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Urteil Verwaltungsgericht (LU - S 91 446)

Zusammenfassung des Urteils S 91 446: Verwaltungsgericht

Der Text behandelt die rechtliche Definition von Unfällen im Rahmen der obligatorischen Unfallversicherung. Es wird erläutert, dass bei Selbsttötung oder Suizidversuchen die Urteilsfähigkeit des Versicherten entscheidend ist, um Leistungsansprüche geltend machen zu können. Es wird diskutiert, dass die Absicht zur Selbstverletzung oder zum Suizid eine Rolle spielt und eine gewisse Urteilsfähigkeit vorhanden sein muss. Die Auslegung des Gesetzes in Bezug auf die gänzliche Urteilsunfähigkeit wird von den Psychiatern Prof. Dr. E und Prof. Dr. K diskutiert. Es wird betont, dass eine vollständige Urteilsunfähigkeit nur bei schwerwiegenden psychotischen Störungen vorliegt, die die Unsinnigkeit der Handlung nicht erkennen lassen.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts S 91 446

Kanton:LU
Fallnummer:S 91 446
Instanz:Verwaltungsgericht
Abteilung:Sozialversicherungsrechtliche Abteilung
Verwaltungsgericht Entscheid S 91 446 vom 11.12.1992 (LU)
Datum:11.12.1992
Rechtskraft:Diese Entscheidung ist rechtskräftig.
Leitsatz/Stichwort:Art. 37 Abs. 1 UVG; Art. 48 UVV. Diese Bestimmungen setzen eine qualifizierte Urteilsunfähigkeit im Sinne eines vollständigen und nicht bloss graduell stark herabgesetzten Unvermögens, vernunftgemäss zu handeln, voraus. Gänzlich urteilsunfähig ist nur, wer zur Zeit der Tat infolge einer psychotischen Störung wie Wahn oder Raptus vollständig unfähig war, angesichts der realen Gesamtsituation die Unsinnigkeit der Tat einzusehen. Demzufolge muss der Unfallcharakter einer suizidalen Handlung verneint werden, wenn sie lediglich als unverhältnismässig zu bezeichnen ist und nur diesbezüglich eine vollständige Urteilsunfähigkeit besteht.
Schlagwörter: ähig; Unfall; Suizid; Selbsttötung; Suizidversuch; Handlung; Urteilsunfähigkeit; Körper; Absicht; Urteilsfähigkeit; Auslegung; Verschulden; Willen; Sinne; Unfalls; Körperschädigung; Verordnungsgeber; Unfalle; Wortlaut; Suizidversuchs; Zurechnungsfähigkeit; Herbeiführung
Rechtsnorm: Art. 10 StGB ;Art. 16 ZGB ;Art. 37 UVG ;Art. 6 UVG ;
Referenz BGE:100 V 79; 112 V 101; 113 V 62; 115 V 151; 116 V 138;
Kommentar:
-

Entscheid des Verwaltungsgerichts S 91 446

Aus den Erwägungen:

1. - a) Die Zusprechung von Leistungen der obligatorischen Unfallversicherung setzt grundsätzlich das Vorliegen eines Berufsunfalles, Nichtberufsunfalles einer Berufskrankheit voraus (Art. 6 Abs. 1 UVG). Gemäss Art. 9 Abs. 1 UVV gilt als Unfall die plötzliche, nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors auf den menschlichen Körper. Damit wurde im wesentlichen die vom Eidgenössischen Versicherungsgericht in ständiger Rechtsprechung verwendete Definition des Unfalls übernommen (BGE 116 V 138 Erw. 3a und 147 Erw. 2a mit Hinweisen; RKUV 1992 Nr. U 153 S. 203 Erw. 1 a). Hat der Versicherte den Gesundheitsschaden den Tod absichtlich herbeigeführt, so besteht gemäss Art. 37 Abs. 1 UVG kein Anspruch auf Versicherungsleistungen, mit Ausnahme der Bestattungskosten. Wollte sich der Versicherte nachweislich das Leben nehmen sich selbst verstümmeln, so findet Art. 37 Abs. 1 UVG insbesondere dann keine Anwendung, wenn der Versicherte zur Zeit der Tat ohne Verschulden gänzlich unfähig war, vernunftgemäss zu handeln (Art. 48 UVV; BGE 113 V 62 Erw. 2a). Selbsttötung und Suizidversuch sind auch unter der Herrschaft des Art. 37 Abs. 1 UVG gleich zu behandeln. Denn im Willen, sich selbst zu töten, ist notwendigerweise auch die Absicht miteingeschlossen, seinen Körper zu schädigen, unabhängig davon, ob das angestrebte Ziel im Anschluss an die Körperschädigung eintritt nicht (BGE 115 V 151).

b) Bei der unfallversicherungsrechtlichen Behandlung von Selbsttötung und Suizidversuch ist zu beachten, dass nach dem neuen, seit 1. Januar 1984 geltenden Recht der Verordnungsgeber selber die Voraussetzungen umschrieben hat, unter denen diese Tatbestände ausnahmsweise als leistungsbegründende Unfalle gelten. Dies hat der Bundesrat im erwähnten Art. 48 UVV getan, welcher - entgegen seinem Wortlaut - nicht das Anwendungsgebiet des Art. 37 Abs. 1 UVG einschränkt, sondern - von seinem materiellen Gehalt her - den allgemeinen Unfallbegriff gemäss Art. 9 Abs. 1 UVV ergänzt. Dazu war er grundsätzlich befugt. Zu berücksichtigen ist, dass diese Bestimmung im Rahmen einer Selbsttötung eines Suizidversuchs auf die gänzliche Unfähigkeit des Versicherten abstellt, vernunftgemäss zu handeln. Entscheidend ist somit nicht mehr die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit gemäss Art. 10 f. StGB (vgl. BGE 100 V 79), sondern die fehlende Urteilsfähigkeit im Sinne von Art. 16 ZGB. Wo es um zwar schuldhaftes, strafrechtlich aber unerhebliches Verhalten des Versicherten geht, stellt das Sozialversicherungsrecht auch ausserhalb des Bereichs von Selbsttötung und Suizidversuch nicht auf die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit, sondern auf die Urteilsfähigkeit ab, wobei diese in bezug auf die in Frage stehende konkrete Handlung und unter Würdigung der bei ihrer Vornahme herrschenden objektiven und subjektiven Verhältnisse zu prüfen ist (BGE 112 V 101 Erw. 2a; RKUV 1985 Nr. K 609 S. 3). Bei der Prüfung der Urteilsfähigkeit ist sodann die Frage, ob die Tat ohne Wissen und Willen erfolgt sei, nicht entscheidend; denn eine Absicht - sei es auch nur in Form eines völlig unreflektierten, dumpfen Willensimpulses - ist stets festzustellen, sonst liegt keine Selbsttötung bzw. kein Suizidversuch vor. Massgeblich ist einzig, ob im entscheidenden Moment jenes Minimum an Besinnungsfähigkeit zur kritischen, bewussten Steuerung der endothymen, d. h. vor allem der triebhaften innerseelischen Abläufe vorhanden war. Damit eine Leistungspflicht des Unfallversicherers entsteht, muss mit anderen Worten eine Geisteskrankheit, Geistesschwäche usw. nachgewiesen sein, welche im Zeitpunkt der Tat, unter Berücksichtigung der herrschenden objektiven und subjektiven Umstände sowie in bezug auf die in Frage stehende Handlung, die Fähigkeit gänzlich aufgehoben hat, vernunftgemäss zu handeln (BGE 113 V 62 Erw. 2c). Vorbehalten bleibt der Fall einer in bloss verminderter Zurechnungsfähigkeit begangenen Selbsttötung bzw. eines Suizidversuchs, die mit einem versicherten Ereignis in adäquatem Kausalzusammenhang steht (BGE 113 V 62 Erw. 2c; RKUV 1989 Nr. U 84 S. 448 Erw. 2b mit Hinweisen).

2. - Von den im vorliegenden Verfahren mitbeteiligten Psychiatern Prof. Dr. E und Prof. Dr. K ist die Frage nach der Auslegung der «gänzlichen» Urteilsunfähigkeit im Sinne von Art. 48 UVV aufgeworfen worden. Diese Bestimmung mit dem Randtitel «Schuldhafte Herbeiführung des Unfalles» lautet, soweit vorliegend von Interesse, wie folgt: Wollte sich der Versicherte nachweislich das Leben nehmen sich selbst verstümmeln, so findet Art. 37 Abs. 1 des Gesetzes keine Anwendung, wenn der Versicherte zur Zeit der Tat ohne Verschulden gänzlich unfähig war, vernunftgemäss zu handeln....

a) ... (Gesetzesauslegung.)

b) Nach dem Wortlaut von Art. 48 UVV in Verbindung mit Art. 37 Abs. 1 UVG stellt ein Suizid ein Suizidversuch einen Unfall dar, wenn der Versicherte zur Zeit der Tat ohne Verschulden «gänzlich unfähig war, vernunftgemäss zu handeln». Mit dem Wort «gänzlich» setzte der Verordnungsgeber für die Annahme eines Unfalles eine qualifizierte Urteilsunfähigkeit voraus, und zwar im Sinne eines vollständigen und nicht bloss graduell stark herabgesetzten, relativen Unvermögens, vernunftgemäss zu handeln. Immerhin impliziert der Begriff einer suizidalen Handlung, dass eine auf eine Körperschädigung gezielte Absicht vorliegt (vgl. BGE 115 V 151), wenn auch nur in Form eines unreflektierten Willensimpulses (vgl. BGE 113 V 62 Erw. 2c). Insofern kann mit der gänzlichen Urteilsunfähigkeit keine in jeder Hinsicht absolute und totale Urteilsunfähigkeit gemeint sein, weil mangels jeglicher Absicht im Sinne eines eigenen zielgerichteten Handelns Art. 37 Abs. 1 UVG und Art. 48 UVV gar nicht anwendbar sind. Für die Anwendbarkeit dieser Bestimmungen muss ein kleiner Rest von Urteilsfähigkeit hinsichtlich der Selbsttötung bzw. des Suizidversuchs noch vorhanden sein. Liegt aber eine entsprechende Absicht und damit eine suizidale Handlung vor, so stellt sich grundsätzlich die weitere Frage, ob die Urteilsunfähigkeit, welche auf eine konkrete Handlung Bezug nimmt (BGE 112 V 101 Erw. 2a), sich immer auf eine völlig unsinnig erscheinende Tat beziehen muss, ob als relevante Handlung auch eine bloss als unverhältnismässig zu bezeichnende Tat in Betracht fallen kann. Dies kann nicht allein gestützt auf den Wortlaut von Art. 48 UVV beantwortet werden, dessen Text diesbezüglich nicht ganz klar ist und beide Auslegungen zulässt. Es muss daher nach der wahren Tragweite unter Berücksichtigung weiterer Auslegungselemente gesucht werden.

Ausgangspunkt für die Ermittlung des Sinns und Zwecks des Art. 48 UVV bildet die in Art. 37 Abs. 1 UVG vom Gesetzgeber aufgestellte Regel, dass bei - absichtlicher - Herbeiführung des Gesundheitsschadens des Todes keine Leistungspflicht des Unfallversicherers besteht, abgesehen von der Übernahme der Bestattungskosten. Dies leuchtet angesichts der Definition des Unfalls in Art. 9 Abs. 1 UVV auch ohne weiteres ein, wonach dieser in einer plötzlichen - nicht beabsichtigten - schädigenden Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors auf den menschlichen Körper besteht. Wenn der Verordnungsgeber diesen Unfallbegriff in Art. 48 UVV dahingehend ergänzte, dass auch eine - absichtliche - Selbsttötung Selbstverstümmelung als Unfall gilt, wenn es zur Zeit der Tat ohne Verschulden gänzlich an der Urteilsfähigkeit fehlte, so wollte er diese Ausnahme von der Regel der unabsichtlichen Herbeiführung jenes Erfolges in einem engen Sinn verstanden wissen, nämlich bezogen auf eine völlig unsinnig erscheinende Tat. Eine weite Auslegung der gänzlichen Urteilsunfähigkeit dahingehend, dass sie sich auch auf eine bloss als unverhältnismässig zu bezeichnende beabsichtigte Selbsttötung Körperschädigung beziehen könnte, wäre schon mit dem Begriff des Unfalls nicht mehr zu vereinbaren. Ferner hätte eine weite Auslegung von Art. 48 UVV zur Folge, dass die Unfallversicherer entgegen der in Art. 37 Abs. 1 UVG festgelegten Regel doch für eine grosse Zahl von Suizidfällen Versicherungsleistungen zu erbringen hätten, was der Gesetzgeber mit dieser Vorschrift gerade ausschliessen wollte (Botschaft des Bundesrates zum Bundesgesetz über die Unfallversicherung vom 18.8.1976, S. 58; Amtl. Bull. NR, Sitzung vom 15.3.1979, S. 250-253; Amtl. Bull. StR, Sitzung vom 30.9.1980, S. 481/482). Schliesslich ergäben sich auch praktische Abgrenzungsschwierigkeiten, weil es für die Beurteilung der Unverhältnismässigkeit eines Suizids Suizidsversuchs keine objektiven, praktisch anwendbaren Beurteilungskriterien gibt.

Gänzlich urteilsunfähig für eine suizidale Handlung ist nach dem Gesagten nur, wer zur Zeit der Tat infolge einer psychotischen Störung wie Wahn Raptus vollständig unfähig war, angesichts der realen Gesamtsituation die Unsinnigkeit der Tat einzusehen. Unsinnig ist in diesem Zusammenhang z.B. eine suizidale Handlung, wenn eine schizophrene, melancholische hirnkranke Person sich das Leben nehmen will, weil sie sich wahnhaft von einer grausamen Exekution, vom Hungertod von einer unklaren, alptraumartigen Katastrophe bedroht wähnt und sich planmässig (im Wahn) impulsiv (im Raptus) suizidiert, obwohl sie tatsächlich in einer völlig ungefährlichen sozialen Gesamtsituation lebt. Solche Fälle entsprechen nur einer kleiner Minderzahl aller vorkommenden Suizide und Suizidversuche. Demzufolge muss der Unfallcharakter einer suizidalen Handlung verneint werden, wenn sie lediglich als unverhältnismässig zu be-zeichnen ist und nur diesbezüglich eine vollständige Urteilsunfähigkeit besteht. Dies trifft z.B. zu, wenn eine depressive alkoholkranke Person sich planmässig impulsiv das Leben nimmt nehmen will, weil sie in einer an sich realen Belastungssituation gänzlich unfähig ist, ihre realen Zukunftschancen zu erkennen, obwohl sie vernunftgemäss die vorübergehende Natur ihrer Verzweiflung und die konkreten Möglichkeiten zu deren Überwindung erkennen müsste.
Quelle: https://gerichte.lu.ch/recht_sprechung/publikationen
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