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Urteil Verwaltungsgericht (LU - A 03 2)

Zusammenfassung des Urteils A 03 2: Verwaltungsgericht

Der 1988 geborene A wurde zwischen 5 und 11 Jahren Opfer schwerster sexueller Misshandlungen, die erst im Verlauf des Untersuchungsverfahrens ans Licht kamen. Der Täter wurde schuldig gesprochen und zu einer Zuchthausstrafe verurteilt. A erhielt eine Genugtuung von Fr. 40000.- sowie weitere Entschädigungen. Das Kantonale Sozialamt lehnte A's Gesuch um Entschädigung ab, aber das Verwaltungsgericht entschied zugunsten von A. Es wurde diskutiert, ab wann die Verwirkungsfrist für Ansprüche beginnt, insbesondere bei schweren Straftaten gegen Kinder.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts A 03 2

Kanton:LU
Fallnummer:A 03 2
Instanz:Verwaltungsgericht
Abteilung:Abgaberechtliche Abteilung
Verwaltungsgericht Entscheid A 03 2 vom 24.11.2003 (LU)
Datum:24.11.2003
Rechtskraft:Diese Entscheidung ist rechtskräftig.
Leitsatz/Stichwort:Art. 11 Abs. 1 und Art. 16 Abs. 3 OHG. Frage der Verwirkung von Entschädigungs- und Genugtuungsansprüchen. Liegen besondere Umstände vor, beginnt die zweijährige Verwirkungsfrist erst dann zu laufen, wenn für das Opfer oder seine Angehörigen das ganze Ausmass der Straftat bekannt wird und die Berechtigten die Geltendmachung von Ansprüchen sachlich erwägen können.
Schlagwörter: Opfer; Täter; Taten; Verwirkungsfrist; Aussage; Übergriffe; Zeitpunkt; Eltern; Genugtuung; Opfers; Bundesgericht; Opferhilfe; Ausmass; Mutter; Entscheid; Behörde; Täters; Entschädigung; Verfahren; Befragung; Untersuchung; Kindern; Gesuch; ührte
Rechtsnorm: Art. 5 BV ;Art. 70 StGB ;
Referenz BGE:124 II 8; 126 II 348; 126 II 350; 129 II 312;
Kommentar:
-

Entscheid des Verwaltungsgerichts A 03 2

Der 1988 geborene A wurde im Alter zwischen 5 und 11 Jahren Opfer von schwersten sexuellen Misshandlungen. Das Ausmass dieser Übergriffe wurde dabei erst im Verlaufe des Untersuchungsverfahrens ersichtlich. In einer ersten Befragung am 16. Juni 1999 war A nicht in der Lage gewesen, über die Verfehlungen des Täters vollständig Auskunft zu geben. Erst Ende Februar 2000 schilderte er gegenüber seiner Mutter die schweren Misshandlungen und in einer erneuten Befragung am 21. März 2000 konnte er darlegen, in welchem Umfange er vom Täter über Jahre hinweg sexuell missbraucht worden war. In der Folge wurde die strafrechtliche Untersuchung ausgeweitet. Das Kriminalgericht sprach mit Urteil vom 31. Mai 2001 den Täter der mehrfachen sexuellen Handlungen mit Kindern nach Art. 187 Ziff. 1 StGB und der mehrfachen sexuellen Nötigung nach Art. 189 Abs. 1 und teilweise Abs. 3 StGB schuldig und verurteilte ihn zu einer Zuchthausstrafe von 41/2 Jahren. Gestützt auf die Privatklage der Eltern wurde der Täter verpflichtet, A eine Genugtuung von Fr. 40000.- sowie die Entschädigung seiner Therapiekosten und des Verdienstausfalles der Eltern zu bezahlen. In teilweiser Gutheissung der Appellation der Privatkläger verpflichtete das Obergericht den Täter zusätzlich zur Bezahlung einer Genugtuung von je Fr. 10000.- an beide Elternteile des Opfers. Mit Schreiben vom 30. Mai 2001 hatte A ein Gesuch um Entschädigung und Genugtuung gemäss Art. 11 OHG eingereicht mit der Begründung, es sei fraglich, ob und gegebenenfalls in welcher Höhe vom Täter Entschädigungsund Genugtuungsleistungen erhältlich gemacht werden können. Das Kantonale Sozialamt trat mit Entscheid vom 10. Dezember 2002 auf das Gesuch nicht ein, weil die Ansprüche verwirkt seien. Das Verwaltungsgericht heisst eine dagegen geführte Beschwerde gut.

Aus den Erwägungen:

3. - a) Es ist in erster Linie Sache der Strafbehörden, das Vorliegen einer Straftat abzuklären (vgl. Urteil R. des Bundesgerichts vom 28. Oktober 2003, 1A.110/2003). Die Administrativbehörde sollte denn auch nicht ohne Not von den tatsächlichen Feststellungen der Strafbehörde abweichen, insbesondere wenn im Strafverfahren ein eingehendes Untersuchungsverfahren stattgefunden und die Parteien und Zeugen direkt angehört wurden (BGE 129 II 312 Erw. 2.4 mit Hinweisen u.a. auf BGE 124 II 8 Erw. 3d/aa). Somit ist im vorliegenden Fall grundsätzlich auf das Strafurteil bzw. auf die Akten aus dem Strafverfahren abzustellen bei der Beurteilung der Frage, bis wann die strafbaren Handlungen angedauert haben.

b) Die Prüfung der Strafakten ergibt, dass aus ihnen nicht zweifelsfrei zu entnehmen ist, wann die letzte der fraglichen Straftaten stattgefunden hat und so-mit die zweijährige Verwirkungsfrist ausgelöst wurde. Zwar gibt es einige Anhaltspunkte dafür, dass nach Ostern 1999, als ein erster Teil der Übergriffe bekannt wurde, die Tathandlungen aufgehört haben. Diese begründen sich v.a. in der ersten Aussage des Opfers, aber auch in der Aussage der Mutter, welche die Frage, ob seit Ostern 1999 wieder etwas vorgefallen sei, klar verneint. Ebenfalls hat der Täter auf die Frage, ob er sich erinnere, wann er letztmals sexuellen Kontakt mit dem Opfer hatte, geantwortet, er wisse nicht, wie lange es vor seinem Aufenthalt in der Klinik St. Urban gewesen war. Dieser Klinikaufenthalt erfolgte nach seiner ersten Verhaftung vom 7. April 1999 bis zum 12. Mai 1999. Doch bleiben auch gewisse Zweifel bestehen. So bleibt insbesondere unklar, worauf die Aussage des A vom 21. März 2000 "bis vor kurzem, als ich es erzählt habe" zu beziehen ist. Diese Antwort steht im Kontext mit den Fragen, was mehr gewesen sein soll, als das Anschauen von Sexheften und in welchem Zeitraum dies passiert sei. Im Hinblick darauf, dass A erst Ende Februar 2000 seiner Mutter von den schwerwiegenden weiteren sexuellen Übergriffen des Täters berichten konnte, kann sie sich auch auf diesen Zeitpunkt beziehen, womit nicht automatisch davon ausgegangen werden darf, dass A damit das Erzählen der Vorfälle mit den Fotos an Ostern 1999 meinte. Zudem ist es auch fraglich, ob insbesondere ein 12-jähriges Kind mit der Aussage "bis vor kurzem" ein Geschehnis verbindet, welches fast ein Jahr zurückliegt. Was zudem die von der Vorinstanz aufgeführten Aussagen des Opfers "seit es rausgekommen ist, ist nichts mehr passiert..." und "wenn der Täter versuchte, sich zu nähern, dann machten wir einen grossen Bogen" betrifft, ist anzumerken, dass diese Aussagen nicht in den aufgelegten Befragungsprotokollen des Opfers zu finden sind. Der Aussage des Opfers steht zwar die konkrete Aussage des Täters entgegen, dass er nach seinem Klinikaufenthalt in St. Urban im April/Mai 1999 keinen sexuellen Kontakt mehr mit A hatte, doch ist diese aufgrund der dem Täter im medizinisch-psychiatrischen Zusatzgutachten attestierten zweifelhaften Glaubwürdigkeit zu relativieren. (...)

4. - a) Das Bundesgericht hat in BGE 126 II 348 ff. festgestellt, dass der Wortlaut von Art. 16 Abs. 3 OHG für das Einsetzen des zweijährigen Fristenlaufes eine "Straftat" verlange. Eine Straftat im Sinne des OHG liege grundsätzlich vor, wenn der objektive Straftatbestand erfüllt und kein Rechtfertigungsgrund gegeben sei. Mit der relativ kurzen Verwirkungsfrist, die grundsätzlich weder unterbrochen noch wiederhergestellt werden könne, habe der Gesetzgeber die Opfer dazu anhalten wollen, sich rasch zu entscheiden, ob sie entsprechende Ansprüche erheben wollten. Zudem sollte damit sichergestellt werden, dass der Entscheid der Opferhilfebehörde möglichst bald erfolgen könne, in einem Zeitpunkt, in dem die genauen Umstände der Straftat noch eruierbar seien. Ferner sei auch dem berechtigten Interesse des entschädigungspflichtigen Kantons Rechnung zu tragen, allfällige Regressforderungen gegenüber dem Täter rechtzeitig (vor Ablauf der Verjährung) anzubringen. Dem Opfer dürfe es allerdings nicht faktisch verunmöglicht sein, innerhalb der Verwirkungsfrist ein substanziiertes Opferhilfegesuch zu stellen. Andernfalls würde der Sinn und Zweck des OHG unterlaufen (Erw. 2c). Ebenfalls führte das Bundesgericht in diesem Entscheid an, dass die wirksame Inanspruchnahme von Opferhilfe nach dem in Art. 5 Abs. 3 BV verankerten Grundsatz von Treu und Glauben auch voraussetze, dass das Opfer überhaupt davon Kenntnis erhält, dass es von einer schweren Straftat betroffen ist (Erw. 5b). Damit das Opfer nämlich das Vorliegen einer Straftat im Sinne des OHG überhaupt glaubhaft machen könne, muss es die massgebliche Schädigung bzw. Verletzung erkannt haben können. Anders zu entscheiden hiesse, dem Sinn und Zweck des OHG zuwiderlaufende Anforderungen an die rechtzeitige Einreichung eines (substanziierten) Opferhilfegesuches zu stellen (Erw. 5c).

Im erwähnten Entscheid hatte das Bundesgericht über einen Fall zu entscheiden, wo das Opfer durch eine Vergewaltigung mit dem HIV-Virus infiziert worden war, was den Tatbestand des Verbreitens menschlicher Krankheiten sowie der schweren Körperverletzung erfüllt hatte. Die Infizierung konnte erst vier Jahre später nach Ausbruch der AIDS-Krankheit diagnostiziert werden. Erst in diesem Zeitpunkt hatte das Opfer demnach davon Kenntnis, dass eine schwere Straftat (neben der eigentlichen Vergewaltigung, für welche sie keine Opferhilfe beanspruchte) vorlag. Das Bundesgericht entschied u.a. aufgrund der obigen Erwägungen, dass deshalb die Verwirkungsfrist erst ab dem Zeitpunkt der Diagnose über die HIV-Infizierung zu laufen begann und schloss sich somit der in der Literatur überwiegend vertretenen Auffassung an, dass die Verwirkungsfrist von Art. 16 Abs. 3 OHG erst ab Eintritt des Erfolges eintritt (vgl. Literaturhinweise in BGE 126 II 350 Erw. 2c/bb).

b) Das gesamte Ausmass der Straftaten, insbesondere die schwerwiegenden Straftaten, wurde im vorliegenden Fall erst im Februar 2000 ersichtlich, nachdem das minderjährige Opfer seiner Mutter gegenüber erst in diesem Zeitpunkt von den massiven Übergriffen des Täters erzählen konnte. Diese schwerwiegenden Straftaten, insbesondere der erst dann bekannt gewordene Tatbestand der sexuellen Nötigung, waren denn auch hauptsächlich massgebend, dass dem Opfer und seinen Eltern die beträchtliche Genugtuungssumme von Fr. 40000.- bzw. Fr. 20000.- zugesprochen wurde. Zwar fällt bei den hier massgeblichen Straftaten Tathandlung und Taterfolg zeitlich zusammen, weshalb grundsätzlich nach dem Wortlaut von Art. 16 Abs. 3 OHG der Zeitpunkt der Tat die Verwirkungsfrist auslöst. Doch ist zu berücksichtigen, dass das Opfer ein Kind ist, welches nicht selber handeln kann, aufgrund seines Alters wohl noch nicht einmal die Schädigungen und Verletzungen seiner (sexuellen) Integrität in seinem ganzen Ausmass wirklich erfassen kann, geschweige denn in der Lage ist, die Geschehnisse in seinen rechtlichen Konsequenzen zu beurteilen. Erst nachdem es im Februar 2000 seiner Mutter das ganze Ausmass der Straftaten offenbart hatte, war es den Eltern möglich, die massgebliche Schädigung ihres Sohnes zu erkennen und abzuwägen, welche weit reichenden physischen und psychischen Folgen diese massiven Übergriffe für ihn haben werden. Dementsprechend war es ihnen als gesetzliche Vertreter des Opfers auch erst ab diesem Zeitpunkt möglich, Entschädigung und v.a. auch eine diesen massiven Straftaten angemessene Genugtuung vom Täter zu fordern bzw. ein entsprechendes Gesuch bei der Opferhilfebehörde zu stellen. Gemäss den Erwägungen des Bundesgerichts im oben erwähnten Entscheid rechtfertigt es sich deshalb vorliegend, den Beginn der Verwirkungsfrist erst mit der Kenntnis der Eltern vom effektiven Ausmass, insbesondere mit Kenntnis der auch weitaus gravierenderen Straftatbestände Ende Februar 2000 anzunehmen, dies umso mehr, als nicht zweifelsfrei feststeht, bis wann die massiven Übergriffe tatsächlich angedauert haben. Nur so kann der Schutzzweck des OHG, das - gerade zugunsten der Opfer schwerer Gewaltverbrechen - wirksame Hilfe ermöglichen und ihre Rechtstellung verbessern soll, auch gegenüber Kindern wirksam werden. Dies würde in solchen Fällen durch die sehr kurze Verwirkungsfrist des OHG oft verunmöglicht, hielte man sich streng an den Wortlaut der Bestimmung von Art. 16 Abs. 3 OHG. Gerade im Bereich des Kindesmissbrauchs besteht nämlich die Problematik, dass die kindlichen Opfer oft nicht in der Lage sind, den sexuell missbräuchlichen Charakter der erfolgten Übergriffe zu erkennen, dass sie wegen emotionaler und wirtschaftlicher Abhängigkeiten unter dem Druck stehen, schweigen zu müssen und die Tat jahrelang verdrängen. Nicht selten werden deshalb sexuelle Missbräuche erst nach Jahren bekannt, weil viele Opfer erst dann über ihren sexuellen Missbrauch sprechen können. Aus diesen Überlegungen wurde nun auch die strafrechtliche Verfolgungsverjährung von Sexualstraftaten bei Kindern in jedem Fall bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres ausgedehnt (vgl. Art. 70 Abs. 2 StGB [in Kraft seit 1.10.2002]; vgl. Botschaft über die Änderung des Schweizerischen Strafgesetzbuches und des Militärstrafgesetzes, BBl 2000 2957 f.).
Quelle: https://gerichte.lu.ch/recht_sprechung/publikationen
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