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Urteil Verwaltungsgericht (LU)

Kopfdaten
Kanton:LU
Fallnummer:A 11 156_1
Instanz:Verwaltungsgericht
Abteilung:Abgaberechtliche Abteilung
Verwaltungsgericht Entscheid A 11 156_1 vom 28.11.2011 (LU)
Datum:28.11.2011
Rechtskraft:Diese Entscheidung ist rechtskräftig.
Leitsatz/Stichwort:Ein Führerausweisentzug auf unbestimmte Zeit (Sicherungsentzug) stellt eine einschneidende Massnahme dar und setzt deshalb Gewissheit über die Fahreignung voraus. Ergibt sich aus der widersprüchlichen medizinischen Aktenlage eine erhebliche Ungewissheit über die Fahreignung, sind weitere Abklärungen durch das Strassenverkehrsamt erforderlich. Rückweisung der Sache an die Vorinstanz.
Schlagwörter: Strassenverkehr; Beschwerde; Führerausweis; Fahreignung; Strassenverkehrsamt; Beschwerdeführerin; Sicherung; Verkehr; Befunde; ärztlich; Sicherungsentzug; Verkehrs; ärztliche; Anlass; Entzug; Zeugnis; Motorfahrzeug; Angefochtene; Verfügung; Abklärung; Fahrzeug; Vorsorglich; Verkehrssicherheit; Entzog; ärztlichen; Unbestimmte; Befunden; Entscheid; Untersuchung; Ernsthaft
Rechtsnorm: Art. 16 SVG ; Art. 16d SVG ;
Referenz BGE:127 II 122; 129 II 84; 133 II 387;
Kommentar zugewiesen:
Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017
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Entscheid
A, geboren 1926, unterzog sich am (...) einer ärztlichen Kontrolluntersuchung bei Dr. med. B. Im Zeugnis zuhanden des Strassenverkehrsamts des Kantons Luzern, Medizinisches Kontrollwesen, hielt Dr. B unter den Befunden nebst einer die Fahreignung ausschliessenden Gesichtsfeldeinschränkung eine "fortgeschrittene Demenz" der A fest. Sodann erwähnte er, dass die Patientin nichts mehr sehe und zweimal zur Untersuchung gekommen sei.

Unmittelbar nach Eingang des ärztlichen Zeugnisses entzog das Strassenverkehrsamt A den Führerausweis auf unbestimmte Zeit (Sicherungsentzug) und machte die Prüfung der Wiedererteilung von einer Untersuchung der Fahreignung durch das Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich (IRMZ) abhängig. Einer allfälligen Verwaltungsgerichtsbeschwerde entzog das Strassenverkehrsamt die aufschiebende Wirkung.

Dagegen liess A Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, die angefochtene Verfügung sei vollumfänglich aufzuheben und das Strassenverkehrsamt anzuweisen, ihr den Führerausweis wieder auszuhändigen. Ausserdem sei ihr das rechtliche Gehör zu gewähren und der Beschwerde sei aufschiebende Wirkung zu erteilen; alles unter Kostenund Entschädigungsfolgen zulasten der Staatskasse. Das Strassenverkehrsamt schloss in seiner - unter Ansetzung einer kurzen Frist eingeholten - Vernehmlassung auf Abweisung der Beschwerde unter Kostenfolgen. (...)

Aus den Erwägungen:

1.- a) (Zuständigkeit)

b) Da das Verwaltungsgericht in Streitigkeiten betreffend Führerausweisentzüge und administrative Massnahmen nach Strassenverkehrsrecht einzige kantonale Rechtsmittelinstanz ist, prüft es auch das Ermessen (§ 161a des Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege [VRG; SRL Nr. 40]). In Beschwerdefällen mit Ermessenskontrolle gelten an Stelle der §§ 152-155 die §§ 144-147 VRG (§ 156 Abs. 2 VRG). Soweit sich aus der Natur der Streitsache nichts anderes ergibt, sind deshalb die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt des Beschwerdeentscheides massgebend (vgl. § 146 VRG).

c/aa) (Begründung des angefochtenen Entscheids; Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör verneint.)

bb) Gemäss § 46 VRG gibt die Behörde den Parteien Gelegenheit, sich vor einem Entscheid schriftlich oder mündlich zur Sache zu äussern (Abs. 1). Davon kann sie namentlich im erstinstanzlichen Verfahren absehen, wenn Gefahr im Verzug und ein Weiterzug möglich ist (vgl. Abs. 2 lit. d). Wie aus der angefochtenen Verfügung ersichtlich ist, nahm das Strassenverkehrsamt das ärztliche Zeugnis von Dr. B zum Anlass, die Verkehrssicherheit durch die Beschwerdeführerin als Motorfahrzeuglenkerin ernsthaft bedroht zu betrachten. Immerhin ist dem ärztlichen Zeugnis doch zu entnehmen, dass die Beschwerdeführerin nichts mehr sehe, was - gegebenenfalls - selbst ohne weiteren Befund eine unbedenkliche Teilnahme am Strassenverkehr ausschliesst. Anlass für Zweifel an der Zuverlässigkeit der ärztlichen Befunde bestanden im Übrigen zu diesem Zeitpunkt nicht, musste das Strassenverkehrsamt doch die schriftliche Mitteilung des Dr. B, immerhin Facharzt für Innere und Allgemeinmedizin (D), als zutreffend betrachten. Die Entzugsbehörde durfte und musste entsprechend das ärztliche Zeugnis durchaus als strikten Nachweis der fehlenden Fahreignung verstehen. Mit dem im angefochtenen Entscheid angegebenen Schutz der Verkehrssicherheit war mithin zum Verfügungszeitpunkt ein ausreichender sachlicher Grund für den Verzicht auf eine vorgängige Anhörung gegeben.

cc) (...)

2.- Angefochten ist der auf unbestimmte Zeit ausgesprochene Entzug der Erlaubnis, ein Motorfahrzeug zu lenken (Führerausweisentzug).

a) Gemäss Art. 14 Abs. 1 des Strassenverkehrsgesetzes (SVG; SR 741.01) wird der Führerausweis erteilt, wenn die amtliche Prüfung ergeben hat, dass der Bewerber die Verkehrsregeln kennt und Fahrzeuge der Kategorie, für die der Ausweis gilt, sicher zu führen versteht (Satz 1). Die Bewilligungspflicht verschafft den Behörden mithin die Möglichkeit, im Rahmen einer präventiven Kontrolle zu überprüfen, ob der Bewerber die Polizeigüter wie namentlich Leib und Leben, Gesundheit, Ruhe und Ordnung als Lenker eines Fahrzeugs einer bestimmten Kategorie nicht einem Mass gefährdet, welches die Zulassung zur Teilnahme am öffentlichen Verkehr ausschliesst. Eine Grundvoraussetzung für die Erteilung des Führerausweises ist die sog. Fahreignung. Mit diesem Begriff umschreiben alle betroffenen wissenschaftlichen Disziplinen (insbesondere Medizin, Psychologie und Jurisprudenz) die körperlichen und geistigen Voraussetzungen des Individuums, ein Fahrzeug im Strassenverkehr sicher lenken zu können. Auf Erteilung eines Führerausweises besteht ein Rechtsanspruch, wenn die Voraussetzungen erfüllt sind.

Wenn festgestellt wird, dass die gesetzlichen Voraussetzungen zur Erteilung nicht oder nicht mehr bestehen, sind gemäss Art. 16 Abs. 1 SVG Ausweise und Bewilligungen zu entziehen. Der Lernfahroder Führerausweis wird einer Person namentlich dann auf unbestimmte Zeit entzogen, wenn ihre körperliche und geistige Leistungsfähigkeit nicht oder nicht mehr ausreicht, ein Motorfahrzeug sicher zu führen (Art. 16d Abs. 1 lit. a SVG, sog. Sicherungsentzug). Sicherungsentzüge dienen der Sicherung des Verkehrs vor ungeeigneten Führern. Da der Sicherungsentzug einen schwerwiegenden Eingriff in den Persönlichkeitsbereich des Betroffenen bedeutet, muss er auf einer sorgfältigen Abklärung aller wesentlichen Gesichtspunkte beruhen (BGE 133 II 387 f. E. 3.1). Das Ausmass der nötigen behördlichen Nachforschungen, namentlich die Frage, ob ein medizinisches Gutachten eingeholt wird, richtet sich nach den Umständen im Einzelfall und liegt grundsätzlich im pflichtgemässen Ermessen der Entzugsbehörde (BGE 129 II 84 E. 2.2, mit Hinweisen).

b/aa) Wie unter dem Aspekt des rechtlichen Gehörs erwogen (E. 1c), nahm das Strassenverkehrsamt das ärztliche Zeugnis des Dr. B zu Recht zum Anlass, die Verkehrssicherheit durch die Beschwerdeführerin wegen der ärztlich attestierten Befunde mit Auswirkungen auf die Fahreignung als Motorfahrzeuglenkerin ernsthaft bedroht zu betrachten. Namentlich gab Dr. B unter den Befunden einen korrigierten Fernvisus rechts und links von je (...) sowie ein eingeschränktes Gesichtsfeld an. Weiter notierte er als Befund, dass die Beschwerdeführerin kognitive Defizite ("fortgeschrittene Demenz") aufweise. Handschriftlich ergänzte der Facharzt, die Beschwerdeführerin sehe nichts mehr und sei zweimal zur Untersuchung gekommen. Treffen diese Befunde zu, sind die medizinischen Mindestanforderungen an Motorfahrzeuglenker (unabhängig von der Führerausweiskategorie) nicht mehr gegeben.

bb) Im Gegensatz zu den Befunden und Angaben des Dr. B ergeben sich aus den von der Beschwerdeführerin im Beschwerdeverfahren eingereichten Arztberichten und Stellungnahmen weder genügende Anhaltspunkte für eine schwerwiegende Sehschwäche noch solche für eine Demenzerkrankung. (...)

cc) In Anbetracht der erheblich voneinander abweichenden medizinischen Befunde und Beurteilungen des fahreignungsrelevanten physischen und psychischen Zustandes der Beschwerdeführerin fehlt heute ein strikter Nachweis für die vom Strassenverkehrsamt zum Verfügungszeitpunkt zum Anlass des Sicherungsentzugs genommene fehlende Fahreigung: Denn selbst wenn Anlass bestünde, die Zuverlässigkeit der einen oder anderen Stellungnahme allein deshalb auszuschliessen, weil sie von der Beschwerdeführerin nahestehenden Personen verfasst wurden, geben doch allein die spezialund augenfachärztlich erhobenen Befunde gewichtigen Anlass, an der Vollständigkeit und Genauigkeit der Atteste des Dr. B zu zweifeln. Allerdings bleiben auch vor dem Hintergrund des heutigen Aktenstandes nach wie vor gewisse Unsicherheiten betreffend die - gewiss schon durch die konzedierte Sehschwäche beeinträchtigte - Fahreignung der Beschwerdeführerin. Eine tiefgreifende und einschneidende Massnahme wie der Sicherungsentzug der Fahrerlaubnis auf unbestimmte Zeit setzt jedoch Gewissheit hinsichtlich der (fehlenden) Fahreignung, d.h. das Vorliegen eines strikten Beweises, voraus. Ein solcher Beweis fehlt indes angesichts der heutigen Aktenlage, weshalb die angefochtene Verfügung aufzuheben ist.

c) Der Führerausweis kann vorsorglich entzogen werden, wenn ernsthafte Bedenken an der Fahreignung bestehen (Art. 30 der Verordnung über die Zulassung von Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr [VZV; SR 741.51]). Der vorsorgliche Sicherungsentzug trägt der besonderen Interessenlage der Verkehrssicherheit Rechnung. Angesichts des grossen Gefährdungspotentials, welches dem Führen eines Motorfahrzeugs eigen ist, erlauben schon Anhaltspunkte, die den Fahrzeugführer als besonderes Risiko für die anderen Verkehrsteilnehmer erscheinen lassen und ernsthafte Bedenken an seiner Fahreignung erwecken, den sofortigen vorsorglichen Entzug (Weissenberger, Kommentar zum Strassenverkehrsgesetz, Zürich/St. Gallen 2011, N 5 zu Art. 16d SVG). Der vorsorgliche Entzug während eines Sicherungsentzugverfahrens bildet zum Schutz der allgemeinen Verkehrssicherheit die Regel (BGE 127 II 122 E. 5; 125 II 396 E. 3). Das schliesst aber nicht aus, dem Betroffenen den Führerausweis bis zur Abklärung von Ausschlussgründen ausnahmsweise - allenfalls unter Auflagen - zu belassen; der diesbezügliche Entscheid liegt in der Verantwortung der kantonalen Behörde (Weissenberger, a.a.O., N 5 zu Art. 16d SVG).

d) Angesichts der in den entscheidenden Befunden widersprüchlichen medizinischen Aktenlage besteht heute eine erhebliche Ungewissheit über die Fahreignung der Beschwerdeführerin. Damit auf genügender verkehrsmedizinischer Grundlage über die Fahreignung entschieden werden kann, sind weitere Abklärungen erforderlich. Diese sind erstinstanzlich durch das Strassenverkehrsamt vorzunehmen. Die Angelegenheit ist deshalb zur Abklärung der Fahreignung und zum Schutz des funktionellen Instanzenzugs an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie gestützt auf die einzuholenden Untersuchungsergebnisse neu verfüge.

Ob gegebenenfalls gestützt auf Art. 30 VZV vorsorglich ein sofortiger Entzug des Führerausweises bis zur Abklärung von Ausschlussgründen anzuordnen ist, liegt zufolge der Rückweisung im Ermessen des Strassenverkehrsamts (vgl. BGE 127 II 122 E. 5). Seiner Zuständigkeit wegen muss trotz Aufhebung des Sicherungsentzugs eine Wiedererteilung entfallen.

3.- (Kostenund Entschädigungsfolgen)
Quelle: https://gerichte.lu.ch/recht_sprechung/publikationen
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