| Appellationsgericht Dreiergericht |
SB.2023.34
ENTSCHEID
vom 14. November 2023
Mitwirkende
lic. iur. Christian Hoenen (Vorsitz), Dr. Heidrun Gutmannsbauer,
lic. iur. Sara Lamm und Gerichtsschreiber Dr. Urs Thönen
Beteiligte
A____, geb. [...] Berufungsklägerin
[...] Beschuldigte
gegen
Staatsanwaltschaft Basel-Stadt Berufungsbeklagte
Binningerstrasse 21, 4001 Basel
Privatkläger
B____
Gegenstand
Berufung gegen ein Urteil des Einzelgerichts in Strafsachen
vom 14. Januar 2020
Entscheide des Appellationsgerichts DGS.2022.6 vom 11. April 2023
und SB.2020.12 vom 19. Januar 2022 (wiederhergestelltes Berufungs-
verfahren)
betreffend mehrfache Beschimpfung
Sachverhalt
A____ (Berufungsklägerin) lebt in Belgien. Sie hat mit dem in Basel wohnhaften B____ (Privatkläger) einen gemeinsamen Sohn. Im E-Mail-Verkehr vom 18. Juni 2019 zwischen den Eltern kam es zu Äusserungen der Berufungsklägerin, derentwegen der Privatkläger bei der Kantonspolizei Basel-Stadt gleichentags Strafanzeige und Strafantrag wegen Beschimpfung erhob. Die beanstandeten E-Mails sind in englischer Sprache verfasst und ergingen gemäss den Betreffzeilen (Re: Warte auf ihre Anzeige, Re: Jetzt müssen sie warten) in Beantwortung von Nachrichten des Privatklägers.
Die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt verurteilte die Berufungsklägerin mit Strafbefehl vom 7. August 2019 wegen mehrfacher Beschimpfung zu einer bedingten Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu CHF 30.– sowie zu einer Busse von CHF 360.– und zur Tragung der Verfahrenskosten. Der Strafbefehl wurde in der Amtssprache (auf Deutsch) geschrieben.
Dagegen erhob sie in eigenem Namen mit Schreiben vom 23. August 2029 Einsprache. In diesem auf Französisch verfasste Schreiben macht die Berufungsklägerin sprachliche Verständnisschwierigkeiten geltend. Sie sei bisher nie angehört worden. Es gebe einen Konflikt mit dem Privatkläger und ein Verfahren in Belgien wegen der Obhut und der Unterhaltsbeiträge für den gemeinsamen Sohn. Zudem habe auch der Privatkläger Beleidigungen geäussert.
Im Hinblick auf die Hauptverhandlung vor Strafgericht Basel-Stadt wurde die Berufungsklägerin mit Verfügung des Verfahrensleiters vom 24. Dezember 2019 dispensiert, so dass das Urteil des Einzelgerichts in Strafsachen vom 14. Januar 2020 in ihrer Abwesenheit erging. Mit diesem Strafurteil wurde die Berufungsklägerin der mehrfachen Beschimpfung schuldig erklärt und zu einer bedingten Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu CHF 30.– verurteilt (Probezeit 2 Jahre).
Die Berufungsklägerin meldete dagegen wiederum in eigenem Namen am 30. Januar 2020 Berufung an, welche gemäss Zwischenentscheid des Appellationsgericht vom 28. April 2020 rechtzeitig erfolgte. Da die Berufungsklägerin der Verhandlung vom 19. Januar 2022 fernblieb, hat das Appellationsgericht das Berufungsverfahren zunächst als erledigt abgeschrieben (Entscheid vom 19. Januar 2022). Auf Gesuch der Berufungsklägerin stellte das Appellationsgericht den Berufungstermin später wieder her (Entscheid vom 11. April 2023) und lud die Berufungsklägerin zur zweiten Berufungsverhandlung vom 14. November 2023 vor, an der sie wiederum nicht erschien. Anlässlich dieses Verhandlungstermins hat das Berufungsgericht in Abwesenheit der Berufungsklägerin gestützt auf die Verfahrensakten eine mündliche Beratung durchgeführt.
Erwägungen
1.
1.1 Gemäss Zwischenentscheid vom 28. April 2020 wurde die vorliegende Berufung rechtzeitig erhoben. Die Berufungsklägerin wohnt in Belgien, so dass die Rückzugsfiktion zufolge Nichterscheinens fragwürdig erscheint und jedenfalls in der vorliegenden Konstellation nicht in Frage kommt. Befindet sich die vorgeladene Person im Ausland, besteht keine Verpflichtung, der Vorladung Folge zu leisten. Die Vorladung stellt daher in der Sache eine Einladung dar. Leistet ihr die beschuldigte Person keine Folge, darf sie keinerlei rechtliche tatsächliche Nachteile erleiden (BGE 140 IV 86 E. 2.3; Jositsch/Schmid, StPO Praxiskommentar, 4. Auflage 2023, Art. 205 N 2; Weder, in: Donatsch et al. [Hrsg.], Kommentar zur schweizerischen Strafprozessordnung, 3. Auflage, Zürich 2020, Art. 201 N 2a und 6b, Art. 205 N 1a). Demzufolge ist der versäumte Verhandlungstermin vom 19. Januar 2022 mit Entscheid vom 11. April 2023 wiederhergestellt worden.
1.2 Die Berufungsklägerin ist zum zweiten Verhandlungstermin von heute wiederum nicht erschienen. Ein Abschreibungsbeschluss gestützt auf die Rückzugsfiktion kommt im vorliegenden Einzelfall wiederum nicht infrage. Vielmehr bietet es sich an, dem Präjudiz des Kantonsgericht Luzern zu folgen und sinngemäss nach den Bestimmungen über das Abwesenheitsverfahren vorzugehen (KGer LU vom 18. Oktober 2017, in: CAN 2018 Nr. 36, S. 109). Dabei ist allerdings (in sinngemässer Anwendung von Art. 366 Abs. 4 der Schweizerischen Strafprozessordnung [StPO, SR 312.0]) den bisherigen Äusserungsmöglichkeiten der beschuldigten Person und der Beweislage Rechnung zu tragen.
2.
2.1 Dem vorliegenden Verfahren liegt ein mutmassliches Antragsdelikt zugrunde, welches im Ausland begangen wurde. Es handelt sich also um ein internationales Verhältnis. Die streitbetroffenen E-Mails wurden in Belgien verfasst. Entsprechend befindet sich der Handlungsort (als primäre Anknüpfung für die Zuständigkeit) in Belgien. Art. 3 des belgischen Strafgesetzbuchs sieht die Zuständigkeit Belgiens für auf dem eigenen Staatsgebiet begangene Straftaten vor. Alternativ besteht in der Schweiz bei ehrverletzenden Äusserungen, die per E-Mail vom Ausland in die Schweiz gesandt werden, am Erfolgsort eine Zuständigkeit für die Strafverfolgung (BGE 125 IV 177; Obergericht Zürich UE210332 vom 10. Mai 2022; AGE SB.2015.61 vom 13. Juni 2017). Allerdings bildet der Erfolgsort (gegenüber dem Handlungsort) bloss subsidiäres Anknüpfungskriterium. In erster Linie ist der Ort entscheidend, wo sich der Täter im Zeitpunkt der Tat physisch befindet (Popp/Keshelava, in: Basler Kommentar Strafrecht I, 4. Auflage 2019, Art. 8 N 9). Angesichts des völkerrechtlichen Territorialitätsprinzips, wonach die Straf- und Staatsgewalt eines Staates nicht über die Landesgrenzen hinausreicht, und des grundrechtlichen Anspruchs der im Ausland befindlichen beschuldigten Person, in Anwesenheit beurteilt zu werden, bieten sich bei der Zuständigkeit am Erfolgsort praktische Probleme, welche bei der Abwicklung eines Strafverfahrens zu Komplikationen führen können.
2.2 Die beschuldigte Person hat einen grundrechtlichen Anspruch, in Anwesenheit beurteilt zu werden (Art. 29 Abs. 2 der Bundesverfassung [BV, SR 101], Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention [EMRK, SR 0.101]; BGE 127 I 213 E. 3, 129 II 56 E. 6.2; BGer 6B_45/2021 vom 27. April 2022 E. 1.4.1 und 1.6). Sie hat überdies das Recht, in einer ihr verständlichen Sprache in allen Einzelheiten über Art und Grund der gegen sie erhobenen Beschuldigung unterrichtet zu werden und unentgeltliche Unterstützung durch einen Dolmetscher zu erhalten, wenn sie die Verhandlungssprache des Gerichts nicht versteht spricht (Art. 6 Ziff. 3 lit. a und e EMRK, Art. 32 Abs. 2 BV). Gemäss der Strafprozessordnung darf das Vorverfahren (zum Beispiel mit dem Erlass eines Strafbefehls) abgeschlossen werden, wenn die Staatsanwaltschaft die Untersuchung als «vollständig» erachtet (Art. 318 Abs. 1 StPO). Dabei sind insbesondere die Vorschriften über die Befragung der beschuldigten Person über ihre persönlichen Verhältnisse (Art. 161 StPO), die tatsächliche und rechtliche Abklärung des Sachverhalts und die Abklärung der persönlichen Verhältnisse der beschuldigten Person (Art. 308 Abs. 1 und 2 StPO) zu beachten. Im Falle einer Einsprache gegen einen Strafbefehl hat die Staatsanwaltschaft nötigenfalls weitere Beweise abzunehmen und zu entscheiden, ob sie das Verfahren mittels Strafbefehls Anklage weiterzuführen mittels Einstellungsverfügung abzuschliessen hat (Art. 355 Abs. 1 und 3 StPO). Zu den erforderlichen Beweisabnahmen vor Erlass des Strafbefehls gehört gemäss der Kommentierung primär die Einvernahme der beschuldigten Person. Unterlassene Beweiserhebungen können dazu führen, dass das Gericht die Strafsache an die Staatsanwaltschaft zurückweist (Jositsch/Schmid, a.a.O., Art. 355 N 1, mit Hinweis auf BGer 1B_240/2011 vom 28. Juni 2011).
3.
3.1 Im vorliegenden Verfahren wurde die Berufungsklägerin ohne Anhörung allein gestützt auf die vom Privatkläger eingereichten Unterlagen verurteilt. Im Unterschied zum Luzerner Präjudiz wurde im Vorverfahren weder versucht, die Berufungsklägerin in der Schweiz vorzuladen, noch sie auf dem Rechtshilfeweg zu befragen (vgl. KGer LU vom 18. Oktober 2017 E. 1.2 und 5.3.1, in: CAN 2018 Nr. 36 S. 109). Die Sachverhaltsabklärungen sind im vorliegenden Fall klarerweise unvollständig und lückenhaft, so dass gestützt darauf kein Schuldspruch ergehen kann.
Sodann besteht ein sprachliches Problem. Die in Belgien wohnhafte Berufungsklägerin hat auf Französisch (und Englisch) geschrieben und macht geltend, kein Deutsch zu verstehen. Sie hat als Beschuldigte das Recht, dass ihr die Vorwürfe in einer ihr verständlichen Sprache eröffnet werden. Dies ist im Verlauf des Strafverfahrens bisher nicht geschehen, weshalb auch insoweit kein Schuldspruch ergehen kann.
3.2 Nach erhobener Einsprache wurde die Berufungsklägerin im Verfahren vor Strafgericht dispensiert (Akten S. 86 f.). Diese Dispensierung vermag allerdings weder die lückenhafte Sachverhaltsabklärung noch die sprachliche Aufklärungslücke zu heilen. Damit konnten die Mängel des Vorverfahrens auch im strafgerichtlichen Verfahren nicht behoben werden. Vielmehr wäre die Anwesenheit der Berufungsklägerin in der Hauptverhandlung im Sinne von Art. 336 Abs. 3 StPO «erforderlich» gewesen, um sie zur Person und zur Sache zu befragen und um ihr die Anklagevorwürfe in einer ihr verständlichen Sprache mitzuteilen. Der in Abwesenheit der Berufungsklägerin ergangene Schuldspruch des Strafgerichts ist aufzuheben.
3.3 Im Berufungsverfahren ist zunächst am verfahrensleitenden Entscheid, der Berufungsklägerin keine amtliche Verteidigung zu bestellen, festzuhalten. Zum einen handelt es sich um einen Bagatellfall ohne tatsächliche rechtliche Schwierigkeiten, für den die amtliche Verteidigung nicht bewilligt werden kann (vgl. Verfügung vom 9. Dezember 2021). Zum andern vermöchte in der vorliegenden Konstellation auch die Bestellung eines Verteidigers nichts daran zu ändern, dass die Strafbehörden die Sachverhaltsabklärungen von Amtes wegen zu ergänzen haben.
Eine Heilung der bisherigen Verfahrensmängel fällt auch im Berufungsverfahren ausser Betracht. Es widerspricht dem Wesen des Berufungsverfahrens, wenn die Berufungsinstanz grundlegende Ergänzungen vornehmen muss, die das Anklagefundament betreffen erstmals Rechtshilfegesuche stellen muss, welche bereits die Staatsanwaltschaft hätte in Erwägung ziehen müssen (vgl. KGer LU vom 18. Oktober 2017 E. 1.2 und 5.3.1, in: CAN 2018 Nr. 36 S. 109).
Der Anzeigesteller und die Berufungsklägerin haben einen gemeinsamen Sohn, der mit seiner Mutter in Belgien lebt. Es gibt Anhaltspunkte für Konflikte zwischen den Beteiligten im Zusammenhang mit kindesrechtlichen Belangen. Die mit der Strafanzeige eingereichten E-Mails müssen in diesem Kontext betrachtet werden, was beim derzeitigen Ermittlungsstand nicht möglich ist. Gerade bei Beschimpfungen kann der Kontext einer Äusserung Bedeutung erlangen, etwa im Hinblick auf die Fragen der Provokation Retorsion (Art. 177 Abs. 2 und 3 des Schweizerischen Strafgesetzbuchs [StGB, SR 311.0]).
3.4 Zusammenfassend ergibt sich, dass die mit Strafbefehl zur Anklage gebrachte Strafsache nicht beurteilt werden kann. Sie ist zum Entscheid über die Ergänzung des Vorverfahrens und das weitere Vorgehen an die Staatsanwaltschaft zurückzuweisen (Art. 355 Abs. 1 und 3 StPO).
4.
Für den vorliegenden Entscheid sind keine Verfahrenskosten zu erheben (Art. 423 Abs. 1 und Art. 428 Abs. 1 StPO).
Demgemäss erkennt das Appellationsgericht (Dreiergericht):
://: Im wiederhergestellten Berufungsverfahren wird das Urteil des Strafgerichts vom 14. Januar 2020 aufgehoben. Die Sache wird zum Entscheid über die Ergänzung des Vorverfahrens und das weitere Vorgehen an die Staatsanwaltschaft zurückgewiesen (Art. 355 Abs. 1 und 3 der Strafprozessordnung).
Für das Berufungsverfahren wird keine Gebühr erhoben.
Mitteilung an:
- Berufungsklägerin
- Staatsanwaltschaft Basel-Stadt
- Privatkläger
- Strafgericht Basel-Stadt
- VOSTRA-Koordinationsstelle
APPELLATIONSGERICHT BASEL-STADT
Der Präsident Der Gerichtsschreiber
lic. iur. Christian Hoenen Dr. Urs Thönen
Rechtsmittelbelehrung
Gegen diesen Entscheid kann unter den Voraussetzungen von Art. 78 ff. des Bundesgerichtsgesetzes (BGG) innert 30 Tagen seit schriftlicher Eröffnung Beschwerde in Strafsachen erhoben werden. Die Beschwerdeschrift muss spätestens am letzten Tag der Frist beim Bundesgericht (1000 Lausanne 14) eingereicht zu dessen Handen der Schweizerischen Post einer diplomatischen konsularischen Vertretung der Schweiz im Ausland übergeben werden (Art. 48 Abs. 1 BGG). Für die Anforderungen an den Inhalt der Beschwerdeschrift wird auf Art. 42 BGG verwiesen. Über die Zulässigkeit des Rechtsmittels entscheidet das Bundesgericht.