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74 Behindertengleichstellung (§ 53 Abs. 1 BauG; § 38 Abs. 1 BauV) - Ein als religiöses Zentrum genutztes Vereinslokal gilt als öffentlich zugängliche Baute i.S.v. § 53 Abs. 1 BauG (Erw. 9.3.2). - Die wirtschaftliche Tragbarkeitsgrenze von 20 % der Erneuerungs- kosten (§ 38 Abs. 1 lit. b BauV) kommt auch bei Nutzungsänderun- gen zur Anwendung, welche nur minimale bauliche Investitionskos- ten auslösen (Erw. 9.3.3). Aus dem Entscheid des Regierungsrats i.S. I.A.-Gemeinschaft gegen den
Entscheid des Departements Bau, Verkehr und Umwelt (Abteilung für Baube-
willigungen)/Gemeinderats G. vom 26. November 2014 (RRB Nr. 2014-
01282).
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Aus den Erwägungen 9.1 Der Gemeinderat unterbreitete das Baugesuch der Beschwerde führerin während des erstinstanzlichen Baubewilligungsverfahrens der Stiftung Procap (Fachstelle Hindernisfreies Bauen der Kantone Aargau/Solothurn). Die Stiftung Procap stellte im Rahmen ihrer Beurteilung fest, dass diverse Anforderungen an die hindernisfreie Ausgestaltung nicht erfüllt bzw. aufgrund ungenügender Pläne nicht überprüfbar seien. Bemängelt werden dabei insbesondere das Fehlen eines rollstuhlgerechten Parkfeldes, die fehlende stufenlose Er schliessung des Erdgeschosses und der Schulungsräume in den Ober geschossen sowie das Fehlen einer rollstuhlgerechten Toilette im Erdgeschoss. Weiter macht die Stiftung Procap darauf aufmerksam, dass der Andachtsraum mit einer Höranlage ausgestattet werden müsse. Die Stiftung Procap stützt ihre Beurteilung des Baugesuches auf die Anforderungen für einen Neubau, da bei Erweiterungen Nutzungsänderungen kein Besitzstand geltend gemacht werden könne. (...) 9.2 Gemäss § 53 Abs. 1 BauG sind öffentlich zugängliche Bauten und Anlagen, Bauten und Anlagen mit mehr als 50 Arbeitsplätzen so wie Mehrfamilienhäuser, die neu erstellt erneuert werden, für Menschen mit Behinderungen zugänglich und benutzbar zu gestal ten. Diese Pflicht entfällt, wenn der für Behinderte zu erwartende Nutzen in einem Missverhältnis steht, insbesondere zum wirtschaftli chen Aufwand, zu Interessen des Umweltschutzes, des Natur- und Heimatschutzes zu Anliegen der Verkehrs- und Betriebssicher heit. Gemäss § 37 Abs. 1 BauV richtet sich die Beurteilung der hindernisfreien Ausgestaltung dabei nach Massgabe der Norm SIA 500 "Hindernisfreie Bauten", Ausgabe 2009, des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins (SIA). Jedoch kann bei der Erneuerung von Bauten und Anlagen eine hindernisfreie Bauweise nur soweit verlangt werden, als der Aufwand dafür nicht mehr be-
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trägt als 5 % des Gebäudeversicherungswerts vor der Erneuerung (§ 38 Abs. 1 lit. a BauV) bzw. 20 % der Erneuerungskosten, wobei als solche die voraussichtlichen Baukosten ohne besondere Massnah men für Behinderte gelten (§ 38 Abs. 1 lit. b BauV). Als Baukosten gelten gemäss der eben genannten Bestimmung (§ 38 Abs. 1 lit. b BauV) die Kosten ohne Vorbereitungsarbeiten (Abbruch- und Räu mungsarbeiten), Umgebungsarbeiten, Nebenkosten (Gebühren und dergleichen) und Ausstattung (Möblierung und dergleichen). 9.3 9.3.1 Für den Regierungsrat steht fest, dass das Baugesuch die gesetzlichen Anforderungen für die hindernisfreie Ausgestaltung ei ner neu errichteten, öffentlich zugänglichen Baute nicht gänzlich er füllt. Insbesondere fehlt es an einer stufenlosen Erschliessung des Ober- und wohl auch des Erdgeschosses (vgl. dazu: Ziff. 3.1.2 SIA Norm 500; Baupläne) und an mindestens einer rollstuhlgerechten Toilette (Ziff. 7.2.1.2 SIA-Norm 500). Bevor aber die Anforderungen an eine hindernisfreie Ausgestal tung weiter erörtert werden, ist jedoch genauer zu beleuchten, ob und inwieweit im Rahmen der vorliegenden Umnutzung die Beschwerde führerin überhaupt verpflichtet werden kann, das bestehende Bau werk neu hindernisfrei auszugestalten. Dabei stellt sich die Frage, ob das Vereinslokal als öffentlich zugängliche Baute gilt (Erw. 9.3.2) bzw. ob und inwieweit die gestellten Anforderungen an die Umgestaltung des bestehenden Baus verhältnismässig (insbesondere wirtschaftlich tragbar) sind (Erw. 9.3.3): 9.3.2 Im kantonalen Recht wird der Begriff "öffentlich zugänglich" nicht näher umschrieben. Eine Definition erfolgt jedoch in der SIA Norm 500 und in der bundesrätlichen Verordnung über die Beseiti gung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen (Be hindertengleichstellungsverordnung, BehiV) vom 19. November 2003. Als öffentlich zugänglich gelten dabei v.a. auch Bauten und Anlagen, die nur einem bestimmten Personenkreis offen stehen, der in einem besonderen Rechtsverhältnis zu Gemeinwesen zu Dienstleistungsanbieterinnen und -anbietern steht, welche in der
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Baute Anlage tätig sind (Art. 2 lit. c BehiV). Als Beispiele nennt die SIA-Norm 500 Schulen, Kirchen und Clubanlagen (Ziff. 1.3.2.2 SIA-Norm 500). Die Beschwerdeführerin plant die Einrichtung eines Vereinslo kals. Das Vereinslokal steht zwar nur den Mitgliedern des Vereins offen. Nichtsdestotrotz gilt es i.S.v. § 53 BauG i.V.m. Art. 2 lit. c BehiV als öffentlich zugänglich, da die Beschwerdeführerin ihren Mitgliedern nicht bloss einen Clubraum zur Verfügung stellt, sondern im Vereinslokal auch vielfältige Dienstleistungen (z.B. Mittags- und Abendgebet, Nachhilfestunden, Integrationskurse) anbietet. Das Ver einslokal ist insoweit sehr gut mit einer Kirche zu vergleichen. Dabei spielt - wie bereits erwähnt - keine Rolle, dass die religiösen und schulischen Angebote der Beschwerdeführerin nur für die Vereins mitglieder erbracht werden (vgl. zum Ganzen auch: Bundesamt für Justiz, Erläuterungen zur Behindertengleichstellungsverordnung, BehiV, 2003, S. 2). Als Zwischenergebnis kann daher festgehalten werden, dass der Andachts- und Aufenthaltsraum sowie die Schulungsräume des Ver einslokals öffentlich zugänglich und daher i.S.v. § 53 Abs. 1 BauG grundsätzlich hindernisfrei auszugestalten sind. 9.3.3 Auf eine hindernisfrei Ausgestaltung kann jedoch verzichtet werden, wenn ein Missverhältnis zwischen dem Nutzen für Behin derte und dem wirtschaftlichen Aufwand entstehen würde (§ 53 Abs. 2 Satz 2 BauG). Diese gesetzliche Regelung des Kantons ent spricht der bundesrechtlichen Minimalvorschrift (Art. 11 f. BehiG) und ist Ausfluss des verfassungsrechtlichen Verhältnismässigkeits prinzips (Art. 5 Abs. 2 BV; § 2 KV). Der Grosse Rat wollte dabei im Rahmen der Teilrevision des Baugesetzes mit einer Neuformulierung von § 53 Abs. 1 Satz 2 BauG sicherstellen, dass das kantonale Recht nicht i.S.v. Art. 4 BehiG weitergeht als die bundesrechtlichen Mini malvorschriften (Botschaft 08.372 des Regierungsrates des Kantons Aargau an den Grossen Rat vom 10. Dezember 2008 zur Teilrevision des Gesetzes über Raumplanung, Umweltschutz und Bauwesen vom 19. Januar 1993, S. 12). Bei der Auslegung des Gesetzestextes und der Beantwortung der Frage, ob und inwieweit bei Nutzungs- und
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Zweckänderungen eine Anpassung der bestehenden Bausubstanz an die Anforderungen des behindertengerechten Bauens zu erfüllen sind, kommt damit der bundesrechtlichen Minimalvorschrift ent scheidendes Gewicht zu: Gemäss Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 lit. a BehiG ordnet das Ge richt die Verwaltungsbehörde die Beseitigung der Benachteili gung beim Zugang zu Bauten, Anlagen und Wohnungen nach Art. 3 lit. a, c und d BehiG nicht an, wenn der Aufwand für die Anpassung 5 % des Gebäudeversicherungswertes beziehungsweise des Neuwer tes der Anlage 20 % der Erneuerungskosten übersteigt. Mit der Bezugnahme auf Art. 3 lit. a BehiG wird bestimmt, dass bei Erneue-
rungen keine Beseitigung der Benachteiligung angeordnet werden soll, wenn der Aufwand die massgebenden Grenzwerte i.S.v. Art. 12 Abs. 1 BehiG übersteigt. Die bundesrechtliche Minimalvorschrift sieht demgemäss - entgegen der Ansicht der Stiftung Procap (Erw. 9.1) - bei allen baulichen Massnahmen eine Tragbarkeitsgrenze von 5 bzw. 20 % vor. Nichts anders folgt aus der Entstehungsgeschichte von Art. 12 Abs. 1 BehiG: Diese Bestimmung wurde nämlich erst im Rahmen der parlamentarischen Beratungen als (indirekter) Ersatz von Art. 2 Abs. 5 des bundesrätlichen Entwurfs eingeführt, wobei Art. 2 Abs. 5 des Entwurfs den Begriff "Erneuern" wie folgt definierte: Als "Erneuern" gilt das Renovieren, Umbauen und Umnutzen von Gebäuden und Anlagen, sofern der gesamte Kostenaufwand 40 % des Neuwertes des Gebäudes Anlage übersteigt (Art. 2 Abs. 5 des bundesrätlichen Entwurfs zu einem Bundesgesetz über die Beseitigung von Benachteiligungen von Menschen mit Behinderun gen, Behindertengleichstellungsgesetz, BehiG, BBl 2001 1840, S. 1841). Damit deutet auch die Entstehungsgeschichte von Art. 12 Abs. 1 BehiG klar daraufhin, dass der Gesetzgeber nicht zwischen Renovieren, Umbauen und Umnutzen unterscheiden wollte. Viel mehr legte der Gesetzgeber in den parlamentarischen Beratungen grosses Gewicht auf die Verhältnismässigkeit (vgl. dazu: Amtliches Bulletin - Die Wortprotokolle von Nationalrat und Ständerat, AB 2002 N 952, Voten Gutzwiler, Meyer und Metzler) und damit auf den Umstand, dass die betroffenen Bauherrschaften nur Investitionen
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tätigen müssen, welche in doppelter Hinsicht (d.h. sowohl bezogen auf den Gebäudeversicherungswert als auch auf die Investitions summe) wirtschaftlich tragbar sind. Da der Aargauer Gesetzgeber sich - wie bereits erwähnt - bloss für die Einführung der bundesrechtlichen Minimallösung entschied, darf der Gemeinderat G. von der Beschwerdeführerin vorliegend nur Massnahmen für hindernisfreies Bauen verlangen, soweit diese nicht mehr als 20 % der massgeblichen Erneuerungskosten betragen. (...) (Anm.: Das Verwaltungsgericht wies die gegen diesen Ent scheid erhobene Beschwerde mit Urteil vom 8. Juli 2015, WBE 2015.19/2015.26, bis auf den Kostenpunkt ab.)
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