Zusammenfassung des Urteils EL 2019/74: Versicherungsgericht
Die Beschwerdeführerin hat sich gegen die Sistierung des Verfahrens zur Gewährung von Ergänzungsleistungen zur AHV gewehrt, da die EL-Durchführungsstelle auf die Entscheidungen der IV-Stelle bezüglich des Gesundheitszustands ihres Ehemannes verwies. Trotz mehrerer Interventionen der Beschwerdeführerin blieb die Sistierung bestehen. Das Versicherungsgericht wies die Beschwerde gegen die Sistierungsverfügung ab. Eine Rechtsverweigerungsbeschwerde wurde erhoben, da die Beschwerdegegnerin nicht auf ein Gesuch zur Aufhebung der Sistierung reagierte. Das Gericht entschied zugunsten der Beschwerdeführerin und wies die Beschwerdegegnerin an, eine verfahrensleitende Verfügung zu erlassen. Geschlecht der Gewinnerperson:
Kanton: | SG |
Fallnummer: | EL 2019/74 |
Instanz: | Versicherungsgericht |
Abteilung: | EL - Ergänzungsleistungen |
Datum: | 07.02.2020 |
Rechtskraft: |
Leitsatz/Stichwort: | Entscheid Art. 56 Abs. 2 ATSG. Rechtsverweigerung. Rechtsverweigerungsbeschwerde. Verfahrenssistierung (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 7. Februar 2020, EL 2019/74). |
Schlagwörter: | Recht; Verfahren; Verfügung; Rechtsverweigerung; Sachverhalt; Ehemann; Entscheid; EL-Durchführungsstelle; Rente; EL-Ansprecherin; Verfahrenssistierung; EL-act; Gesuch; Sistierung; Aufhebung; Versicherungsgericht; Rechtsverweigerungsbeschwerde; IV-Rentenverfahren; Beschwerdeverfahren; Anspruch; Verwaltungsverfahren; Ehemannes; EL-Verfahren; IV-Stelle |
Rechtsnorm: | Art. 43 ATSG ;Art. 56 ATSG ; |
Referenz BGE: | - |
Kommentar: | - |
Besetzung
Präsident Ralph Jöhl, Versicherungsrichterinnen Monika Gehrer-Hug und Karin Huber- Studerus; Gerichtsschreiber Tobias Bolt
Geschäftsnr. EL 2019/74
Parteien
,
Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Thomas Wyss, Stampfenbachstrasse 161, 8006 Zürich,
gegen
Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen, EL-Durchführungsstelle,
Brauerstrasse 54, Postfach, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin,
Gegenstand
Rechtsverweigerung (Ergänzungsleistungen zur AHV) Sachverhalt
A.
A. meldete sich im November 2018 zum Bezug von Ergänzungsleistungen zu einer Altersrente der AHV an (EL-act. 24). Ihr Ehemann (Jahrgang 1959) hatte sich bereits im November 2016 bei der IV-Stelle zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung angemeldet (act. G 3.2.1). Gemäss einem Bericht des Spitals Linth vom 30. Oktober 2018 (act. G 3.2.125) litt er an einer coronaren Drei- Gefässerkrankung mit einer Hauptstammbeteiligung, an Thoraxwandschmerzen sowie an einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit. Der berichterstattende Kardiologe hatte aus rein kardiologischer Sicht keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit attestiert. Mit einer Verfügung vom 21. Dezember 2018 sistierte die EL-Durchführungsstelle das Verwaltungsverfahren betreffend einen allfälligen EL-Anspruch der EL-Ansprecherin bis zum Abschluss des IV-Rentenverfahrens betreffend den Ehemann (EL-act. 14). Zur Begründung führte sie aus, sie könne das Gesuch um Ergänzungsleistungen nicht abschliessend prüfen, bevor das IV-Rentenverfahren abgeschlossen sei. Am 18. März 2019 liess die nun anwaltlich vertretene EL-Ansprecherin geltend machen (EL-act. 12), die EL-Durchführungsstelle sei verpflichtet, den Gesundheitszustand des Ehemannes selbst zu beurteilen. Sie dürfe sich nicht auf Entscheide eines anderen Sozialversicherers abstützen. Die EL-Durchführungsstelle wies die EL-Ansprecherin am
25. März 2019 darauf hin, dass sie das Verfahren mit einer Verfügung vom 21. Dezember 2018 sistiert habe (EL-act. 11). Die EL-Ansprecherin liess am 28. März 2019 erneut geltend machen, dass die EL-Durchführungsstelle den Sachverhalt selbst erheben müsse (EL-act. 9). Es bestehe kein Raum für eine Verfahrenssistierung,
weshalb das Verwaltungsverfahren nun fortgesetzt werden müsse. Am 12. April 2019 antwortete die EL-Durchführungsstelle, dass sie an ihrer rechtskräftigen Sistierungsverfügung festhalte (EL-act. 8).
Bereits am 11. April 2019 hatte die EL-Ansprecherin geltend machen lassen (EL- act. 7), dass die IV-Stelle mit einem Vorbescheid vom 5. März 2019 eine Abweisung des Rentenbegehrens des Ehemannes angekündigt habe, weshalb nun kein Sistierungsgrund mehr vorliege. Sollte die EL-Durchführungsstelle das Verwaltungsverfahren nicht fortsetzen, müsse sie die Sistierung mit einer anfechtbaren Verfügung anordnen. Am 18. April 2019 liess die EL-Ansprecherin erneut den Erlass einer anfechtbaren Sistierungsverfügung verlangen (EL-act. 6). Am 7. Mai 2019 erliess die EL-Durchführungsstelle eine Verfügung, mit der sie das Begehren der EL- Ansprecherin um die Aufhebung der rechtskräftigen Sistierungsverfügung vom 21. Dezember 2018 abwies und das Verwaltungsverfahren weiterhin bis zum rechtskräftigen Abschluss des IV-Rentenverfahren betreffend den Ehemann der EL- Ansprecherin sistiert hielt (EL-act. 5). Das Versicherungsgericht wies eine gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde vom 11. Juni 2019 mit einem Entscheid vom 30. Oktober 2019 ab; auf die gleichzeitig erhobene Rechtsverweigerungsbeschwerde trat es nicht ein (EL 2019/42). Zur Begründung führte es aus, der Ergänzungsleistungsanspruch der EL-Ansprecherin hänge massgebend davon ab, ob dem Ehemann eine Rente der Invalidenversicherung zugesprochen werde, da diese rückwirkend ab dem allfälligen Anspruchsbeginn frankengenau bei der EL- Anspruchsberechnung als anrechenbare Einnahme zu berücksichtigen wäre. Auch weitere Positionen der EL-Anspruchsberechnung seien davon abhängig, ob dem Ehemann eine Rente der Invalidenversicherung zugesprochen werde. Zudem wäre es verfahrensökonomisch unsinnig, im EL-Verfahren genau dieselben medizinischen Abklärungen wie im IV-Rentenverfahren durchzuführen. Ein solches Vorgehen würde auch die Gefahr von sich teilweise widersprechenden Entscheidungen in sich bergen. Zur berücksichtigen sei schliesslich, dass das EL-Verfahren insgesamt wohl länger dauern würde, wenn die EL-Durchführungsstelle sich nicht auf die Ergebnisse der medizinischen Abklärungen der IV-Stelle abstützen könnte. Jedenfalls könne über das EL-Gesuch nicht entschieden werden, solange nicht der gesamte massgebende Sachverhalt mit dem erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit
ermittelt worden sei. Ansonsten wäre der Art. 43 Abs. 1 ATSG verletzt. Die EL- Durchführungsstelle habe das EL-Verfahren deshalb völlig zu Recht weiterhin bis zum rechtskräftigen Abschluss des IV-Rentenverfahrens betreffend den Ehemann sistiert gehalten. Die EL-Ansprecherin liess gegen diesen Entscheid des Versicherungsgerichtes eine Beschwerde beim Bundesgericht erheben; das bundesgerichtliche Beschwerdeverfahren ist noch hängig.
B.
Am 5. Dezember 2018 (recte: 2019) liess die EL-Ansprecherin (nachfolgend: die Beschwerdeführerin) eine Rechtsverweigerungsbeschwerde beim Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen erheben (act. G 1). Ihr Rechtsvertreter beantragte, es sei festzustellen, dass die EL-Durchführungsstelle (nachfolgend: die Beschwerdegegnerin) durch die Sistierung des Verwaltungsverfahrens eine Rechtsverweigerung begehe, zudem seien die Sistierungsverfügung vom 7. Mai 2019 aufzuheben, das EL-Verfahren anhand zu nehmen und die gesetzlichen Leistungen zuzusprechen. Zur Begründung führte er aus, er habe die Beschwerdegegnerin mit einem Schreiben vom 20. September 2019 aufgefordert, das aktuelle Arbeitsunfähigkeitszeugnis des Ehemannes wegen einer neu diagnostizierten Krebserkrankung zu berücksichtigen, mithin die Sistierung des EL-Verfahrens aufzuheben und eine Revisionsverfügung zu erlassen. Jenes Schreiben habe er in Kopie auch dem Versicherungsgericht zugestellt, doch habe dieses in seinem Entscheid EL 2019/42 offen gelassen, ob es diese Akten im Sinne einer Erweiterung des Streitgegenstandes berücksichtigt habe. Aus diesem Grund sehe sich die Beschwerdeführerin veranlasst, „vorsorglich“ eine Rechtsverweigerungsbeschwerde einzureichen. Da dem Ehemann der Beschwerdeführerin kein hypothetisches Erwerbseinkommen angerechnet werden dürfe, könne der Entscheid im ihn betreffenden IV-Rentenverfahren keine Rolle spielen. Die Verfahrenssistierung erweise sich damit als eine unzulässige Rechtsverweigerung.
Die Beschwerdegegnerin beantragte am 8. Januar 2020 die Abweisung der Beschwerde (act. G 3). Zur Begründung führte sie aus, die IV-Stelle habe am 9. Dezember 2019 eine polydisziplinäre medizinische Begutachtung in Auftrag gegeben. Der Gesundheitszustand des Ehemannes der Beschwerdeführerin sei also nach wie vor nicht hinreichend abgeklärt. Damit blieben mehrere Positionen der EL-
Anspruchsberechnung weiterhin offen, weshalb nicht einmal eine provisorische Berechnung durchgeführt werden könne.
Die Beschwerdeführerin verzichtete auf eine Replik (act. G 5).
Erwägungen
1.
Eine Rechtsverweigerungsbeschwerde kann gemäss dem Art. 56 Abs. 2 ATSG erhoben werden, wenn der Versicherungsträger entgegen dem Begehren der versicherten Person keine Verfügung erlässt. Der Sinn und Zweck der Rechtsverweigerungsbeschwerde besteht also offenkundig darin, die versicherte Person in die Lage zu versetzen, ein Handeln ein „Nicht-Handeln“ des Versicherungsträgers auch ohne einen Anfechtungsgegenstand beschwerdeweise beim zuständigen Versicherungsgericht anzufechten. Das entsprechende Beschwerdeverfahren zielt darauf ab, den Versicherungsträger anzuhalten, der versicherten Person möglichst rasch einen solchen Anfechtungsgegenstand zu verschaffen, den diese dann mit einer „ordentlichen“ Beschwerde im Sinne des Art. 56 Abs. 1 ATSG anfechten kann.
Aktuell ist beim Bundesgericht ein Beschwerdeverfahren betreffend den Entscheid des Versicherungsgerichtes vom 30. Oktober 2019 (EL 2019/42) hängig, das die Frage zum Gegenstand hat, ob die Verfügung der Beschwerdegegnerin vom 7. Mai 2019, mit der diese ein Gesuch um Aufhebung der Verfahrenssistierung abgewiesen hatte, rechtmässig gewesen ist. In jenem Verfahren ist allerdings – wie in jedem anderen Rechtsmittelverfahren auch – nur der Sachverhalt bis zum Zeitpunkt des Verfügungserlasses massgebend, denn würde der zeitlich massgebende Sachverhalt auf die Zeit nach dem Verfügungserlass am 7. Mai 2019 ausgedehnt, würde sich der Gegenstand des Beschwerdeverfahrens verändern. Das Beschwerdeverfahren würde sich dann nämlich bezüglich des Zeitraums nach dem 7. Mai 2019 in ein Verfahren verwandeln, das die erstmalige rechtliche Würdigung des entsprechenden Sachverhaltes zum Gegenstand hätte, weil ja für den Zeitraum nach dem 7. Mai 2019 noch keine Verfügung existieren würde, die überprüft werden könnte. Würde also das Bundesgericht in seinem noch zu erlassenden Urteil den gesamten Sachverhalt bis zur Eröffnung seines Urteils würdigen, würde dieses Urteil für die Zeit bis zum 7. Mai 2019 ein „echter“ Beschwerdeentscheid, für die Zeit nach dem 7. Mai 2019 aber nichts anderes als eine „verkleidete“ Verwaltungsverfügung sein, die von einer unzuständigen Instanz erlassen würde. Das wäre offensichtlich gesetzwidrig. Folglich muss sich das
hängige bundesgerichtliche Beschwerdeverfahren auf den Sachverhalt bis zum 7. Mai 2019 beschränken, was bedeutet, dass das Bundesgericht allfälligen Sachverhaltsveränderungen nach dem 7. Mai 2019 nicht Rechnung trägt. Das bedeutet, dass es der Beschwerdeführerin unbenommen gewesen ist, nach dem 7. Mai 2019 unter Hinweis auf eine zwischenzeitliche Sachverhaltsveränderung – noch während des hängigen bundesgerichtlichen Beschwerdeverfahrens – erneut eine Aufhebung der Verfahrenssistierung zu verlangen. Die Beschwerdegegnerin hätte das entsprechende Gesuch vom 20. September 2019 förmlich behandeln, das heisst mit einer weiteren Verfügung abweisen müssen. Da sie aber untätig geblieben ist und das Gesuch vom 20. September 2019 ignoriert hat, hat sie der Beschwerdeführerin deren Recht verweigert, als Antwort auf ihr Gesuch eine anfechtbare Verfügung zu erhalten. Hierin ist eine Rechtsverweigerung zu erblicken, weshalb die am 5. Dezember 2019 erhobene Rechtsverweigerungsbeschwerde gutzuheissen ist.
Daran ändert der Umstand nichts, dass die von der Beschwerdeführerin geltend gemachte Sachverhaltsveränderung – die Krebserkrankung des Ehemannes – wohl keinen hinreichenden Grund für die Aufhebung der Verfahrenssistierung darstellen dürfte, weil gemäss den Ausführungen des Versicherungsgerichtes im Entscheid EL 2019/42 erst der rechtskräftige Abschluss des IV-Rentenverfahrens die Aufhebung der Verfahrenssistierung erlauben kann, denn der Entscheid EL 2019/42 des Versicherungsgerichtes ist noch nicht rechtskräftig und damit noch nicht bindend. Das Vorgehen der Beschwerdeführerin kann nicht als derart offensichtlich unsinnig qualifiziert werden, dass es der Beschwerdegegnerin erlaubt gewesen wäre, das erneute Begehren um die Aufhebung der Verfahrenssistierung zu ignorieren. Die Beschwerdegegnerin hätte das erneute Gesuch um die Aufhebung der Verfahrenssistierung also behandeln müssen. In Gutheissung der Rechtsverweigerungsbeschwerde vom 5. Dezember 2019 ist sie aufzufordern, unverzüglich über das erneute Gesuch um Aufhebung der Verfahrenssistierung zu entscheiden, das heisst eine entsprechende verfahrensleitende Verfügung zu erlassen.
2.
Gerichtskosten sind keine zu erheben (Art. 61 lit. a ATSG). Die obsiegende Beschwerdeführerin hat einen Anspruch auf eine Parteientschädigung. Der erforderliche Vertretungsaufwand ist als minimal zu qualifizieren, da der massgebende Sachverhalt dem Rechtsvertreter bestens bekannt gewesen ist und da sich die juristische Argumentation im Wesentlichen auf eine Wiederholung der in der ersten Beschwerde (EL 2019/42) vorgebrachten Argumente beschränkt hat. Die
Parteientschädigung ist deshalb auf 500 Franken (einschliesslich Barauslagen und Mehrwertsteuer) festzusetzen.
Entscheid
im Zirkulationsverfahren gemäss Art. 39 VRP
1.
In Gutheissung der Rechtsverweigerungsbeschwerde vom 5. Dezember 2019 wird die Beschwerdegegnerin angewiesen, eine verfahrensleitende Verfügung im Sinne der Erwägungen zu erlassen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin mit 500 Franken zu entschädigen.
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