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Urteil Versicherungsgericht (SG)

Kopfdaten
Kanton:SG
Fallnummer:AVI 2016/69
Instanz:Versicherungsgericht
Abteilung:AVI - Arbeitslosenversicherung
Versicherungsgericht Entscheid AVI 2016/69 vom 18.12.2017 (SG)
Datum:18.12.2017
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:Entscheid Art. 30 Abs. 1 lit. a AVIG, Art. 44 Abs. 1 lit. b AVIV, IAO-Übereinkommen (SR 0.822.726.8). Einstellung in der Anspruchsberechtigung wegen Selbstkündigung. Da die Arbeitgeberin während Jahren gegen arbeitsrechtliche Bestimmungen verstossen hat, was der Beschwerdeführer im Rahmen einer Zeugeneinvernahme in einem Verfahren eines anderen Mitarbeiters erfuhr, war ihm eine Fortführung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr zumutbar bzw. lagen triftige Gründe für seine Kündigung vor (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 18. Dezember 2017, AVI 2016/69).
Schlagwörter: Arbeit; Beschwerde; Arbeitgeber; Stunden; Arbeitgeberin; Beschwerdeführer; Arbeitsverhältnis; Recht; Tarbeit; Stunden; Gericht; Einsprache; Zumutbar; Beschwerdegegnerin; Person; Stundenrapporte; Kündigung; Überstunden; Umstände; Ehemalige; Rechtsvertreterin; Mitarbeiter; Arbeitsverhältnisses; Bestimmungen; Zeuge; Einstelltage; Arbeitslosigkeit
Rechtsnorm: Art. 17a ArG ;
Referenz BGE:124 V 236; 124 V 238;
Kommentar zugewiesen:
Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017
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Entscheid
Entscheid vom 18. Dezember 2017

Besetzung

Präsidentin Marie Löhrer, Versicherungsrichterinnen Michaela Machleidt Lehmann und Marie-Theres Rüegg Haltinner; Gerichtsschreiberin Jeannine Bodmer

Geschäftsnr. AVI 2016/69

Parteien

  1. ,

    Beschwerdeführer,

    vertreten durch Rechtsanwältin Saila Ruibal, Pedrazzini Ruibal, Vadianstrasse 35, Postfach 115, 9001 St. Gallen,

    gegen

    UNIA Arbeitslosenkasse Kompetenzzentrum D-CH Ost, Strassburgstrasse 11, Postfach, 8021 Zürich 1,

    Beschwerdegegnerin,

    Gegenstand

    Einstellung in der Anspruchsberechtigung (Selbstkündigung) Sachverhalt

    A.

    1. A. meldete sich am 9. November 2015 beim Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) zur Arbeitsvermittlung an (act. G 3.1.23) und beantragte ab 1. Januar 2016 bei der Unia Arbeitslosenkasse (nachfolgend: Unia) Arbeitslosenentschädigung. Der Versicherte hatte sein seit Dezember 2011 bestehendes Arbeitsverhältnis mit der B. wegen schlechter Arbeitsbedingungen am

      23. Oktober 2015 per Ende Dezember 2015 gekündigt (act. G 3.1.17, 11).

    2. Auf Anfrage der Unia zum Kündigungsgrund führte der Versicherte im Schreiben vom 23. Januar 2016 aus, er habe für seine Arbeitgeberin mehr als vier Jahre immer mit sehr vielen Überstunden und ohne Pausen gearbeitet. Auch habe er nie einen Sonntag frei gehabt und ihm seien weder Überstunden noch ein Nachtzuschlag ausbezahlt worden. Das Arbeitsklima sei kompliziert gewesen, da alle immer unter sehr hohem Druck gestanden seien. Schliesslich habe die Arbeitgeberin auch die Quellensteuer nicht korrekt abgezogen und es habe für ein paar Monate keinen Abzug für BVG- Beiträge gegeben (act. G 3.1.8).

    3. Mit Schreiben vom 5. Februar 2016 teilte die Arbeitgeberin der Unia mit, dass die erhobenen Vorwürfe des Versicherten nicht stimmen würden. Überstunden seien immer ausbezahlt worden und der Versicherte verfüge über eine gesamte Überstunden- und Ferienabrechnung sowie eine BVG- und Quellensteuerabrechnung

      und werde das aus diesen Abrechnungen resultierende Guthaben bis 29. Februar 2016 erhalten. Aus Sicht der Arbeitgeberin habe es keinen Grund für die Kündigung gegeben. Auch habe der Versicherte nie das Gespräch gesucht oder sich beschwert (act. G 3.1.7).

    4. Am 16. Februar 2016 forderte die Unia vom Versicherten die Stundenrapporte ein

      (act. G 3.1.6 S. 202). Diese gingen bei ihr am 23. Februar 2016 ein (act. G 3.1.6).

    5. Mit Verfügung vom 4. April 2016 stellte die Unia den Versicherten wegen selbstverschuldeter Arbeitslosigkeit ab 1. Januar 2016 für 31 Tage in der Anspruchsberechtigung ein. Da sie das Verbleiben an der ehemaligen Arbeitsstelle bis zum Finden einer neuen Stelle als zumutbar erachte, gelte die Arbeitslosigkeit als selbstverschuldet und müsse sanktioniert werden (act. G 3.1.5).

B.

    1. Gegen diese Verfügung liess der Versicherte durch Rechtsanwältin S. Ruibal, St. Gallen, am 6. Mai 2016 Einsprache erheben. Die Rechtsvertreterin machte geltend, dass der Versicherte im Zeitpunkt, als er den Arbeitsvertrag unterschrieben habe, noch kein Deutsch gesprochen habe und ihm nicht bewusst gewesen sei, dass er mit der Unterzeichnung auf zusätzliche Entschädigungen verzichtete. Zudem sei dem Versicherten die Überzeit nicht ausbezahlt worden. Der Versicherte mache seine Überzeit erst seit Oktober 2015 geltend, da ihm seine Rechte erst auf Grund eines Gerichtsverfahrens eines Mitarbeiters gegen die Arbeitgeberin bewusst geworden seien. Weiter habe der Versicherte ebenfalls gegen Oktober 2015 feststellen müssen, dass von den Stundenaufstellungen zwei Versionen bestanden hätten, eine sei von ihm erstellt worden und die zweite - mit weniger Stunden - von einer anderen Person. Dieser Umstand habe ebenfalls dazu geführt, dass er das Arbeitsverhältnis als unzumutbar erachtet habe. Sodann habe der Versicherte nie eine zeitliche Kompensation für Nachtarbeit erhalten, wie sie das Gesetz vorschreibe. Der

      Versicherte habe im Oktober 2015 als Zeuge bei einem Gerichtsverfahren eines ehemaligen Mitarbeiters gegen die Arbeitgeberin aussagen müssen. Dabei habe er erfahren, dass Überzeitkompensation sowie Kompensation für die Nachtarbeit geschuldet seien. Die Gratifikationen, welche die Arbeitgeberin zum Teil ausgezahlt habe, hätten die geschuldeten Kompensationen für die geleistete Überzeit und Nachtarbeit nicht gedeckt. Zudem hätten nicht einmal Pausen absolviert werden dürfen. Ebenso habe der Versicherte erfahren, dass die Arbeitgeberin die Stundenaufstellungsblätter eigenhändig neu aufgestellt und nach unten korrigiert habe. Diese Umstände hätten dazu geführt, dass er sich im Oktober 2015 gegen die Arbeitgeberin gewehrt bzw. seine Rechte eingefordert habe. Diese sei darauf aber nicht eingegangen. Vielmehr habe sie ab Juli 2015, als der Versicherte die Vorladung für den Gerichtstermin erhalten habe, begonnen, den Versicherten und seine ebenfalls im Betrieb arbeitende Ehefrau massiv unter Druck zu setzen und schon fast zu bedrohen, damit er zu ihren Gunsten aussage. Auf Grund seiner wahrheitsgemässen Aussagen vor Gericht, welche zum Obsiegen des Mitarbeiters geführt hätten, habe die Arbeitgeberin auf den Versicherten und seine Ehefrau noch mehr Druck ausgeübt. Daher habe sich der Versicherte gezwungen gesehen, das Arbeitsverhältnis aufzulösen. Die Arbeitsumstände seien nicht mehr haltbar gewesen. Der Vollständigkeit halber führte die Rechtsvertreterin aus, dass die Arbeitgeberin dem Versicherten nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses einen Betrag als Entschädigung der Überzeit überwiesen habe. Zusätzlich habe sie ihm auch erst zu diesem Zeitpunkt die Differenz zu den vom Lohn abgezogenen Quellensteuern bezahlt. Sie habe systematisch zu viel vom Lohn abgezogen, wovon der Versicherte erst auf Grund des Prozesses Kenntnis erhalten habe. Diese Zahlungen der Arbeitgeberin seien sehr wahrscheinlich deshalb erfolgt, weil sie das eine Gerichtsverfahren verloren und der Versicherte mit einem weiteren Verfahren gedroht habe (act. G 3.1.4).

    2. Auf Nachfrage der Unia reichte die Rechtsvertreterin des Versicherten mit Schreiben vom 20. September 2016 Stundenrapporte sowie die Vereinbarungen ein, welche nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses mit der Arbeitgeberin getroffen worden waren. Weiter führte sie aus, der Versicherte habe im Oktober 2015, also noch vor der Kündigung, versucht, seine Rechte geltend zu machen. Darauf sei die Arbeitgeberin jedoch nicht eingegangen. Vielmehr habe sie den Versicherten auf Grund seiner Vorladung zur Zeugeneinvernahme im Prozess des ehemaligen Mitarbeiters

      gegen die Arbeitgeberin fast schon bedroht und nach seinen wahrheitsgemässen Aussagen vor Gericht beinahe gemobbt. Daher sei die Aufrechterhaltung des Arbeitsverhältnisses - wie auch aus den weiteren Gründen - nicht mehr zumutbar gewesen (act. G 3.1.3).

    3. Gestützt auf diese Argumente befragte die Unia die ehemalige Arbeitgeberin des Versicherten. Diese bestritt in der Stellungnahme vom 11. Oktober 2016, dass sich das Arbeitsverhältnis wegen des Gerichtsprozesses im Oktober 2015 verändert oder verschlechtert habe. Alles sei ganz normal gelaufen wie immer. Hinsichtlich der Stundenrapporte hielt sie fest, dass der Versicherte auf diesen den Arbeitsbeginn und das Arbeitsende aufgeführt habe. In den aufgeschriebenen Stunden sei immer eine Stunde Pause inbegriffen, wie aus der Schlussabrechnung ersichtlich sei (act. G 3.1.2).

    4. Mit Einspracheentscheid vom 19. Oktober 2016 wies die Unia die Einsprache ab. Zur Begründung führte sie aus, sie habe den Sachverhalt nochmals eingehend geprüft. Aus den Stundenrapporten des Versicherten gehe hervor, dass dieser viele Arbeitsstunden habe leisten müssen. Trotzdem sei es ihm zumutbar gewesen, an der Stelle zu verbleiben und die nicht bezahlten Überstunden gerichtlich einzufordern. Dies habe er ja später auch getan. Zudem habe die Arbeitgeberin nicht bestätigt, dass sich das Arbeitsverhältnis infolge der Zeugenaussage des Versicherten verschlechtert habe. Aus arbeitslosenversicherungsrechtlicher Sicht sei es dem Versicherten daher zumutbar gewesen, an der Stelle zu verbleiben bis er eine neue Stelle gefunden hätte (act. G 3.1.1).

C.

    1. Gegen diesen Entscheid richtet sich die vorliegende Beschwerde vom 18. November 2016 mit dem Antrag auf dessen Aufhebung und auf angemessene Reduktion der Einstelltage auf Grund eines leichten Verschuldens; unter Kosten- und Entschädigungsfolgen. Die Rechtsvertreterin des Versicherten bestreitet die Zumutbarkeit des Verbleibens an der bisherigen Stelle nicht mehr. Sie beantragt jedoch, dass die tatsächlichen Umstände bei der Bemessung der Anzahl Einstelltage zu berücksichtigen seien und nicht von einem schweren Verschulden auszugehen sei.

      Die Begründung hinsichtlich der besonderen Umstände deckt sich im Wesentlichen mit der Schilderung in der Einsprache (act. G 1).

    2. Mit Beschwerdeantwort vom 13. Dezember 2016 beantragt die Beschwerdegegnerin die Beschwerdeabweisung. Sie begründet dies im Wesentlichen damit, dass der Beschwerdeführer der Arbeitgeberin nicht genügend Zeit gegeben habe, sich mit seinen Forderungen auseinanderzusetzen. So sei die Gerichtsverhandlung betreffend den ehemaligen Mitarbeiter am 19. Oktober 2015 gewesen und bereits vier Tage später am 23. Oktober 2015 habe er die Kündigung eingereicht. Aus Sicht der Beschwerdegegnerin habe zum damaligen Zeitpunkt kein Grund bestanden, das Arbeitsverhältnis ohne Zusicherung einer neuen Stelle aufzulösen. Schliesslich könne der Beschwerdeführer weder beweisen, dass sich am Arbeitsverhältnis infolge der Gerichtsverhandlung etwas geändert habe, noch könne er beweisen, dass er - entgegen der Aussage der Arbeitgeberin - keine Pausen habe absolvieren dürfen. Da er die Kündigung eingereicht habe, sei er in der Beweispflicht und trage die Folgen der Beweislosigkeit. Dennoch habe die Beschwerdegegnerin bereits bei der Festlegung der Anzahl Einstelltage berücksichtigt, dass das Arbeitsklima nach der Zeugenaussage gegen die Arbeitgeberin nicht mehr optimal gewesen sein dürfte (act. G 3).

    3. Mit Replik vom 27. Januar 2017 führt die Rechtsvertreterin aus, dass die besonderen Umstände bei der Festlegung der Anzahl Einstelltage von der Beschwerdegegnerin nicht hatten berücksichtigt werden können, da ihr diese erst mit der Einsprache vom 6. Mai 2016 mitgeteilt worden seien. Da sie bereits am 4. April 2016 31 Einstelltage verfügt habe, hätten diese Umstände nicht in die Bemessung einfliessen können (act. G 5).

    4. In der Duplik vom 3. Februar 2017 hält die Beschwerdegegnerin an ihren Anträgen fest und bestreitet, dass sie erst mit der Einsprache über die besonderen Verhältnisse informiert worden sei. Diese seien im Einspracheverfahren lediglich noch ausführlicher geschildert worden (act. G 7).

Erwägungen

1.

    1. Anfechtungsgegenstand bildet der mit der vorliegenden Beschwerde angefochtene Einspracheentscheid vom 19. Oktober 2016. Der Beschwerdeführer ficht zwar in der Beschwerde lediglich die Höhe der von der Beschwerdegegnerin verfügten Einstelltage an und verlangt deren angemessene Senkung. Dabei ist auf Grund der Offizialmaxime auch zu prüfen, ob die Einstellung als solche zu Recht erfolgt ist.

    2. Nach Art. 30 Abs. 1 lit. a des Bundesgesetzes über die Arbeitslosenversicherung und Insolvenzentschädigung (AVIG; SR 837.0) ist die versicherte Person in der Anspruchsberechtigung einzustellen, wenn sie durch eigenes Verschulden arbeitslos ist. Selbstverschuldet ist die Arbeitslosigkeit namentlich dann, wenn die versicherte Person das Arbeitsverhältnis von sich aus aufgelöst hat, ohne dass ihr eine andere Stelle zugesichert war, es sei denn, dass ihr das Verbleiben an der Arbeitsstelle nicht zugemutet werden konnte (Art. 44 Abs. 1 lit. b der Verordnung über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung [AVIV; SR 837.02]). Im Bereich der freiwilligen Stellenaufgabe findet demnach das sozialversicherungsrechtliche Schadenminderungsprinzip seine Grenze bei der Zumutbarkeit.

    3. Im Weiteren ist bei der Prüfung der Frage, ob eine Sanktion wegen Selbstaufgabe der Stelle im Sinne von Art. 44 Abs. 1 lit. b AVIV zulässig ist, das Übereinkommen Nr. 168 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) über die Beschäftigungsförderung und den Schutz gegen Arbeitslosigkeit vom 21. Juni 1988 (nachfolgend IAO- Übereinkommen; SR 0.822.726.8) zu beachten, das für die Schweiz am 17. Oktober 1991 in Kraft getreten ist. Nach Art. 20 lit. c des Übereinkommens können Leistungen der Arbeitslosenversicherung verweigert, zum Ruhen gebracht oder gekürzt werden, wenn die zuständige Stelle festgestellt hat, dass die betreffende Person ihre Beschäftigung freiwillig („volontairement“) ohne triftigen Grund („sans motif légitime“) aufgegeben hat. Da diese Bestimmung inhaltlich hinreichend bestimmt und klar ist, ist sie im Einzelfall direkt anwendbar und geht den nationalen Bestimmungen über den Erlass von Einstellungsverfügungen vor (BGE 124 V 236 f. E. 3c). Damit sind bei einer völkerrechtskonformen Auslegung von Art. 44 Abs. 1 lit. b AVIV bzw. bei der Zumutbarkeitsprüfung die gesamten Umstände der versicherten Person zu berücksichtigen (BORIS RUBIN, Commentaire de la loi sur l’assurance-chômage, Genf/ Zürich/Basel 2014, N 36 f. zu Art. 30; JACQUELINE CHOPARD, Die Einstellung in der

      Anspruchsberechtigung, Diss. Zürich 1998, S. 80). Es kann nicht von einer freiwilligen Beschäftigungsaufgabe im Sinne des Übereinkommens gesprochen werden, wenn eine versicherte Person nicht von sich aus, sondern vom Arbeitgeber oder durch die Entwicklung am Arbeitsplatz zur Kündigung gedrängt wird. Gleiches gilt für den Fall, dass die versicherte Person für das Verlassen der Stelle legitime Gründe zu nennen vermag (BGE 124 V 238 E. 4b/aa).

    4. Rechtsprechungsgemäss ist der Tatbestand der selbstverschuldeten Arbeitslosigkeit nicht erfüllt, wenn bei Überstunden in gegen das Gesetz oder die vertraglichen Abmachungen verstossender Weise weder ein Ausgleich durch Freizeit noch eine Entlöhnung erfolgt (Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts [EVG; seit 1. Januar 2007: Sozialrechtliche Abteilungen des Bundesgerichts] vom 20. August 2002, C 219/00, E. 2.2).

2.

2.1 Vorliegend ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer am 23. Oktober 2015 sein Arbeitsverhältnis mit der Arbeitgeberin ordentlich auf den 31. Dezember 2015 gekündigt hat (vgl. act. G 3.1.11). Im Arbeitsvertrag vom 28. November 2011 hatte er mit der Arbeitgeberin vereinbart, bei ihr als Bäckerei Mitarbeiter ab 1. Dezember 2011 für Fr. 3‘500.-- brutto pro Monat zu arbeiten. Die Arbeitszeit sollte nach Vereinbarung erfolgen. Im Weiteren wurde festgehalten, dass keine Zulagen oder Gratifikationen geschuldet seien. Falls im Vertrag nichts anderes vereinbart sei, würden die Bestimmungen des Schweizerischen Obligationenrechts gelten (act. G 3.1.12 S. 252). Mit Vereinbarung vom 29. Februar 2012 wurde eine Lohnveränderung ab 1. März 2012

„von Fr. 3‘500.-- bis Fr. 4‘300.--„ festgelegt. In diesem Gehalt seien Nacht- und Wochenendarbeit, Überstunden, Feiertage usw. enthalten (act. G 3.1.12 S. 253). Wie aus den vorliegenden Stundenrapporten der Monate Februar bis Dezember 2015 hervorgeht (vgl. act. G 3.1.6, vgl. auch die Stundenrapporte von Dezember 2013 bis Januar 2015, act. G 3.1.3 S. 70 ff.), arbeitete der Beschwerdeführer beispielsweise in der Woche vom 16. März 2015 (Montag) bis 21. März 2015 (Samstag) am 16. März

2015 von 23:00 Uhr bis 9:45 Uhr und damit 10.75 Stunden, am 17. März 2015 von

23:00 Uhr bis 10:00 Uhr und somit 11 Stunden, am 18. März 2015 von 23:00 Uhr bis

9:00 Uhr, also 10 Stunden, am 19. März 2015 von 20:45 Uhr bis 9:00 Uhr und damit

12.25 Stunden, am 20. März 2015 von 20:30 Uhr bis 8:00 Uhr, also 11.5 Stunden sowie

am 21. März 2015 von 20:30 Uhr bis (wohl) 6:00 Uhr (etwas unleserlich), was 9.5 Stunden ergäbe. Auch in der Folgewoche vom 23. bis 29. März 2015 arbeitete der Beschwerdeführer während der Nacht jeweils 10.25 Stunden, 10 Stunden, 9.75 Stunden, 13.5 Stunden, 11.25 Stunden und 9.75 Stunden. In der Woche vom 30. März bis 4. April 2015 kamen schliesslich 10.5 Stunden, 10.75 Stunden, 10 Stunden, 14.5 Stunden, 14.5 Stunden und, was auf Grund der Handnotizen nicht überwiegend klar ist, wohl 11.75 Stunden zusammen. Nicht viel anders sah es gemäss den Stundenrapporten während den übrigen Wochen und Monaten aus. Selbst unter Abzug der vorliegend vom Beschwerdeführer bestrittenen, aber von der Arbeitgeberin behaupteten (und nach Art. 15 Abs. 1 lit. c des Bundesgesetzes über die Arbeit in Industrie, Gewerbe und Handel [ArG; SR 822.11] verlangten) täglichen Pause von einer Stunde, überschritt die tägliche Arbeitszeit des Beschwerdeführers somit oftmals 9 Stunden. Gemäss Art. 17a Abs. 1 ArG darf jedoch die tägliche Arbeitszeit bei Nachtarbeit für den einzelnen Arbeitnehmer 9 Stunden nicht überschreiten. Sie muss (zudem), mit Einschluss der Pausen, innerhalb eines Zeitraumes von zehn Stunden liegen. Damit hatte der Beschwerdeführer offensichtlich über Jahre hinweg Nachtarbeit von zu langer und vor allem gegen das Arbeitsgesetz verstossender Dauer zu vollbringen, was klar unzumutbar war. Es kann deshalb offen bleiben, ob die Arbeitgeberin allenfalls noch gegen weitere zwingende Bestimmungen des Arbeitsgesetzes wie wöchentliche Höchstarbeitszeiten, gesetzlich geschuldete Lohnzuschläge etc. verstossen hatte.

    1. Weiter gilt zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer erst im Rahmen des Prozesses seines ehemaligen Mitarbeiters gegen die Arbeitgeberin erfahren hat, dass jene offenbar bei mehreren ihrer ausländischen Arbeitnehmer zu hohe Quellensteuerabzüge vorgenommen hatte. Dass der aus C. stammende Beschwerdeführer, der der deutschen Sprache nur wenig mächtig war, die hiesigen gesetzlichen Bestimmungen nicht kannte und sich deshalb auch nicht dagegen wehrte, erscheint nachvollziehbar. Die Tatsache, dass die Arbeitgeberin ihm schliesslich nach der Beendigung seines Arbeitsverhältnisses Überstundenentschädigungen (act. G 3.1.100) und zuviel abgezogene Quellensteuern nachzahlte (act. G 3.1.92), beweist jedoch, dass sie während Jahren zwingende arbeitsrechtliche Bestimmungen verletzt und dem Beschwerdeführer Leistungen vorenthalten hatte. Entgegen der

      Argumentation der Beschwerdegegnerin kann bei so massiven Verletzungen gegen das Arbeitsrecht von einer versicherten Person nicht erwartet werden, dass sie ihre gesetzlich gewährten Rechte während des Arbeitsverhältnisses gerichtlich geltend macht. Vielmehr erscheint es verständlich, dass unter solchen Bedingungen das Vertrauensverhältnis gegenüber der Arbeitgeberin erschüttert war und die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar wurde. Schliesslich erscheint auch entgegen den Angaben der Arbeitgeberin glaubhaft, dass sich das Arbeitsklima bereits negativ veränderte, als der Beschwerdeführer mit Schreiben des Kreisgerichts D. vom 6. Juli 2015 vorgeladen wurde, um als Zeuge in einem Verfahren eines anderen Arbeitnehmers gegen die Arbeitgeberin betreffend Forderungen aus Arbeitsrecht zur Einvernahme zu erscheinen, und erst recht, nachdem der Beschwerdeführer in diesem Prozess durch seine Zeugenaussage die Arbeitgeberin belastete (act. G 1.6).

    2. Unter diesen Voraussetzungen kann offen bleiben, ob - wie bereits erwähnt - allenfalls noch weitere Bestimmungen des Arbeitsgesetzes verletzt wurden oder ob die Arbeitgeberin tatsächlich die Stundenrapporte veränderte, wie es der Beschwerdeführer behauptet (vgl. act. G 1.4 und 1.5). Die Bedingungen, unter welchen der Beschwerdeführer arbeiten musste, sind als gesetzeswidrig anzusehen, was ohne Weiteres zur Annahme der Unzumutbarkeit der Stelle im Sinne von Art. 16 Abs. 2 lit. a AVIG führt (vgl. Erwägung 1.4 vorstehend sowie Entscheid des Eidgenössischen Versicherungsgerichts [seit 1. Januar 2007: Sozialrechtliche Abteilungen des Bundesgerichts] vom 8. September 2000, C 184/00, E. 1 unten, e contrario). Der Beschwerdeführer war demnach berechtigt, die Stelle auch ohne Anschlussstelle zu kündigen, weshalb keine Sanktion erfolgen durfte.

    3. In Würdigung der gesamten Umstände ist davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer im Sinne des IAO-Abkommens (vgl. Erwägung 1.3) legitime Gründe für die Kündigung vorgebracht hat. Es ist daher im Lichte des Übereinkommens von der Unzumutbarkeit der Fortführung des Arbeitsverhältnisses auszugehen. Dem Beschwerdeführer war ein weiterer Verbleib bei der ehemaligen Arbeitgeberin über die ordentliche Kündigungsfrist hinaus nicht mehr zumutbar, weshalb der Tatbestand der selbstverschuldeten Arbeitslosigkeit nicht erfüllt ist. Eine Einstellung nach Art. 30 Abs. 1 lit. a AVIG in Verbindung mit Art. 44 Abs. 1 lit. b AVIV fällt somit ausser Betracht.

3.

    1. Nach dem Gesagten ist die Beschwerde gutzuheissen und der angefochtene

      Einspracheentscheid vom 19. Oktober 2016 ist aufzuheben.

    2. Gerichtskosten sind keine zu erheben (Art. 61 lit. a des Bundesgesetzes über den

      Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG; SR 830.1]).

    3. Gemäss Art. 61 lit. g ATSG hat die obsiegende Partei Anspruch auf Ersatz der Parteikosten. Die Parteientschädigung wird vom Versicherungsgericht festgesetzt und ohne Rücksicht auf den Streitwert nach der Bedeutung der Streitsache und nach der Schwierigkeit des Prozesses bemessen. In der Verwaltungsrechtspflege beträgt das Honorar vor Versicherungsgericht nach Art. 22 Abs. 1 lit. b HonO (sGS 963.75) pauschal Fr. 1‘000.-- bis Fr. 12‘000.--. Die Rechtsvertreterin des Beschwerdeführers hat keine Kostennote eingereicht. Das Versicherungsgericht gewährt in arbeitslosenversicherungsrechtlichen Streitigkeiten mit vergleichbarem Aufwand grundsätzlich eine pauschale Entschädigung von Fr. 3‘000.--. Im vorliegenden Fall, den die Rechtsvertreterin parallel zum Fall AVI 2016/70 betreffend die Ehefrau des Beschwerdeführers führte, erscheint auf Grund desselben Sachverhalts und derselben sich stellenden Rechtsfragen eine pauschale Parteientschädigung von (je) Fr. 2‘250.-- (inklusive Barauslagen und Mehrwertsteuer) als angemessen.

Entscheid

im Zirkulationsverfahren gemäss Art. 39 VRP

1.

In Gutheissung der Beschwerde wird der Einspracheentscheid vom 19. Oktober 2016 aufgehoben.

2.

Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.

Die Beschwerdegegnerin hat dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung von Fr.

2‘250.-- (einschliesslich Barauslagen und Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

Quelle: https://www.sg.ch/recht/gerichte/rechtsprechung.html
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