keinen Vorteil mehr bei der Arbeitssuche verschaffen. Die Beschwerdeführerin ist folglich als Hilfsarbeiterin zu qualifizieren. Dem Gutachten von Dr. D. lässt sich zwar entnehmen, dass die Beschwerdeführerin schon bei der beruflichen Ausbildung möglicherweise durch eine Gesundheitsstörung beeinträchtigt gewesen sein könnte. Dies erscheint gesamthaft aber nicht als überwiegend wahrscheinlich, denn der Abschluss einer beruflichen Ausbildung dürfte wohl vor allem an der ungeplanten Schwangerschaft und deren Folgen und nicht massgebend aufgrund einer Gesundheitsbeeinträchtigung gescheitert sein. Jedenfalls ist nicht bewiesen und – in antizipierender Beweiswürdigung – auch nicht mehr zu beweisen, dass der Abschluss einer beruflichen Ausbildung wesentlich durch eine Gesundheitsbeeinträchtigung verhindert worden ist und die Beschwerdeführerin entsprechend als Frühinvalide im Sinne des Art. 26 IVV qualifiziert werden müsste. Den Akten lassen sich keine Hinweise dafür entnehmen, dass die Beschwerdeführerin – abgesehen von ihrer Gesundheitsbeeinträchtigung – nicht in der Lage gewesen wäre, eine durchschnittliche Arbeitsleistung als Hilfsarbeiterin zu erbringen und folglich einen durchschnittlichen Hilfsarbeiterlohn zu erzielen. Das Valideneinkommen entspricht folglich einem durchschnittlichen Lohn für Hilfsarbeiterinnen.

    2. Laut dem gut begründeten, von der RAD-Ärztin Dr. C. als überzeugend

      qualifizierten, den Anforderungen des BGE 141 V 281 genügenden und mit dem Bericht

      des behandelnden Psychiaters Dr. B. im Wesentlichen übereinstimmenden Gutachten von Dr. D. leidet die Beschwerdeführerin an einer komplexen psychischen Gesundheitsbeeinträchtigung mit einer je eigenständigen depressiven Störung und Angst¬störung (mit Panikattacken und einer Sozialphobie), die ihre Arbeitsfähigkeit massiv beeinträchtigt. Angesichts der von Dr. D. angeführten Befunde, Ressourcen und Einschränkungen stellt sich die grundsätzliche Frage, ob der Beschwerdeführerin angesichts der qualitativen Einschränkungen überhaupt zugemutet werden kann, wieder im ersten Arbeitsmarkt erwerbstätig zu sein. Der Sachverständige Dr. D. hat diese Frage zwar bejaht, aber angemerkt, dass die Beschwerdeführerin zuerst ein mindestens sechsmonatiges Einarbeitungsprogramm benötigen werde und dass die psychotherapeutischen und psychopharmakologischen Massnahmen intensiviert werden müssten. Die RAD-Ärztin soll angegeben haben, dass ein solches Einarbeitungsprogramm nicht notwendig sei (IV-act. 32–2), doch findet sich in den Akten keine Begründung dafür. In einer Gesamtwürdigung des Gutachtens von Dr.

      D. scheint eine schrittweise Einarbeitung zumindest dringend angezeigt, wenn nicht sogar unumgänglich zu sein. Dessen ungeachtet ist die Beschwerdeführerin aber gemäss den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. D. und der RAD-Ärztin Dr. C. nicht in der Lage, selbst an einem ideal leidensadaptierten Arbeitsplatz eine Arbeitsleistung von mehr als 50 Prozent zu erbringen. Der allgemeine und ausgeglichene Arbeitsmarkt kennt Hilfsarbeitsstellen, die die von Dr. D. genannten qualitativen Anforderungen an einen ideal leidensadaptierten Arbeitsplatz erfüllen, weshalb der Beschwerdeführerin die Verrichtung einer leidensadaptierten Hilfsarbeit in einem Pensum von 50 Prozent zugemutet werden kann.

    3. Der Ausgangswert des zumutbarerweise erzielbaren Invalideneinkommens entspricht dem Valideneinkommen, weshalb der Betrag bei der Berechnung des Invaliditätsgrades mathematisch keine Rolle spielen kann. Der Invaliditätsgrad ist folglich mittels eines sogenannten Prozentvergleichs zu berechnen, das heisst er entspricht dem Arbeitsunfähigkeitsgrad, allenfalls korrigiert um einen sogenannten Tabellenlohnabzug von maximal 25 Prozent (vgl. BGE 126 V 75). Ein solcher Tabellenlohnabzug trägt dem Umstand Rechnung, dass eine versicherte Person infolge ihrer Gesundheitsbeeinträchtigung – ökonomisch-betriebswirtschaftlich betrachtet – nicht mehr in der Lage sein kann, denselben ökonomischen Mehrwert zu produzieren wie eine gesunde Person, die im selben Pensum arbeitet. Die Frage, ob solche

      ökonomisch-betriebswirtschaftlichen Nachteile vorliegen, ist aus der Sicht eines ökonomisch denkenden Arbeitgebers zu beantworten. Für diesen ist unter anderem massgebend, ob die versicherte Person ihre Arbeitsleistung konstant, zuverlässig und flexibel erbringen kann. Besteht die Gefahr, dass die versicherte Person vermehrt krankheitsbedingt abwesend ihre Arbeitsleistung nicht zuverlässig erbringen könnte, muss ein ökonomisch-betriebswirtschaftlich denkender Arbeitgeber das Risiko entsprechender Mehrkosten respektive eines entsprechenden Mindererfolgs einkalkulieren, was sich auf den Lohn niederschlagen wird, den er bereit ist, der versicherten Person zu bezahlen. Dasselbe gilt, wenn die Gefahr besteht, dass die versicherte Person ihre Arbeitsleistung nicht flexibel erbringen könnte und dass der Arbeitgeber folglich gezwungen sein könnte, selbst dann, wenn nur ein geringes Mass an Überstunden geleistet werden müsste, einen Arbeitnehmer zu organisieren, der den Platz der dazu möglicherweise nicht fähigen versicherten Person einnehmen könnte, was natürlich mit entsprechenden Mehrkosten verbunden wäre. Da beim Krankheitsbild der Beschwerdeführerin mit der Gefahr zu rechnen ist, dass sie ihre Arbeitsleistung nicht zuverlässig, konstant und flexibel erbringen und vermehrt krankheitsbedingt ausfallen könnte, wird ein ökonomisch-betriebswirtschaftlich denkender Arbeitgeber nicht bereit sein, ihr einen Lohn zu bezahlen, der 50 Prozent des Medianwertes aller Hilfsarbeiterinnenlöhne entspricht. Praxisgemäss ist daher ein Tabellenlohnabzug von 15 Prozent zu berücksichtigen.

    4. Der Invaliditätsgrad beträgt folglich 57,5 Prozent (= 100% – 85% × 0,5). Gemäss dem Art. 28 Abs. 2 IVG hat die Beschwerdeführerin damit einen Anspruch auf eine halbe Rente der Invalidenversicherung. Wann genau die Invalidität, die sich gemäss den überzeugenden Ausführungen von Dr. D. stetig verschlimmert hat, dieses Ausmass erreicht hat, lässt sich retrospektiv in antizipierender Beweiswürdigung nicht mehr mit dem erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit ermitteln. Fest steht allerdings, dass die Beschwerdeführerin sechs Monate nach ihrer Anmeldung zum Leistungsbezug, also am 1. Oktober 2012, schon über ein Jahr zu mehr als durchschnittlich 40 Prozent arbeitsunfähig gewesen ist, weshalb sie am 1. Oktober 2012 sowohl die Voraussetzungen des Art. 28 Abs. 1 (insb. lit. b) IVG als auch jene des Art. 29 Abs. 1 IVG erfüllt hat. Folglich ist ihr die halbe Rente mit Wirkung ab dem 1. Oktober 2012 zuzusprechen.

3.

Die angefochtene Verfügung ist somit in Gutheissung der Beschwerde aufzuheben. Die gemäss dem Art. 69 Abs. 1bis IVG zu erhebenden und angesichts des durchschnittlichen Verfahrensaufwandes auf 600 Franken festzusetzenden Gerichtskosten sind der unterliegenden Beschwerdegegnerin aufzuerlegen. Diese hat der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung auszurichten, die angesichts des leicht unterdurchschnittlichen Vertretungsaufwandes bei einem unterdurchschnittlich dünnen Aktendossier auf 3’000 Franken (einschliesslich Barauslagen und Mehrwertsteuer) festgesetzt wird.

Entscheid

1.

In Gutheissung der Beschwerde wird die angefochtene Verfügung vom 10. März 2014 aufgehoben und der Beschwerdeführerin mit Wirkung ab dem 1. Oktober 2012 eine halbe Rente der Invalidenversicherung zugesprochen; die Sache wird zur Festsetzung der Rentenbeträge an die Beschwerdegegnerin zurückgewiesen.

2.

Die Beschwerdegegnerin hat die Gerichtskosten von Fr. 600.-- zu bezahlen.

3.

Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin mit Fr. 3’000.-- zu entschädigen.

Quelle: https://www.sg.ch/recht/gerichte/rechtsprechung.html
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