15 Behindertengerechtes bzw. hindernisfreies Bauen
Die in der Norm SIA 500 Hindernisfreie Bauten , Ausgabe 2009,
festgehaltenen (Mindest-)Anforderungen bei einem Mehrfamilien-
haus-Neubau mit 28 Wohnungen müssen von Anfang an erfüllt sein.
Eine Variabilität bzw. Flexibilität ist erst dann zulässig, wenn
bzw. solange die Mindestanforderungen gemäss Norm SIA 500 er-
füllt sind (zweistufiges Konzept).
Unzulässigkeit verschiebbarer Wände
Aus dem Entscheid des Verwaltungsgerichts, 3. Kammer, vom 30. August
2019, in Sachen A. AG gegen Gemeinderat B. und Departement Bau, Verkehr
und Umwelt (WBE.2019.40).
2.
In materieller Hinsicht umstritten ist zunächst, ob bezüglich der
Nasszellen die in Ziff. 10.2.1 der Norm SIA 500, Ausgabe 2009, des
Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins (nachfolgend:
SIA-Norm 500) geforderte minimale Raumabmessung von 1.70 m
zwingend einzuhalten ist, ob die von der Beschwerdeführerin
geplante variable Lösung mit einer verschiebbaren Wand (mit
welcher die Raumtiefe je nach Bedarf von 1.40 m auf die in der SIA-
Norm 500 geforderten 1.70 m angepasst/vergrössert werden könne)
zulässig ist.
2.1. (...)
2.2.
2.2.1.
Vorab festzuhalten ist, dass der projektierte Neubau
28 Wohnungen umfasst, womit das Gebäude als Mehrfamilienhaus
gilt (vgl. § 23b ABauV i.V.m. § 64 Abs. 1 BauV; vgl. auch § 18
Abs. 1 BauV). Gemäss § 53 Abs. 1 BauG sind Mehrfamilienhäuser,
die neu erstellt erneuert werden, für Menschen mit Behinde-
rungen zugänglich und benutzbar zu gestalten; diese Pflicht entfällt,
wenn der für Behinderte zu erwartende Nutzen in einem Missver-
hältnis steht, insbesondere zum wirtschaftlichen Aufwand, zu Inte-
ressen des Umweltschutzes, des Natur- und Heimatschutzes zu
Anliegen der Verkehrs- und Betriebssicherheit. Gestützt auf § 53
Abs. 2 BauG hat der Regierungsrats in den §§ 37 f. BauV sodann
Vorschriften zum hindernisfreien Bauen erlassen. § 37 BauV regelt
die Anforderungen an hindernisfreies Bauen: Abs. 1 bestimmt,
dass u.a. Mehrfamilienhäuser nach Massgabe der SIA-Norm 500
Hindernisfreie Bauten , Ausgabe 2009, hindernisfrei zu erstellen
sind. Abs. 2 ist im konkreten Fall sodann nicht von Bedeutung, weil
nicht ein Mehrfamilienhaus mit weniger als neun Wohneinheiten zur
Beurteilung steht. Und § 38 BauV regelt schliesslich den verhält-
nismässigen Aufwand für die hindernisfreie Bauweise.
Beizupflichten ist der Vorinstanz zunächst, dass die Mindestan-
forderungen der SIA-Norm 500 bei einem Neubau bereits von An-
fang an erfüllt sein und im Rahmen der Projektierung mitberücksich-
tigt werden müssen. Dies ergibt sich schon aus dem Wortlaut von
§ 37 Abs. 1 BauV, gemäss welchem u.a. Mehrfamilienhäuser nach
Massgabe der SIA-Norm 500 hindernisfrei zu erstellen sind. Eben-
falls zutreffend ist, dass es sich bei der SIA Norm 500 gemäss § 37
Abs. 1 BauV nicht eine Richtlinie handelt, sondern um eine verbind-
lich einzuhaltende Norm. Dem Merkblatt Nr. 201 Die Bedeutung
des anpassbaren Wohnungsbaus (12/10) der Procap lässt sich so-
dann entnehmen, dass das Konzept der Anpassbarkeit auf einer zwei-
stufigen Strategie basiert: Alle Wohnungen seien so zu erstellen, dass
sie auch für Menschen im Rollstuhl etc. weitgehend besuchsgeeignet
seien. Gleichzeitig sei bereits bei der Erstellung sicherzustellen, dass
nachträgliche Anpassungen an die individuellen Bedürfnisse behin-
derter Personen mit wenig Aufwand möglich seien. Bauliche Anpas-
sungen würden jedoch erst dann vorgenommen, wenn sie erforder-
lich und auch im Detail bekannt seien; genannt werden z.B. Apparate
oder Haltegriffe, welche allenfalls im Badezimmer zu montieren
seien. Das Merkblatt hält weiter fest, dass u.a. Raumgrössen bereits
bei der Erstellung genügend gross zu dimensionieren seien und so
nicht mehr verändert werden müssten. Das Konzept für Wohnbauten,
bei denen es sich um individuell genutzte Räume handle, verlange
damit nicht von Anfang an eine umfassende Behindertengerechtig-
keit. Deshalb müsse auch nicht eine grosse Zahl von Anforderungen
eingehalten werden - in der SIA-Norm genügten dafür vier Seiten
(Merkblatt Nr. 201 Die Bedeutung des anpassbaren Wohnungsbaus
[10/12] der Procap). Umgekehrt formuliert müssen jedoch die in der
SIA-Norm festgehaltenen (wenigen) Anforderungen von Anfang an
eingehalten werden. Mit andern Worten ergibt sich auch aus dem
Merkblatt und dem zweistufigen Konzept, das der SIA-Norm 500
zugrunde liegt, dass die in der SIA-Norm 500 festgehaltenen (Min-
dest-)Anforderungen bei einem Mehrfamilienhaus-Neubau von An-
fang an erfüllt sein müssen.
Abweichungen von den Bestimmungen der SIA-Norm 500 sind
dann zulässig, wenn auf andere Art nachweislich erreicht wird, was
die einzelnen Bestimmungen vorgeben (SIA-Norm 500, Ziff. 0.2.1).
Falls in einem Bauvorhaben einzelne Bestimmungen der SIA-Norm
500 nicht eingehalten werden können, sind die Abweichungen im
Rahmen der Verhältnismässigkeit durch die zuständigen Instanzen
festzulegen (SIA-Norm 500, Ziff. 0.2.2).
2.2.2.
Mit dem Baugesuch wird um die Bewilligung eines konkreten
Bauvorhabens ersucht. Das Baubewilligungsverfahren bezweckt die
Feststellung, ob das zugrundeliegende Bauvorhaben mit den ein-
schlägigen Vorschriften des öffentlichen Rechts übereinstimmt (vgl.
AGVE 2000, S. 247; ANDREAS BAUMANN, in: Kommentar zum
Baugesetz des Kantons Aargau, Bern 2013, § 59 N 29; ERICH
ZIMMERLIN, Baugesetz des Kantons Aargau vom 2. Februar 1971,
Kommentar, 2. Auflage, Aarau 1985, § 152 N 5). Überprüft wird da-
bei die gemäss eingereichtem Baugesuch geplante Baute Anla-
ge, nicht jedoch allfällige Möglichkeiten und Variationen aufgrund
unbekannter Wünsche und Bedürfnisse eventueller späterer Mieter
oder Eigentümer. Mit der Baubewilligung soll sichergestellt werden,
das zum Zeitpunkt der Erteilung der Baubewilligung, der Erstellung
und der Abnahme der Baute Anlage der gesetzeskonforme Zu-
stand besteht. Allfällige spätere Änderungen müssen ebenfalls die
gesetzlichen Vorgaben einhalten, allenfalls ist dafür ein neues Bau-
bewilligungsverfahren erforderlich. Eine Variabilität bzw. Flexibi-
lität ist erst dann zulässig, wenn bzw. solange die Mindestanforde-
rungen gemäss SIA-Norm 500 erfüllt sind. Dies entspricht dem
zweistufigen Konzept.
Die SIA-Norm 500 schreibt in Ziff. 10.2.1 Anpassbarer Bad-
/Duschraum vor, dass pro Wohnung mindestens ein Bad- oder
Duschraum mit Klosett u.a. folgende Masse einhalten muss: Nutz-
fläche mindestens 3.80 m2, wobei keine Raumabmessung weniger
als 1.70 m betragen darf. Die erforderlichen Fertigmasse dürfen nicht
durch Vormauerungen reduziert werden . Entgegen der Ansicht der
Beschwerdeführerin ist dabei unerheblich, ob der Raum geschickt
angeordnet ist die Länge des Raums 2.89 m misst. Solange
(u.a.) nicht jede Raumabmessung mindestens 1.70 m beträgt, ent-
spricht das Vorhaben nicht den rechtlichen Mindestanforderungen.
Der Gemeinderat weist im Übrigen völlig richtig darauf hin,
dass die Argumentation der Beschwerdeführerin, die Grundstruktur
des Gebäudes müsste im Moment nicht behindertengerecht erstellt
werden, vergleichbar mit der Argumentation ist, zu einem Mehrfami-
lienhaus müssten keine Spielflächen erstellt werden, weil keine Kin-
der im Gebäude wohnten; der Spielplatz werde beim Zuzug von
Kindern dann erstellt. Eine solche Argumentation wäre mit den ge-
setzlichen Vorgaben nicht vereinbar (§ 54 Abs. 1 BauG). Analog ver-
hält es sich beim behindertengerechten Bauen. Geht es um den Bau
eines Mehrfamilienhauses, so muss dieser Neubau behinderten-
gerecht bzw. hindernisfrei gemäss SIA-Norm 500 erstellt werden
(§ 53 BauG i.V.m. § 37 BauV). Dabei müssen die Minimalanforde-
rungen gemäss SIA-Norm 500 von Anfang an erfüllt sein (zweistufi-
ges Konzept). Dies gilt auch für die Beschwerdeführerin, und zwar
unabhängig davon, ob im derzeitigen Zeitpunkt der Bedarf dafür be-
reits besteht nicht.
Demgemäss ist auch im vorliegenden Fall eine Badezimmer-
breite von (mindestens) 1.70 m in sämtlichen Wohnungen einzuhal-
ten. Die von der Beschwerdeführerin projektierte Lösung mit einer
(angeblich) leicht demontier- bzw. verschiebbaren Wand sieht im
Grundsatz eine Badezimmerbreite von 1.40 m vor, womit die Min-
destanforderungen nicht erfüllt sind und sich die Lösung als nicht
rechtmässig erweist. Dass die von der Beschwerdeführerin geplante
Lösung nicht zulässig ist, entspricht im Übrigen auch der Ansicht der
Fachstelle Hindernisfreies Bauen der Kantone Aargau und Solothurn
(Procap). Ein Ausnahmegrund, weshalb von den Bestimmungen der
SIA-Norm 500 abgewichen werden dürfte, ist schliesslich ebenfalls
nicht ersichtlich.
3.
Weiter ist umstritten, ob bezüglich der Korridore im Dachge-
schoss die in Ziff. 9.3.1 der SIA-Norm 500 geforderte nutzbare Brei-
te von 1.20 m zwingend einzuhalten ist, ob die von der Be-
schwerdeführerin geplante Lösung mit den flexiblen selbststehen-
den Schränken (welche verschoben werden könnten, damit die Brei-
te bei Bedarf den gemäss SIA-Norm 500 geforderten 1.20 m ent-
spricht) zulässig ist.
3.1. (...)
3.2.
Unbestritten ist vorab, dass die Beschwerdeführerin die in den
Plänen Grundriss DG (...) sowie 01 Appartement Layout, DG
Apartment 1:50 (...) eingetragene und hier umstrittene Schrank-
wand tatsächlich auch einbauen will. Entsprechend ist es mit den
Vorinstanzen auch richtig, die Schrankwand bei der Beurteilung, ob
die Baute behindertengerecht bzw. hindernisfrei ist, miteinzubezie-
hen. Zu den rechtlichen Vorgaben bzw. zur SIA-Norm 500, deren
Mindestanforderungen verbindlich einzuhalten sind, kann zunächst
auf die bereits gemachten Darlegungen in Erw. 2.2.1 und 2.2.2
(erster Absatz) verwiesen werden. Die dortigen Ausführungen gelten
auch für die umstrittenen Korridore bzw. das (angeblich) flexible
Schranksystem im Dachgeschoss. Eine Flexibilität ist auch hier erst
dann zulässig, wenn bzw. solange die Mindestanforderungen gemäss
SIA-Norm 500 erfüllt sind.
Gemäss SIA-Norm 500, Ziff. 9.3.1 hat die nutzbare Breite von
Wegen und Korridoren mindestens 1.20 m zu betragen. Nach
Ziff. 9.3.2 sind geringere Breiten zwischen 1.00 und 1.20 m bedingt
zulässig: Bei geraden Wegen und Korridoren ohne seitlichen Ab-
gänge; bei Korridoren, bei denen seitlich angeordnete Türen und
Durchgänge eine erhöhte Mindestbreite gemäss der Formel Nutz-
bare Tür- Durchgangsbreite + Korridorbreite >= 2 m aufweisen.
Gemäss nachvollziehbarer Beurteilung der Procap handelt es sich bei
den Korridoren zu den Zimmern im DG (in den Plänen werden diese
Zimmer als Büro bezeichnet) um Korridore mit seitlichem Abgang
gemäss Ziff. 9.3.1 der SIA-Norm 500, womit sie eine Mindestbreite
von 1.20 m erfordern. Diese verbindliche Mindestbreite kann mit der
projektierten Schrankwand indes nicht eingehalten werden, weshalb
die geplante Lösung nicht zulässig ist. Dies hielt bereits die Procap in
ihren Berichten vom 21. März 2017 und vom 24. Oktober 2017 fest.
Abgesehen davon ist auch nicht ersichtlich, wie die Schrankwand re-
alistischerweise sinnvoll verschoben werden soll, wenn die vorge-
schriebene Mindestbreite von 1.20 m eingehalten werden wollte, da
die Schrankwand dann teilweise vor den bodenhohen Sitzplatzfens-
tern stehen würde. Ein Ausnahmegrund, wonach von den Bestim-
mungen der SIA-Norm 500 abgewichen werden dürfte, ist im Übri-
gen auch hier nicht ersichtlich.
Wollen Sie werbefrei und mehr Einträge sehen?
Hier geht es zur Registrierung.