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Urteil Verwaltungsgericht (LU)

Kopfdaten
Kanton:LU
Fallnummer:S 10 222
Instanz:Verwaltungsgericht
Abteilung:Sozialversicherungsrechtliche Abteilung
Verwaltungsgericht Entscheid S 10 222 vom 12.05.2011 (LU)
Datum:12.05.2011
Rechtskraft:Diese Entscheidung ist rechtskräftig.
Leitsatz/Stichwort:Art. 1a Abs. 1 lit. a AHVG; Art. 23 Abs. 1 und 2 ZGB; Art. 17a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der Sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständigerwerbende sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern. Hat ein deutscher Staatsbürger Wohnsitz in der Schweiz und ist er Bezüger einer Rente aus Deutschland, kann er auf Antrag von der AHV-Beitragszahlung in der Schweiz befreit werden, sofern er den schweizerischen Rechtsvorschriften nicht aufgrund der Ausübung einer Erwerbstätigkeit unterliegt. Das Bundesamt für Sozialversicherungen entscheidet über diesen Antrag.
Schlagwörter: Schweiz; Beschwerde; Beschwerdeführerin; Wohnsitz; Rente; Ausgleichskasse; Renten; Luzern; Recht; Verordnung; Deutschland; Schweizer; Bestritten; Kanton; Mitglied; Rechtsvorschriften; Deutschen; Einsprache; Person; Rentenversicherung; Vorliegenden; Abkommen; Beitragspflicht; Deutsche; Sicherheit; Unbestritten; Absicht; Wohnsitznahme; Kantons; Renteneinkommen
Rechtsnorm: Art. 13 ATSG ; Art. 23 ZGB ; Art. 24 ZGB ; Art. 95a AHVG ;
Referenz BGE:105 V 136; 125 V 7; 81 II 327;
Kommentar zugewiesen:
Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017
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Entscheid
Die 1951 geborene, deutsche A ist Bezügerin einer Witwenrente in der Höhe von 641.24 Euro der Deutschen Rentenversicherung. Mit Schreiben vom 28. Oktober 2008 erhielt sie vom Amt für Migration des Kantons Luzern die Zusicherung einer Aufenthaltsbewilligung zur erwerbslosen Wohnsitznahme im Kanton Luzern. Am 2. Juli 2009 reiste A in die Schweiz ein. Mit Verfügung vom 28. Oktober 2009 erliess die Ausgleichskasse des Kantons Luzern mit Wirkung ab 1. August 2009 eine Beitragsverfügung für Nichterwerbstätige. Dabei berechnete sie gestützt auf das mit Faktor 20 kapitalisierte Renteneinkommen einen AHV/IV/EO-Beitrag von jährlich Fr. 473.80 (inkl. Verwaltungskostenbeitrag). Gegen diese Verfügung erhob A Einsprache, welche mit Einspracheentscheid vom 22. April 2010 abgewiesen wurde. Hierauf erhob A Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Aus den Erwägungen:

2. - Streitig und zu prüfen ist vorab, ob die Beschwerdeführerin überhaupt Wohnsitz in der Schweiz im Sinn der AHV-Gesetzgebung hat.

a) Die Beschwerdeführerin bringt vor, ihr erster Wohnsitz sei immer noch Deutschland und sie entrichte nach wie vor ihre Steuern an das deutsche Finanzamt. Sie reiche auch dort ihre Steuererklärung ein. Die Ausgleichskasse macht dagegen geltend, man könne nach Schweizer Privatrecht zu einem bestimmten Zeitpunkt nur an einem einzigen Ort Wohnsitz haben. Die Ausgleichskasse geht davon aus, der Wohnsitz der Beschwerdeführerin befinde sich in Luzern.

b) Der Wohnsitz im Sinn von Art. 1a Abs. 1 lit. a AHVG bestimmt sich, von hier nicht interessierenden Ausnahmen abgesehen, grundsätzlich nach den Artikeln 23-26 des Zivilgesetzbuches (BGE 105 V 136; Hanspeter Käser, Unterstellung und Beitragswesen in der obligatorischen AHV, 2. Aufl., N 1.19; Greber/Duc/Scartazzini, Commentaire des articles 1 à 16 de la loi fédérale sur l'assurance-vieillesse et survivants, S. 53 N 90; vgl. auch Art. 95a AHVG, in Kraft gestanden vom 1.1.1997 bis 31.12.2002, sowie Art. 13 Abs. 1 ATSG). Gemäss Art. 23 Abs. 1 ZGB befindet sich der Wohnsitz einer Person an dem Ort, wo sie sich mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält. Für die Begründung eines Wohnsitzes müssen somit zwei Merkmale erfüllt sein: Ein objektives äusseres, der Aufenthalt, und ein subjektives inneres, die Absicht dauernden Verbleibens. Dabei kommt es nicht auf den inneren Willen an. Entscheidend ist, auf welche Absicht die erkennbaren Umstände objektiv schliessen lassen. Die betreffende Person muss sich den Aufenthaltsort zum Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen gemacht haben. Nicht massgebend ist, ob sie eine fremdenpolizeiliche Niederlassungsoder Aufenthaltsbewilligung besitzt (BGE 125 V 7f. E. 2a mit Hinweisen, 133 V 312 E. 3.1 BG-, EVG-Urteil I 486/00 vom 30.9.2004 E. 2.1 publiziert in: SVR 2005 IV Nr. 20 S. 79; Urteil 9C_294/2007 E. 6.2.1 publiziert in: SVR 2008 IV Nr. 25 S. 76 und SZS 2008 S. 171). Der Wohnsitz bleibt an diesem Ort bestehen, solange nicht anderswo ein neuer begründet wird (Art. 24 Abs. 1 ZGB).

c) In Übereinstimmung mit der Ausgleichskasse gilt vorerst festzuhalten, dass gemäss Art. 23 Abs. 2 ZGB niemand an zwei Orten gleichzeitig Wohnsitz haben kann. Ein "Hauptwohnsitz" in Deutschland und ein "Nebenwohnsitz" in der Schweiz kann es daher - anders als es die Beschwerdeführerin meint - nicht geben. Fraglich ist hingegen, ob sich der Wohnsitz im Sinn der AHV-Gesetzgebung in der Schweiz oder in Deutschland befindet.

Hält sich eine Person abwechslungsweise an zwei verschiedenen Orten auf, so gilt als Wohnsitz derjenige Ort, zu dem sie die stärkeren Beziehungen hat (vgl. Basler Kommentar Zivilgesetzbuch I, 4. Aufl., N 30 zu Art. 23 ZGB; BGE 81 II 327; 78 I 315f.). Unbestritten ist, dass die Beschwerdeführerin am 2. Juli 2009 in die Schweiz eingereist ist. In ihrer (undatierten) Eingabe an das Amt für Migration des Kantons Luzern nannte die Beschwerdeführerin als Beweggrund für die Wohnsitznahme in der Schweiz, ihr Ehemann sei am 15. Dezember 2007 verstorben und sie möchte in die Schweiz übersiedeln, weil ihre Kinder und Enkelkinder alle schon seit Jahren in der Schweiz lebten. Da sie jetzt alleinstehend sei, wolle sie den Kindern und Enkelkindern näher sein. Ausserdem habe sie in Luzern langjährige Freunde (B, C und D), die sie seit der Gründung der Städtepartnerschaft N kenne. Schliesslich gab sie im nämlichen Schreiben an, ihre Eigentumswohnung in Essen verkaufen zu wollen, um vom Verkaufserlös (in der Schweiz) leben zu können. Hierauf erhielt die Beschwerdeführerin vom Amt für Migration des Kantons Luzern am 28. Oktober 2008 die Zusicherung einer Aufenthaltsbewilligung zur erwerbslosen Wohnsitznahme im Kanton Luzern. Aus den Akten geht weiter hervor, dass die Beschwerdeführerin am Z in Luzern Domizil bezogen hat, welche Adresse unbestrittenermassen als ihr Aufenthaltsort zu gelten hat.

Unter diesen Umständen, insbesondere nachdem die Beschwerdeführerin selbst ihre Motivation für die Wohnsitznahme in der Schweiz angegeben hat, ist ohne weiteres davon auszugehen, dass sich die Beschwerdeführerin in der Schweiz, konkret in der Stadt Luzern, mit der Absicht dauernden Verbleibens aufhält, und dass sie die Schweiz zum Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen gemacht hat. Aufgrund des Gesagten steht fest, dass die Beschwerdeführerin in der Schweiz Wohnsitz im Rechtssinne hat.

3. - a) Es steht unbestritten fest, dass die Beschwerdeführerin Bezügerin einer Rente aus Deutschland ist. Gemäss Rentenbescheid vom 24. Mai 2009 der Deutschen Rentenversicherung X handelt es sich dabei um eine sog. "grosse Witwenrente" in der Höhe von monatlich netto 641.24 Euro. In ihrer Beitragsverfügung vom 28. Oktober 2009 kapitalisierte die Ausgleichskasse das Renteneinkommen der Beschwerdeführerin in Anwendung von Art. 28 Abs. 1 AHVV (in der vom 1.1.2009 bis 31.12.2010 gültig gewesenen Fassung) mit dem Faktor 20, was ein kapitalisiertes Renteneinkommen von Fr. 230840.- ergab. Hievon berechnete die Ausgleichskasse einen AHV/IV/EO-Beitrag von jährlich Fr. 473.80 (inkl. Verwaltungskostenbeitrag). Vorab ist festzuhalten, dass dieser Beitrag betraglich von der Beschwerdeführerin nicht bestritten wird. Hingegen macht die Beschwerdeführerin sinngemäss geltend, sie unterliege nicht der Schweizer Beitragspflicht, da sie sich von ihrer deutschen Rentenkasse habe versichern lassen, ihre Rente auch weiterhin von Deutschland aus zu erhalten. Ausserdem sehe sie nicht ein, in eine Kasse einzuzahlen, die nie für sie zuständig sein werde.

b) Wie bereits dargelegt wurde (vgl. Erw. 1), unterliegen natürliche Personen mit Wohnsitz in der Schweiz nach Art. 1a Abs. 1 lit. a AHVG obligatorisch der Schweizer Beitragspflicht. Hinsichtlich der Tatsache, dass die Beschwerdeführerin deutsche Staatsbürgerin ist, die aus Deutschland zugezogen ist, fragt sich aber, ob überhaupt Schweizer Recht anwendbar ist. Aus diesem Grund ist nachstehend zu prüfen, ob allenfalls staatsvertragliche Bestimmungen über die anzuwendenden Rechtsvorschriften vorliegen.

Gemäss Art. 5 Abs. 1 Satz 2 des Abkommens zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Bundesrepublik Deutschland über Soziale Sicherheit vom 25. Februar 1964 (SR 0.831.109.136.1) gelten für die Pflichtversicherung von Personen, die keine Beschäftigung oder Tätigkeit ausüben, grundsätzlich die Rechtsvorschriften der Vertragspartei, in deren Gebiet sie wohnen. Soweit das genannte Sozialversicherungsabkommen anwendbar ist, käme daher schweizerisches Recht zur Anwendung, unter Bejahung der Beitragspflicht nach Art. 1a Abs. 1 lit. a AHVG.

Die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der Sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständigerwerbende sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zuund abwandern (SR 0.831.109.268.1; anwendbar für die Schweiz gemäss Art. 8 und Anhang II des Abkommens vom 21.6.1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit [FZA; SR 0.142.112.681]), enthält in Art. 17a hingegen besondere Vorschriften für Rentner: (...) Gestützt auf diese Bestimmung könnte die Beschwerdeführerin somit von der Beitragspflicht gemäss AHVG frei-gestellt werden.

Die Anwendung beider Staatsvertragsregelungen würde zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, womit eine Kollision von staatsvertraglichen Bestimmungen vorläge. Dies trifft indes im vorliegenden Fall nicht zu. Denn Art. 6 der Verordnung Nr. 1408/71 schliesst die Anwendbarkeit von Abkommen über soziale Sicherheit, die zwischen zwei oder mehreren Mitgliedstaaten in Kraft sind - worunter auch das besagte Abkommen zwischen der Schweiz und Deutschland vom 25. Februar 1964 über Soziale Sicherheit zu zählen ist - aus, sofern Artikel 7, 8 und 46 Abs. 4 nichts anderes bestimmen (vgl. auch Art. 20 FZA). Dem ist nicht so. Auch enthält Anhang III der Verordnung Nr. 1408/71 keine anders lautenden Bestimmungen. Mithin ist auf den vorliegenden Fall einzig die Verordnung Nr. 1408/71 bzw. deren Artikel 17a anwendbar.

c) Art. 17a der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 lautet wie folgt:

"Wohnt ein Rentner, dem eine Rente nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates oder Renten nach den Rechtsvorschriften von mehreren Mitgliedstaaten geschuldet werden, im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates, so kann er auf Antrag von der Anwendung der Rechtsvorschriften dieses letzteren Staates freigestellt werden, sofern er diesen Rechtsvorschriften nicht aufgrund der Ausübung einer Erwerbstätigkeit unterliegt."

Die Beschwerdeführerin übt unbestrittenermassen keine Erwerbstätigkeit aus. Ebenso unbestritten ist, dass sie eine Witwenrente der Deutschen Rentenversicherung X bezieht. Somit kann sie in Anwendung von Art. 17a der Verordnung Nr. 1408/71 auf Antrag von der AHV-Beitragszahlung in der Schweiz befreit werden. Sie hat diesen Antrag allerdings nie ausdrücklich gestellt; andererseits aber kann aus ihren Eingaben unzweifelhaft geschlossen werden, dass sie diese Beitragsbefreiung sinngemäss verlangt hat. So hat die Beschwerdeführerin bereits im Zusammenhang mit dem Anmeldeverfahren der Ausgleichskasse Schreiben der Deutschen Rentenversicherung über ihren Rentenbezug in Deutschland vorgelegt (vgl. undatierte Notiz der Beschwerdeführerin auf dem Schreiben der Ausgleichskasse vom 10.8.2009; Schreiben der Deutschen Rentenversicherung vom 28.7.2008, 16.7.2008 und 24.5.2009). Schliesslich verlangte die Beschwerdeführerin von der Ausgleichskasse in der Einsprache vom 2. November 2009, sie als Mitglied zu streichen. Gestützt hierauf musste die Ausgleichskasse bereits vor dem Einspracheentscheid Kenntnis vom Begehren der Beschwerdeführerin auf Beitragsbefreiung in der Schweiz haben.

Gemäss der Mitteilung Nr. 230 des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) an die AHV-Ausgleichskassen und EL-Durchführungsstellen vom 8. Juli 2008 ist es selber für die Anwendung von Art. 17a der Verordnung Nr. 1408/71 zuständig. Somit entscheidet das BSV über Anträge auf Befreiung von der AHV-Beitragszahlung in der Schweiz gemäss Art. 17a der Verordnung Nr. 1408/71 (vgl. Rz. 3102 der Wegleitung über die Versicherungspflicht [WVP]) und nicht die kantonalen Ausgleichskassen. Im vorliegenden Fall ist daher der Einspracheentscheid infolge Unzuständigkeit der Ausgleichskasse aufzuheben. In diesem Sinn erweist sich die Beschwerde als begründet. Die Ausgleichskasse Luzern hat die Akten nach Rechtskraft des vorliegenden Entscheids an das BSV zur Beurteilung des Gesuchs gemäss Art. 17a der Verordnung Nr. 1408/71 zu senden.
Quelle: https://gerichte.lu.ch/recht_sprechung/publikationen
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