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Urteil Appellationsgericht (BS - IV.2023.71)

Zusammenfassung des Urteils IV.2023.71: Appellationsgericht

Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt hat in einem Fall entschieden, dass ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten mangelhaft war und eine polydisziplinäre Begutachtung notwendig ist. Der Beschwerdeführer hatte eine Invalidenrente beantragt, die ihm aufgrund des Gutachtens verweigert wurde. Es wurde festgestellt, dass das Gutachten nicht ausreichend war, um den Rentenanspruch zu beurteilen. Das Gericht entschied, die Verfügung aufzuheben und die Sache zur erneuten Abklärung an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen. Die Kosten wurden der Beschwerdegegnerin auferlegt, und dem Beschwerdeführer wurde eine angemessene Parteientschädigung zugesprochen.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts IV.2023.71

Kanton:BS
Fallnummer:IV.2023.71
Instanz:Appellationsgericht
Abteilung:Appellationsgericht
Appellationsgericht Entscheid IV.2023.71 vom 20.12.2023 (BS)
Datum:20.12.2023
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:-
Schlagwörter: IV-Akte; Gutachten; Gutachter; Tonaufnahme; Recht; Sozialversicherungsgericht; IV-Stelle; Verfügung; Persönlichkeitsstörung; Diagnose; Basel; Gutachterin; Rente; Entscheid; Qualität; Basel-Stadt; Psychiatrie; Hauptverhandlung; Person; Störung; Arbeitsfähigkeit; Beschwerdeführers; Begutachtung; Mängel
Rechtsnorm: Art. 42 BGG ;Art. 47 BGG ;Art. 95 BGG ;
Referenz BGE:-
Kommentar:
-

Entscheid des Verwaltungsgerichts IV.2023.71



Geschäftsnummer: IV.2023.71 (SVG.2024.98)
Instanz: Sozialversicherungsgericht
Entscheiddatum: 20.12.2023 
Erstpublikationsdatum: 18.06.2024
Aktualisierungsdatum: 19.06.2024
Titel: Neurologisch-psychiatrisches Gutachten nicht nur formell, sondern auch inhaltlich mangelhaft. Polydisziplinäres Gutachten notwendig. Beschwerdegutheissung.
 
 

Sozialversicherungsgericht

des Kantons Basel-Stadt

 

 

 

URTEIL

 

vom 20. Dezember 2023

 

 

Mitwirkende

 

Dr. G. Thomi (Vorsitz), lic. iur. M. Prack Hoenen, Dr. med. W. Rühl,

und Gerichtsschreiberin Dr. K. Zimmermann

 

 

 

 

Parteien

 

A____

[...]  

vertreten durch Dr. B____, [...]   

                                                        Beschwerdeführer

 

 

 

IV-Stelle Basel-Stadt

Rechtsdienst, Aeschengraben 9, Postfach, 4002 Basel   

                                                    Beschwerdegegnerin

 

 

Gegenstand

 

IV.2023.71

Verfügung vom 27. April 2023

Neurologisch-psychiatrisches Gutachten nicht nur formell, sondern auch inhaltlich mangelhaft. Polydisziplinäres Gutachten notwendig. Beschwerdegutheissung.

 


Tatsachen

I.         

Der 1995 geborene Beschwerdeführer musste nach eigenen Angaben eine begonnene Lehre als [...] abbrechen, weil es ihm nach einer operationsbedürftigen Sprunggelenksfraktur nicht mehr möglich gewesen sei, den körperlichen Anforderungen an das [...] nachzukommen (dagegen sei nach Ansicht des Lehrbetriebs die Beendigung des Lehrverhältnisses aufgrund unentschuldigter Absenzen erfolgt, vgl. IV-Akte 74, S. 23 und IV-Akte 53). Danach arbeitete er von Dezember 2015 bis April 2016 bei der [...] (IV-Akte 17, S. 2), musste dieses Tätigkeit jedoch aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Eine später begonnene Schulung und ein Praktikum als [...] mussten ebenfalls beendet werden (a.a.O.). Ein ab September 2016 absolvierter Zivildienst wurde wegen Schwindel und Migräne abgebrochen (vgl. IV-Akte 17, S. 2). Danach ging der Beschwerdeführer keiner Erwerbstätigkeit mehr nach. Seit Dezember 2018 wird er von der Sozialhilfe unterstützt (IV-Akte 10). Vom 22. April 2019 bis 10. Mai 2019 befand er sich in der C____ (IV-Akte 86).

Im Oktober 2019 meldete sich der Beschwerdeführer zum Leistungsbezug an (IV-Akte 2). Am 28. November 2019 erfolgte ein Vorgespräch in der Klinik D____ (IV-Akte 22, S. 19). Am 4. Dezember 2019 fand eine von der Beschwerdegegnerin angeordnete Abklärung beim RAD-Arzt Dr. E____, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und zertifizierter medizinischer Gutachter SIM, statt (IV-Akte 19). Am 6. Dezember 2019 führte dieser ein Telefonat mit dem Hausarzt und mit dem behandelnden Psychiater (IV-Akte 18) und verfasste am 20. Dezember 2019 eine psychiatrische Stellungnahme (IV-Akte 19).

Die Beschwerdegegnerin gab beim F____ (F____) das neurologisch-psychiatrische Gutachten von Dr. G____, Psychiatrie, und Dr. H____, Neurologie, vom 18. Mai 2021 in Auftrag (IV-Akte 44). Nach einer Rückfrage an die Gutachterstelle (IV-Akte 54), zu welcher die psychiatrische Gutachterin mit Schreiben vom 25. Januar 2022 Stellung nahm (IV-Akte 61), befand der RAD, dass auf das Gutachten nicht abgestellt werden könne (IV-Akte 63). Diese Ansicht teilte ein interdisziplinär zusammengesetztes Gremium der IV-Stelle, bestehend aus dem Bereich Integration, dem Bereich Rente und dem RAD (IV-Akte 65). Es kam zum Schluss, dass sich aufgrund der vorliegenden Akten nicht ausreichend feststellen lasse, in welchem Ausmass der Beschwerdeführer über Ressourcen Defizite verfüge und dass weitere medizinische Abklärungen in Form einer erneuten psychiatrischen Begutachtung mit einer neuropsychologischen Validitätsprüfung unerlässlich seien (IV-Akte 65, S. 2).

In der Folge gab die Beschwerdegegnerin bei den Dres. I____ und J____ das neuropsychologische Gutachten vom 23. Dezember 2022 (IV-Akte 74) sowie das psychiatrische Gutachten vom 27. Dezember 2022 (IV-Akte 76) mit einer Konsensbeurteilung in Auftrag.

Mit Vorbescheid vom 18. Januar 2023 informierte die Beschwerdegegnerin den Beschwerdeführer, dass sie beabsichtige, bei einem ermittelten IV-Grad von 20% einen Rentenanspruch abzuweisen (IV-Akte 81). Dagegen erhob der Beschwerdeführer Einwand (IV-Akte 86 und 88). Nach einer Stellungnahme des RAD-Psychiaters (IV-Akte 99 und 104) und des Rechtsdienstes (IV-Akte 102), hielt die Beschwerdegegnerin mit Verfügung vom 27. April 2023 am Vorbescheid fest (IV-Akte 105).

II.        

Mit Beschwerde vom 30. Mai 2023 werden beim Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt folgende Rechtsbegehren gestellt:

1.     Es sei die Verfügung der Beschwerdegegnerin vom 27. April aufzuheben und dem Beschwerdeführer die ihm gesetzlich zustehende Invalidenrente ab 1. April 2020 zuzusprechen.

2.     Eventualiter sei die Verfügung der Beschwerdegegnerin vom 30. Januar 2023 aufzuheben und ein erneutes psychiatrisches Gutachten anzuordnen, dabei sei der somatische Gesundheitszustand umfassend abzuklären.

3.     Unter o/e-Kostenfolge.

4.     Eventualiter sei dem Beschwerdeführer die unentgeltliche Rechtspflege mit der unterzeichneten Advokatin als unentgeltlicher Rechtsbeiständin zu bewilligen.

Zusätzlich wird die Durchführung einer mündlichen Hauptverhandlung beantragt.

Der RAD nimmt am 9. Juni 2023 zur Beschwerde Stellung. Die Beschwerdegegnerin beantragt mit Beschwerdeantwort vom 8. August 2023 die Beschwerdeabweisung.

Der Beschwerdeführer hält mit Replik vom 4. Oktober 2023 an den gestellten Rechtsbegehren fest.

Als Beilage zum Schreiben vom 1. November 2023 geht am 2. November 2023 die Tonaufnahme der Begutachtung von Dr. J____ beim Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt ein.

III.      

Mit Instruktionsverfügung vom 4. Juni 2023 wird dem Beschwerdeführer der Kostenerlass bewilligt.

IV.     

Am 20. Dezember 2023 findet die Hauptverhandlung der Kammer des Sozialversicherungsgerichts statt. Der Beschwerdeführer wird befragt und die Vertreter gelangen zum Vortrag. Der Beschwerdeführer beantragt anlässlich der Hauptverhandlung neu die Einholung eines polydisziplinären Gutachtens in den Disziplinen Psychiatrie, Neurologie, Oto-Rhino-Laryngologie, Kardiologie und Rheumatologie. Für alle Ausführungen wird auf das Verhandlungsprotokoll und die nachstehenden Entscheidungsgründe verwiesen.

Entscheidungsgründe

1.                  

1.1.            Das Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt ist als einzige kantonale Instanz zuständig zum Entscheid über die vorliegende Streitigkeit (§ 82 Abs. 1 des Gesetzes vom 3. Juni 2015 betreffend die Organisation der Gerichte und der Staatsanwaltschaft [Gerichtsorganisationsgesetz, GOG; SG 154.100]). Die örtliche Zuständigkeit des angerufenen Gerichts ergibt sich aus Art. 69 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung vom 19. Juni 1959 (IVG; SR 831.20).

1.2.            Da die Beschwerde fristgerecht eingereicht wurde und auch die übrigen formellen Voraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten.

2.                  

2.1.            Die Beschwerdegegnerin hat in der angefochtenen Verfügung vom 27. April 2023 einen Rentenanspruch bei einem ermitteln IV-Grad von 20% verneint. Sie stützte sich dabei in medizinischer Sicht auf das bei den Dres. I____ und J____ eingeholte neuropsychologische Gutachten vom 23. Dezember 2022 sowie das psychiatrische Gutachten vom 27. Dezember 2022 mit Konsensbeurteilung (IV-Akten 74 und 76). 2.2.            Der Beschwerdeführer bringt dagegen vor, die Tonaufnahme der Begutachtung sei unverständlich und das Gutachten deshalb nicht verwertbar. Des Weiterem bringt er verschiedene inhaltliche Mängel gegen das Gutachten vor. Schliesslich beanstandet er in erwerblicher Hinsicht den von der Beschwerdegegnerin vorgenommenen Einkommensvergleich. 2.3.            Streitig und zu prüfen ist damit, ob sich die Verfügung mit Blick auf die Beschwerde halten lässt.

3.                  

3.1.            3.1.1. In einem ersten Schritt lässt der Beschwerdeführer vorbringen, dass die Tonaufnahme des Begutachtungsgesprächs völlig unverständlich sei (Beschwerde, S. 15; Replik, S. 1). Dadurch könne Art und Weise der Gesprächsführung vorliegend nicht überprüft werden (Beschwerde, S. 15). 3.1.2. Die Beschwerdegegnerin hält dem entgegen, sie habe die Aufnahme nicht abgehört (Protokoll HV, S. 1). Die Qualität der Aufnahme sei von Amtes wegen fest-zustellen. Möglicherweise hätten gewisse Gutachter technisch Mühe. Es finde keine Qualitätskontrolle durch den Rechtsdienst statt (a.a.O.). 3.2.            In der Tat weist die am 2. November 2023 dem Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt zugestellte Tonaufnahme eine schlechte Qualität auf. Nur bei einem hochwertigen Abspielgerät mit ausgezeichneten Lautsprechern sind die darauf enthaltenen Stimmen unterscheidbar. Aber auch dann muss man sich immernoch sehr stark konzentrieren, um die einzelnen Stimmen und Sätze auseinanderzuhalten und verstehen zu können. Für ein Abspielgerät handelsüblicher Qualität ist die Aufnahme tatsächlich nicht gut genug, um sinnvoll und verständlich abgehört zu werden. 3.3.            Vorliegend handelt es sich bei der beanstandeten Tonaufzeichnung nicht um ein medizinisches Abklärungsinstrument zur Herstellung der medizinischen Spruchreife bzw. der medizinischen Grundlagen für den Rentenentscheid, die in das medizinische Sachverständigenermessen fällt. Mit anderen Worten bildet sie keinen Teilaspekt der Fruchtbarmachung des medizinischen Sachverstands, sondern stellt ein verfahrensrechtliches Mittel zur Gewährleistung eines fairen Verwaltungsverfahrens dar. Mit der beantragten Tonaufzeichnung wird eine objektive und transparente Dokumentation des Grundrechtseingriffs während seiner gesamten Dauer gewährleistet. Zudem dient sie der Nachvollziehbarkeit der Arbeitsfähigkeitsbeurteilung bzw. des Ergebnisses der Ausübung des medizinischen Sachverständigenermessens. Es handelt sich bei der Tonaufzeichnung um eine Massnahme, um "das Vertrauen seitens der Versicherten gegenüber den Begutachtern und damit eine erhöhte Rechtssicherheit aufgrund der Verlässlichkeit der Grundlagen" zu gewährleisten (siehe hierzu Votum Kuprecht Alex vom 19. September 2019, AB 2019 S 806). Eine Tonaufnahme der Explorationsgespräche "schafft Klarheit und schützt eben auf beiden Seiten. Es ist also nicht nur im Interesse der Versicherten - die damit vor falschen Angaben, die allenfalls im Gutachten genannt werden, vor Angaben, bei denen sie das Gefühl haben, sie seien falsch, geschützt werden -, sondern es schützt auch die Gutachterinnen und Gutachter." (Votum Bruderer Wyss Pascale vom 19. September 2019, AB 2019 S 806). Im Ergebnis stellt daher "die Tonaufnahme […] einerseits eine Präventionsmassnahme dar, um Missbrauch vorzubeugen. Andererseits führt die Tonaufnahme aber auch dazu, dass mehr Transparenz und eine höhere Qualität bei den Gesprächen erreicht werden. Denn nur damit lässt sich im Konfliktfall letztlich sicherstellen, was im Gespräch zwischen der betroffenen Person und der Gutachterin dem Gutachter tatsächlich gesagt wurde" (Votum Lohr Christian vom 10. Dezember 2019, AB 2019 N 2199). 3.4.            Vor dem Hintergrund der grossen Bedeutung der Tonaufnahme, welche von den eidgenössischen Räten zur Verbesserung der Defizite bei der Regelung von Qualität und Transparenz eingeführt wurde, liegt mit der vorliegend qualitativ schlechten Tonaufnahme ein schwerer formeller Mangel vor. Auf das Gutachten kann deshalb bereits aus diesem Grund nicht abgestellt werden. 3.5.            3.5.1. In diesem Zusammenhang ist der Vollständigkeit halber darauf hinzuweisen, dass im Kreisschreiben über das Verfahren in der Invalidenversicherung (KSVI) das Verfahren bei technischen Mängeln an der Tonaufnahme für verschiedene Fallkonstellationen normiert ist. So wird unter anderem festgehalten, dass die IV-Stelle, welche technische Mängel an der Tonaufnahme feststellt, mit dem Sachverständigen resp. der Gutachterstelle Kontakt aufnimmt (Rz. 3123). Lässt sich die technische Mangelhaftigkeit der Tonaufnahme nicht beheben, informiert die IV-Stelle die versicherte Person darüber (Rz. 3124). Will die versicherte Person daraufhin gestützt auf diese Information die Verwertbarkeit des Gutachtens in Frage stellen, hat sie dies der IV-Stelle innerhalb von 10 Tagen ab dem Zeitpunkt der Information schriftlich unter Angabe der Gründe mitzuteilen (Rz. 3125). Gleichzeitig regelt die KSVI aber auch den Fall, dass die versicherte Person gestützt auf selber entdeckte technische Mängel der Tonaufnahme die Verwertbarkeit des Gutachtes in Frage stellen will. Diesfalls hat sie der IV-Stelle dies bis spätestens 10 Tage nachdem ihr die Tonaufnahme zum Abhören zugestellt worden ist, schriftlich unter Angabe von Gründen mitzuteilen (Rz. 3126). In der Folge prüft die IV-Stelle das Begehren der versicherten Person und versucht mit ihr eine Lösung für das weitere Vorgehen zu finden. Können sich die versicherte Person und die IV-Stelle diesbezüglich nicht einigen, erlässt die IV-Stelle eine entsprechende Zwischenverfügung (Rz. 3127).

3.5.2. Im vorliegenden Fall wurden die obenstehenden Vorgaben nicht eingehalten. Insbesondere besteht auch keine entsprechende Zwischenverfügung. Dies ist wohl den Anfangsschwierigkeiten im Umgang mit Tonaufnahmen geschuldet und vorliegend deshalb unschädlich, weil das Gutachten zusätzlich auch inhaltliche Mängel aufweist, worauf nachfolgend einzugehen ist.

4.                  

4.1.            4.1.1. Die neuropsychologische Gutachterin Dr. phil. I____ attestierte dem Beschwerdeführer eine minimale bis leichte neuropsychologische Funktionsstörung bei/mit

·       Antriebsstörung im Rahmen einer möglichen depressiven und/oder somatoformen Störung, bei aktenanamnestisch unspezifischer Somatisierungsstörung (ICD 10 F45.1); DD: im Rahmen einer habituellen Verlangsamung im Zuge der fehlenden Tagesstruktur

·       möglichen Interferenzen durch Kopfschmerzen, Schwindel und Übelkeit

·       schädlichem Gebrauch von Alkohol (ICD-10 F10.1)

·       aktenanamnestisch sonstige spezifische Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F60.8), gemäss aktuellem Resultat des MMPl-2-RF Hinweise auf eine selbstunsicher-vermeidende Persönlichkeitszüge -störung (IV-Akte 74, S. 25).

4.1.2. In der Beurteilung führte sie aus, die aufgrund des Profils des MMPl-2-RF zu erwägenden Diagnosen würden überwiegend jenen entsprechen, die klinisch bereits gestellt worden seien, nämlich die einer somatoformen Störung (hier unspezifische Somatisierungsstörung), Störungen im Zusammenhang mit psychotropen Substanzen (hier Alkoholabusus) und einer (selbstunischer-vermeidenden) Persönlichkeitsstörung (IV-Akte 74, S. 27). Hinzukommen würden noch Anzeichen einer depressiven Störung, die jedoch je nach Ausmass auch unter der Diagnose einer somatoformen Störung subsummiert werden könnten. Inwieweit das inadäquate Sozialverhalten Ausdruck einer gestörten sozialen Kognition (als mögliches Anzeichen eines denkbaren partiellen fetalen Alkoholsyndroms) einer möglichen Persönlichkeitsstörung darstellt, bleibe offen (a.a.O.).

4.1.3. Dagegen attestierte der Gutachter Dr. J____ dem Beschwerdeführer im psychiatrischen Teilgutachten als einzige Diagnose mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit eine Störung durch Alkohol, schädlicher Gebrauch (ICD-10 F 10.1) sowie als Diagnose ohne Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit einen Verdacht auf eine undifferenzierte Somatisierungsstörung (ICD-10 F45.1, IV-Akte 76, S. 23). Das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung verneinte er (IV-Akte 76, S. 25).

4.1.4. Aus gesamtmedizinischer Sicht attestierten die Gutachter dem Beschwerdeführer eine Arbeitsfähigkeit von 80% in der bisherigen Tätigkeit seit Anfang 2020 (IV-Akte 76, S. 28). Angaben zum Verweisprofil und zur Arbeitsfähigkeit in einer leidensangepassten Tätigkeit fehlen in der dem Gericht zugestellten Version der IV-Akten, wo das eingescannte Gutachten von Seite 28 direkt zur Seite 33 übergeht (vgl. IV-Akte 76, S. 28 und 29). Immerhin lässt sich feststellen, dass die Gutachter der Ansicht waren, der Beschwerdeführer solle in eine stationäre Entzugsbehandlung, damit die Arbeitsfähigkeit präziser beurteilt werden könne (IV-Akte 76, S. 29).

4.2.            4.2.1. Neben dem Umstand, dass das Gutachten von der Beschwerdegegnerin offenbar unvollständig in die elektronischen Akten übertragen worden ist, bringt der Beschwerdeführer gegen das Gutachten verschiedene inhaltliche Rügen vor. 4.2.2. So macht er geltend, die Aussage von Dr. J____, wonach die Diagnose Persönlichkeitsstörung nicht bestätigen könne, sei vor dem Hintergrund, dass zuvor etliche Ärzte und Psychologen beim Beschwerdeführer eine Persönlichkeitsstörung diagnostizierten vermutet haben, nicht ausreichend begründet und damit nicht nachvollziehbar. In der Tat fällt auf, dass von der Gutachterin Dr. phil. I____ anlässlich der neuropsychologischen Testung eine selbstunsicher-vermeidende Persönlichkeitsstörung erwogen wurde (IV-Akte 74, S. 18), worauf Dr. J____ nicht eingegangen ist. Bereits im Vorgutachten war die psychiatrische Gutachterin Dr. G____ von einer sonstigen unspezifischen Persönlichkeitsstörung ausgegangen (IV-Akte 44, S. 34 und IV-Akte 61, S. 1 f.), worauf Dr. J____ lediglich festhielt, anlässlich seiner Untersuchung habe sich diese Diagnose nicht bestätigen lassen (IV-Akte 76, S. 25). Schliesslich ging auch Dr. K____, Kaderarzt der Klinik für [...] in seinem Bericht vom 6. April 2020 von einem Verdacht auf eine Beeinträchtigung der Persönlichkeitsentwicklung und einem Verdacht auf eine Somatisierungsstörung aus, wozu Dr. J____ lediglich festhielt, da keine festen Diagnosen gestellt worden seien, hätten sich diesbezüglich keine relevanten Diskrepanzen gefunden (IV-Akte 76, S. 25). 4.3.            Auffällig ist auch, dass neben Dr. G____, welche von einer 100%-igen Arbeitsunfähigkeit ausgegangen ist (IV-Akte 44, S. 8), auch der RAD-Psychiater Dr. E____, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und zertifizierter Gutachter SIM, welcher mit dem Beschwerdeführer ein Untersuchungsgespräch von 95 Minuten führte, zum Schluss kam, dass der Beschwerdeführer nur zu 25-30% eingliederungsfähig sei. An einer Auseinandersetzung mit dieser diametral unterschiedlichen Einschätzung von Dr. E____ fehlt es im Gutachten von Dr. J____ gänzlich. 4.4.            Daneben rügt der Beschwerdeführer es falle auf, dass der Gutachter im Gegensatz zum neuropsychologischen Gutachten und der Mehrzahl der anderen behandelnden Ärzte und Psychologen keinerlei Auffälligkeiten in der Stimmung, der Schwingungsfähigkeit und dem Interaktionsverhalten des Beschwerdeführers festgestellt habe (Beschwerde, S. 15). In der Tat zeigte der Beschwerdeführer anlässlich der neuropsychologischen Untersuchung ein auffälliges Verhalten mit Absenken des Kopfes und fehlendem Blickkontakt (IV-Akte 74, S. 13). Zudem wurde vermerkt, der Versichert habe im affektiven Ausdruck wenig spürbar, müde und vitalitätsgemindert gewirkt, ohne affektive Durchbrüche Parathymie (a.a.O.). Auch hierzu hätte sich der Gutachter Dr. J____ äussern müssen. 4.5.            Ein weiterer Widerspruch, der vorliegend nicht aufgelöst werden kann, liegt darin, dass die Angaben des Beschwerdeführers gemäss Dr. J____ nicht konsistent und zum Teil widersprüchlich gewesen seien und es eine Dramatisierungstendenz gegeben habe (IV-Akte 76, S. 21), wohingegen die neuropsychologische Gutachterin anlässlich der umfangreichen Untersuchungen und Tests beim Beschwerdeführer gerade keine Hinweise auf Inkonsistenten und Aggravation feststellte (vgl. IV-Akte 74, S. 17 f.). 4.6.            Aus dem Gesagten folgt als Zwischenfazit, dass das neurologisch-psychiatrische Gutachten nicht nur formell, sondern auch inhaltlich als mangelhaft zu bezeichnen ist, weshalb es vorliegend nicht als medizinische Grundlage für die Rentenprüfung dienen kann. 4.7.            Der Beschwerdeführer beantragte anlässlich der Hauptverhandlung neu die Einholung eines polydisziplinären Gutachtens in den Disziplinen Psychiatrie, Neurologie, Oto-Rhino-Laryngologie, Kardiologie und Rheumatologie (Protokoll HV, S. 1). Dies erscheint vorliegend als angebracht, finden sich doch im Dossier des Beschwerdeführers nicht weniger als 13 verschiedene Diagnosen (u.a. betreffend Schwindel, Herzinsuffizienz, einen gebrochenen Fuss, Probleme mit der Bandscheibe sowie div. psychiatrische Einschränkungen), von denen viele nicht nachvollziehbar sind. Vor dem Hintergrund der vielfältigen gesundheitlichen Probleme des Beschwerdeführers erscheint eine polydisziplinäre Begutachtung in den Disziplinen Psychiatrie, Neurologie, Oto-Rhino-Laryngologie, Kardiologie und Rheumatologie als notwendig. Anschliessend wird die Beschwerdegegnerin erneut über den Rentenanspruch des Beschwerdeführers zu entscheiden haben. 4.8.            Bei dieser Ausgangslage ist auf das als zu tief gerügte Valideneinkommen vorliegend nicht näher einzugehen.

5.                  

5.1.            Folglich ist die Beschwerde gutzuheissen und es ist die Verfügung vom 27. April 2023 aufzuheben. Die Sache ist zu weiteren medizinischen Abklärungen im Sinne der obigen Erwägungen an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen. 5.2.            Bei diesem Ausgang des Verfahrens gehen die ordentlichen Kosten, bestehend aus einer Gebühr von Fr. 800.00, zu Lasten der Beschwerdegegnerin. 5.3.            Die Beschwerdegegnerin hat dem anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung auszurichten. Die Rechtsvertreterin hat anlässlich der Hauptverhandlung eine Honorarnote eingereicht, in welcher sie ein Honorar von Fr. 5’552.30 inkl. Barauslagen und Mehrwertsteuer geltend macht. 5.4.            Es entspricht der Praxis des Sozialversicherungsgerichts in durchschnittlichen sozialversicherungsrechtlichen Beschwerdeverfahren mit doppeltem Schriftenwechsel bei der Bemessung der Parteientschädigung für anwaltlich vertretene Versicherte von einem Honorar in der Höhe von Fr. 3'750.00 (inkl. Auslagen) zuzüglich Mehrwertsteuer auszugehen. Diese Pauschale basiert auf einem Stundenansatz von Fr. 250.00 und einem geschätzten Aufwand von 15 Stunden. Bei der Anwendung der Pauschale wird berücksichtigt, dass der effektive Aufwand davon nach oben und nach unten abweichen kann, sich im Schnitt aber ausgleicht. Bei komplizierten Verfahren kann dieser Ansatz entsprechend erhöht, bei einfachen Verfahren entsprechend herabgesetzt werden. Der vorliegende Fall ist durchschnittlicher Natur, da insbesondere die Frage der Qualität der Tonaufnahme im Vordergrund stand. Allerdings fand neben dem doppelten Schriftenwechsel zusätzlich eine Hauptverhandlung statt, welche praxisgemäss mit zusätzlich Fr. 750.00 vergütet wird. Nach dem Gesagten erscheint ein Honorar in Höhe von Fr. 4‘500.00 (inklusive Auslagen) zuzüglich Mehrwertsteuer als angemessen und ist entsprechend zuzusprechen.
Demgemäss erkennt das Sozialversicherungsgericht:

://:      Die Beschwerde wird gutgeheissen und die Verfügung vom 27. April 2023 aufgehoben. Die Sache wird an die Beschwerdegegnerin zurückgewiesen, damit sie ein neues polydisziplinäres Gutachten im Sinne der Erwägungen einholt und anschliessend erneut über den Rentenanspruch des Beschwerdeführers entscheidet.

Die ordentlichen Kosten, bestehend aus einer Gebühr von Fr. 800.00, gehen zu Lasten der Beschwerdegegnerin.

Die Beschwerdegegnerin bezahlt dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung von Fr. 4'500.00 (inklusive Auslagen) zuzüglich Fr. 346.50 Mehrwertsteuer.

         

         

 

Sozialversicherungsgericht BASEL-STADT

 

Der Präsident                                                    Die Gerichtsschreiberin

 

 

 

Dr. G. Thomi                                                     Dr. K. Zimmermann

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Rechtsmittelbelehrung

Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen nach der Eröffnung der vollständigen Ausfertigung beim Bundesgericht Beschwerde eingereicht werden (Art. 100 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht [Bundesgerichtsgesetz, BGG]). Die Beschwerdefrist kann nicht erstreckt werden (Art. 47 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdegründe sind in Art. 95 ff. BGG geregelt.

Die Beschwerdeschrift ist dem Bundesgericht, Schweizerhofquai 6, 6004 Luzern, in dreifacher Ausfertigung zuzustellen. Die Beschwerdeschrift hat den Anforderungen gemäss Art. 42 BGG zu genügen; zu beachten ist dabei insbesondere:

a)           Die Beschwerdeschrift ist in einer Amtssprache abzufassen und hat die Begehren, deren Begründung mit Angabe der Beweismittel und die Unterschrift zu enthalten;

b)           in der Begründung ist in gedrängter Form darzulegen, inwiefern der angefochtene Entscheid Recht verletzt;

c)           die Urkunden, auf die sich die Partei als Beweismittel beruft, sind beizulegen, soweit die Partei sie in Händen hat, ebenso der angefochtene Entscheid.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Geht an:

–        Beschwerdeführer
–       
Beschwerdegegnerin

–        Bundesamt für Sozialversicherungen

 

Versandt am:      



 
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