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Urteil Versicherungsgericht (SG)

Kopfdaten
Kanton:SG
Fallnummer:EL 2017/50
Instanz:Versicherungsgericht
Abteilung:EL - Ergänzungsleistungen
Versicherungsgericht Entscheid EL 2017/50 vom 20.06.2018 (SG)
Datum:20.06.2018
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:Entscheid Art. 58 ATSG. Örtliche Zuständigkeit im Ergänzungsleistungsrecht. Unechte Gesetzeslücke für den Fall eines Wohnsitzwechsels unmittelbar vor der Beschwerdeerhebung (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 20. Juni 2018, EL 2017/50).
Schlagwörter: Kanton; Beschwerde; Kantons; Versicherung; Versicherungsgericht; Recht; örtlich; Thurgau; Ergänzungsleistung; Wohnsitz; Person; Einsprache; Zuständigkeit; örtliche; Gallen; Kantonale; Beschwerdeerhebung; Kantonalrechtlich; Behandlung; Bundes; Einspracheentscheid; Systematische; Zuständig; Kantonalrechtliche; Entscheid; Historische; Anknüpfung; Einheitliche; Bezug; Gericht
Rechtsnorm: Art. 58 ATSG ; Art. 86 KVG ;
Referenz BGE:-
Kommentar zugewiesen:
Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017
Weitere Kommentare:-
Entscheid
Entscheid vom 20. Juni 2018

Besetzung

Präsident Ralph Jöhl, Versicherungsrichterinnen Monika Gehrer-Hug und Karin Huber-

Studerus; Gerichtsschreiber Tobias Bolt Geschäftsnr.

EL 2017/50

Parteien

  1. ,

    Beschwerdeführerin,

    gegen

    Sozialversicherungszentrum Thurgau, Rechts- und Einsprachedienst, Postfach, 8501 Frauenfeld,

    Beschwerdegegnerin,

    Gegenstand

    Ergänzungsleistung zur AHV (Herabsetzung und Rückforderung) Sachverhalt

    A.

    1. A. bezog im Kanton Thurgau Ergänzungsleistungen zu einer Rente der Invalidenversicherung. Nachdem die EL-Durchführungsstelle des Kantons Thurgau Kenntnis davon erhalten hatte, dass A. bereits ab dem 1. Februar 2015 zwei deutsche Renten bezogen hatte, die bei der EL-Anspruchsberechnung nicht berücksichtigt worden waren, setzte sie die laufende Ergänzungsleistung mit einer Verfügung vom 4. Mai 2016 rückwirkend per 1. Februar 2015 herab; gleichzeitig forderte sie von A. unrechtmässig bezogene Ergänzungsleistungen von total 24’140 Franken zurück (EL-act. 85).

    2. Am 20. Mai 2016 erhob A. bei der EL-Durchführungsstelle des Kantons Thurgau eine Einsprache gegen die Verfügung vom 4. Mai 2016 (EL-act. 87). Im Oktober 2017 verlegte sie ihren Wohnsitz in den Kanton St. Gallen (EL-act. 119). Mit einem Einspracheentscheid vom 17. November 2017 korrigierte die EL- Durchführungsstelle des Kantons Thurgau die angefochtene Verfügung vom 4. Mai 2016 zu Ungunsten von A. (sog. reformatio in peius; EL-act. 127).

B.

    1. Am 25. November 2017 erhob A. bei der EL-Durchführungsstelle des Kantons Thurgau einen – nicht unterzeichneten – „Einspruch“ gegen den Einspracheentscheid vom 17. November 2017 (act. G 1.1). Diese leitete die Eingabe „zur weiteren Veranlassung“ an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen weiter (act. G 1). Am 13. Dezember 2017 forderte das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen

      A. auf, die Beschwerdeschrift zu verbessern (act. G 2). Dieser Aufforderung kam A. am 22. Januar 2018 nach (act. G 5). Am 2. Mai 2018 hielt das

      Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen A. an, die Beschwerdeschrift auch noch zu unterzeichnen (act. G 9). Die unterzeichnete Beschwerde ging am 5. Mai 2018 bei der EL-Durchführungsstelle des Kantons Thurgau ein (vgl. die handschriftliche Notiz auf act. G 1). Diese leitete die Eingabe am 7. Mai 2018 an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen weiter (act. G 11).

    2. Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen sah davon ab, die EL- Durchführungsstelle des Kantons Thurgau zur Beschwerdeantwort aufzufordern, sondern prüfte direkt seine örtliche Zuständigkeit zur Behandlung der Beschwerde.

Erwägungen

1.

    1. Laut dem Art. 58 Abs. 1 ATSG ist das Versicherungsgericht jenes Kantons örtlich zuständig zur Behandlung einer Beschwerde gegen einen Einspracheentscheid, in dem die versicherte Person im Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung ihren Wohnsitz hat. Anders als beispielsweise das IVG sieht das ELG keine Abweichung von diesem Grundsatz vor. Im Bereich der Ergänzungsleistungen bestimmt sich die örtliche Zuständigkeit zur Behandlung einer Beschwerde folglich ausschliesslich nach dem Art. 58 Abs. 1 ATSG.

    2. Der Wortlaut des Art. 58 Abs. 1 ATSG ist klar: Die örtliche Zuständigkeit bestimmt sich nach dem Wohnsitz der versicherten Person im Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung. Für die Auslegung einer Gesetzesnorm ist allerdings nicht allein deren Wortlaut massgebend, selbst wenn er als noch so klar erscheint. Eine sorgfältige Interpretation hat auch den Willen des historischen Gesetzgebers, den systematischen Kontext der Norm und den Sinn und Zweck der Bestimmung zu berücksichtigen.

    3. Den Materialien zum ATSG lässt sich entnehmen, dass der Art. 58 Abs. 1 ATSG weitgehend dem früheren Art. 86 Abs. 3 KVG (der allerdings alternativ eine örtliche Zuständigkeit am Sitz der Versicherung vorgesehen hatte) entspricht. Mit dieser (eingeschränkten) Anleihe an die frühere krankenversicherungsrechtliche Lösung hat der historische Gesetzgeber den Grundsatz verankern wollen, dass sich der Gerichtsstand nach dem Wohnsitz der versicherten Person bestimmt (vgl. den Bericht

      der Kommission des Nationalrates für soziale Sicherheit und Gesundheit vom 26. März 1999, BBl 1999 4620). Damit sollte nicht nur ein einheitliches Anknüpfungskriterium für die örtliche Zuständigkeit geschaffen, sondern auch sichergestellt werden, dass sich jenes Gericht mit einer Streitsache befasst, das dem zu beurteilenden Sachverhalt am nächsten steht (vgl. dazu auch UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 3. Aufl. 2015, Art. 58 N 16). An den eher seltenen Fall, dass die versicherte Person ihren Wohnsitzkanton im Zeitraum zwischen der Einsprache- und der Beschwerdeerhebung wechselt, hat der historische Gesetzgeber aber offenbar nicht gedacht.

    4. In systematischer Hinsicht ist massgebend, dass die Bundessozialversicherungszweige einen unterschiedlich starken Bezug zum kantonalen Recht aufweisen. Die erste Säule (AHV/IV), die Unfall- und die Militärversicherung richten sich beispielsweise ausschliesslich nach Bundesrecht. Die Familienzulagen sind dagegen weitgehend kantonalrechtlich geregelt; die entsprechenden Bundesgesetze (FamZG; FLG) enthalten lediglich gewisse vereinheitlichende Rahmenbestimmungen. Dementsprechend sieht der Art. 22 FamZG Vor, dass sich die örtliche Zuständigkeit zur Behandlung einer Beschwerde in Abweichung vom Art. 58 Abs. 1 ATSG danach bestimmt, welche (kantonale) Familienzulagenordnung anwendbar ist. Selbst das AHVG und das IVG sehen allerdings trotz der fehlenden kantonalrechtlichen Bezüge vor, dass nicht das Versicherungsgericht am Wohnsitz der versicherten Person, sondern jenes am Ort der verfügenden Ausgleichskasse beziehungsweise IV-Stelle örtlich zuständig ist. Die jährliche Ergänzungsleistung ist zwar weitgehend bundesrechtlich geregelt. Die Kantone können aber ergänzende Vorschriften betreffend die jährliche Ergänzungsleistung erlassen, weshalb diese einen starken kantonalrechtlichen Bezug aufweist. Die zweite Komponente der Ergänzungsleistung, die Vergütung von Krankheits- und Behinderungskosten, richtet sich sogar fast ausschliesslich nach kantonalem Recht. Das Bundesgesetz enthält nur einige Minimal- und Rahmenvorschriften. Gesamthaft zeichnet sich das Ergänzungsleistungsrecht also durch einen gewichtigen kantonalrechtlichen Bezug aus. In systematischer Hinsicht drängt sich deshalb eine örtliche Zuständigkeitsregelung auf, die diesem Umstand Rechnung trägt, denn andernfalls wäre ein kantonales Versicherungsgericht gezwungen, anstelle des für es einzig massgebenden Bundes- und kantonalen Rechts ausserkantonale Bestimmungen anzuwenden, was verfassungsrechtlich gar nicht

      zulässig wäre. Massgebendes Recht für ein kantonales Versicherungsgericht kann aber nur das Bundesrecht und das Recht des eigenen Kantons sein; das Recht eines anderen Kantons gehört dagegen nicht zum geltenden Recht. Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen kann weder berechtigt noch verpflichtet sein, die Anwendung thurgauischen EL-Rechts (z.B. betreffend die Höchstbeträge der Heimtaxen oder betreffend Krankheits- und Behinderungskosten) durch die EL- Durchführungsstelle des Kantons Thurgau auf ihre Gesetzmässigkeit zu überprüfen. Die Zuständigkeitsordnung müsste im Ergänzungsleistungsrecht also so ausgestaltet sein, dass die Anwendung von ausserkantonalem „Nicht-Recht“ vermieden würde. Sie müsste folglich eher jener im Familienzulagenrecht (das ebenfalls stark kantonalrechtlich geprägt ist) als jener im Unfall- oder Militärversicherungsrecht (das ausschliesslich bundesrechtlich geregelt ist) entsprechen. Aus systematischer Sicht ist das Fehlen einer entsprechenden Abweichung vom Art. 58 Abs. 1 ATSG somit als eine (unechte) Gesetzeslücke zu qualifizieren.

    5. Der Art. 58 Abs. 1 ATSG verfolgt zwei Ziele: Erstens will er ein einheitliches Anknüpfungskriterium schaffen und zweitens will er einen engen sachlichen Bezug zwischen dem Verwaltungs- und dem Beschwerdeverfahren herstellen. Hinsichtlich der Schaffung eines einheitlichen Anknüpfungskriteriums spielt es keine Rolle, ob am Wohnsitz der versicherten Person, am Sitz der Versicherung oder daran angeknüpft wird, welches kantonale Recht zur Anwendung kommt. Jedes dieser Kriterien ermöglicht eine einheitliche örtliche Zuständigkeitsordnung. Bezüglich des engen sachlichen Bezuges hat der historische Gesetzgeber zwar dem Wohnsitz der versicherten Person den Vorzug gegeben, womit er wohl hat erreichen wollen, dass diese ein allfälliges Beschwerdeverfahren dort führen kann, wo sie sich am besten auskennt. Dabei hat er aber offenbar übersehen, dass dieses von ihm gewählte Anknüpfungskriterium das angestrebte Ziel verfehlt, wenn die versicherte Person ihren Wohnsitz erst kurz vor der Beschwerdeerhebung verlegt hat, weil sie dann ja nicht am („gewohnten“) „alten“ Ort Beschwerde führen kann, sondern ge¬zwungen ist, sich am (noch „fremden“) „neuen“ Ort gegen einen Entscheid eines Versicherungsträgers zu wehren. Die Anknüpfung am Wohnsitz der versicherten Person im Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung steht in einem solchen (eher ungewöhnlichen) Fall also dem Sinn und Zweck des Art. 58 Abs. 1 ATSG diametral entgegen. In sachlicher Hinsicht führt sie zum stossenden Ergebnis, dass das kantonale Versicherungsgericht an sich das Recht

      eines anderen Kantons anwenden müsste oder dass es, was rein theoretisch ebenfalls in Frage käme, nach seinem eigenen einschlägigen Recht einen Einspracheentscheid beurteilen müsste, der auf dem Recht eines anderen Kantons beruhte, was zumindest aus der Sicht der Gleichbehandlung aller EL-Bezüger jenes anderen Kantons zu unerträglichen Resultaten führen würde. Da die örtliche Zuständigkeit der kantonalen Versicherungsgerichte für alle Fälle gleich geregelt sein muss, muss das oben Ausgeführte auch dann gelten, wenn ein Beschwerdeverfahren nur bundesrechtliche Bestimmungen beschlägt. Die teleologische Auslegung spricht folglich ebenfalls für das Vorliegen einer (unechten) Gesetzeslücke.

    6. Zusammenfassend lassen die historische, die systematische und die teleologische Interpretation für den Fall, dass eine versicherte Person ihren Wohnsitz nach der Ein- sprache-, aber vor der Beschwerdeerhebung in einen anderen Kanton verlegt hat, nur die Lösung zu, dass vom Wortlaut des Art. 58 Abs. 1 ATSG abgewichen wird. Für die Behandlung einer Beschwerde im Bereich des Ergänzungsleistungsrechtes (lückenfüllend) ist demnach nicht das Versicherungsgericht jenes Kantons örtlich zuständig, in dem die versicherte Person zum Zeitpunkt der Beschwerdeerhebung ihren Wohnsitz hat, sondern vielmehr das Versicherungsgericht jenes Kantons, dessen kantonalrechtliches Ergänzungsleistungsrecht im angefochtenen Einspracheentscheid zur Anwendung gekommen ist. Vorliegend geht es zwar hauptsächlich um die Frage nach der Rechtmässigkeit einer rückwirkenden Revision und Rückforderung infolge der Anrechnung von zwei zuvor nicht bekannten deutschen Renten, aber das ändert nichts am Umstand, dass die Streitsache kantonalrechtliche Bezüge aufweist und dass die Beschwerdeführerin das Beschwerdeverfahren am („gewohnten“) „alten“ Ort, nämlich im Kanton Thurgau, soll führen können. Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen ist deshalb zur Behandlung der Beschwerde vom 25. November 2017 örtlich nicht zuständig (vgl. zum Ganzen auch den Entscheid EL 2017/16 des St. Galler Versicherungsgerichtes vom 15. und 17. Mai 2018). Die Beschwerde ist nach Eintritt der Rechtskraft des vorliegenden Entscheides zur Behandlung dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau zu überweisen.

2.

Gerichtskosten sind keine zu erheben. Die unterliegende A. hat keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung.

Entscheid

im Zirkulationsverfahren gemäss Art. 39 VRP

1.

Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.

2.

Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.

Die Beschwerde vom 25. November 2017 gegen den Einspracheentscheid der EL- Durchführungsstelle Thurgau vom 17. November 2017 wird zuständigkeitshalber dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau überwiesen. .

Quelle: https://www.sg.ch/recht/gerichte/rechtsprechung.html
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