2014 Strafprozessrecht 463
II. Strafprozessrecht
92 Sicherheitshaft Die Jugendstaatsanwaltschaft ist zuständig, den Vollzugsort der Sicher- heitshaft im Jugendstrafverfahren zu bestimmen. Aus dem Entscheid des Regierungsrats vom 23. April 2014 i.S. X. gegen den Entscheid des Amts für Justizvollzug (RRB Nr. 2014-000463). Sachverhalt (gekürzt) Gegen X. läuft ein Jugendstrafverfahren. Das Jugendgericht Y.
versetzte X. in Sicherheitshaft. Das Amt für Justizvollzug und der
Vorsteher DVI veranlassten die Verlegung von X. in ein anderes Ge-
fängnis. X. informierte seinen amtlichen Verteidiger mündlich über
den neuen Vollzugsort. Eine anfechtbare Verfügung wurde nicht aus-
gefertigt.
Gegen die Versetzung erhob X. fristgerecht Verwaltungsbe-
schwerde beim Regierungsrat.
Aus den Erwägungen 2. Eintreten
Im vorliegenden Fall ist ein Realakt angefochten, mit welchem
der Beschwerdeführer (in ein anderes Gefängnis) versetzt wurde. Der
Beschwerdeführer bezweifelt im Hauptstandpunkt die Zuständigkeit
des Amts für Justizvollzug, über den Vollzugsort der im Jugendstraf-
verfahren angeordneten Sicherheitshaft zu befinden und damit die
Versetzung des Beschwerdeführers anzuordnen.
Auf die Zuständigkeitsordnung ist vorab einzugehen. Der Be-
schwerdeführer hat Anspruch darauf, dass die von Gesetzes wegen
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zuständige Behörde den Vollzugsort bestimmt. Die vom Beschwer-
deführer aufgeworfene Frage der fehlenden Zuständigkeit des Amts
für Justizvollzug, seine Versetzung anzuordnen (...), kann unabhän-
gig vom Verfügungscharakter des Versetzungsentscheides (...) vor-
gebracht werden. Soweit demnach die fehlende Zuständigkeit des
Amts für Justizvollzug geltend gemacht wird, ist auf die Beschwerde
einzutreten.
3. Vollzugszuständigkeit
3.1
Im Gegensatz zum Erwachsenenstrafrecht (Art. 1 Abs. 2 i.V.m.
Art. 439 Abs. 1 StPO) regelt der Bund im Jugendstrafprozessrecht
auch den Vollzug der gegen Jugendliche verhängten Sanktionen
(Art. 1 der Schweizerischen Jugendstrafprozessordnung [JStPO] vom
20. März 2009). Gemäss Art. 42 JStPO ist für den Vollzug von
Strafen und Schutzmassnahmen die Untersuchungsbehörde zustän-
dig. Untersuchungsbehörde im Jugendstrafverfahren ist im Kanton
Aargau die Jugendanwaltschaft (§ 3 des Einführungsgesetzes zur
Schweizerischen Jugendstrafprozessordnung [EG JStPO] vom
16. März 2010). § 7 SMV bezeichnet die Jugendanwaltschaft auch
noch konkret als zuständige Behörde für den Straf- und Massnah-
menvollzug gegenüber Jugendlichen gemäss den Vorschriften über
die Jugendstrafrechtspflege, wobei die Strafvollzugsverordnung sinn-
gemäss auch für Personen in Untersuchungs- oder Sicherheitshaft
gilt (§ 1 Abs. 3 SMV).
Art. 42 JStPO bestimmt, dass die Untersuchungsbehörde (d.h.
im Aargau die Jugendanwaltschaft) für den Vollzug von Strafen und
Schutzmassnahmen im Jugendstrafverfahren zuständig ist. Der Ju-
gendanwaltschaft kommt demnach die Aufgabe zu, für den (vor-
zeitigen) Vollzug der von ihr selber im Strafbefehlsverfahren bzw.
vom Jugendgericht im Strafurteil ausgesprochenen Strafen (Art. 21
bis 25 JStG) und Schutzmassnahmen (Art. 12 bis 15 JStG) besorgt zu
sein. Der Wortlaut von Art. 42 JStPO umfasst Strafen und Schutz-
massnahmen ausdrücklich; in Art. 42 JStPO nicht explizit erwähnt
wird demgegenüber der Vollzug von freiheitsbeschränkenden
Zwangsmassnahmen i.S.v. Art. 27 JStPO (Untersuchungs- und
Sicherheitshaft). Aus dem Sinn und Zweck des Jugendstrafrechts
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folgt aber, dass die Untersuchungsbehörde (d.h. im Aargau die Ju-
gendanwaltschaft) auch für den Vollzug von freiheitsbeschränkenden
Zwangsmassnahmen zuständig ist:
Laut Art. 1 JStPO regelt die JStPO nicht nur die Verfolgung und
Beurteilung von Jugendlichen, sondern auch den Vollzug von Sank-
tionen. Der Bundesgesetzgeber sieht den Prozess der Jugendgerichts-
barkeit von der Eröffnung der Untersuchung bis zum Ende des Voll-
zugs als Einheit (Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozess-
rechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2005 1085, S. 1353; vgl. dazu
auch: DANIEL JOSITSCH/MARCEL RIESEN-KUPPER/CLAUDIA V. BRUNNER/ANGELIKA MURER MIKOLÁSEK, Schweizerische Jugend- strafprozessordnung, JStPO, Kommentar, Zürich 2010 [fortan:
Kommentar JStPO], Einleitung N. 23 ff. und N. 3 zu Art. 1; Be-
gleitbericht zum Vorentwurf für ein Bundesgesetz über das Schwei-
zerische Jugendstrafverfahren, Eidgenössisches Justiz- und Polizei-
departement, Bundesamt für Justiz, Bern, 2001 [fortan: Begleit-
bericht Vorentwurf], S. 62 und S. 69). Mit der Einheitlichkeit des
Verfahrens will der Gesetzgeber sicherstellen, dass Jugendliche
durch spezialisierte Instanzen beurteilt werden. Die straffälligen Ju-
gendlichen werden im gesamten Verfahren hauptsächlich mit einer
Person konfrontiert, welche den ganzen Fall und die gesamten Um-
stände kennt und das Verfahren von Anfang der Untersuchung bis
zum Ende des Vollzuges begleitet (Kommentar JStPO, a.a.O., N. 1
zu Art. 42; Begleitbericht Vorentwurf, a.a.O., S. 69; ANGELIKA MU- RER MIKOLÁSEK, Analyse der Schweizerischen Jugendstrafprozess- ordnung [JStPO], Entspricht sie den Grundsätzen des Jugendstraf-
rechts?, Zürich, 2010, N. 705 ff.; CHRISTOPH RIEDO, Jugendstraf- recht und Jugendstrafprozessrecht, Freiburg, 2013, N. 2558 ff.). Eine
von der Untersuchungsbehörde abgetrennte, spezialisierte
Vollzugsbehörde gibt es im Jugendstrafrecht nicht (Kommentar
JStPO, a.a.O., N. 1 zu Art. 42; RIEDO, a.a.O., N. 2259). Daraus folgt, dass nicht nur nach dem aargauischen Recht (§1 Abs. 3 i.V.m. § 7
SMV), sondern bereits von Bundesrechts wegen die Untersuchungs-
behörde ... auch über den Vollzug der während des laufenden Straf-
verfahrens angeordneten Untersuchungs- und Sicherheitshaft ent-
scheidet. Der Jugendanwaltschaft obliegt demnach auch, den Voll-
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zugsort einer vom Jugendgericht angeordneten Sicherheitshaft zu be-
stimmen.
3.2
3.2.1
(...)
Die Kumulation der Aufgaben der Jugendanwaltschaft im
Jugendstrafverfahren ist ... vom Gesetzgeber sehr bewusst gewählt
worden und gilt - zumindest im Jugendanwaltsmodell - als mit den
einschlägigen Verfassungs- und Konventionsbestimmungen verein-
bar (vgl. zum Ganzen: Begleitbericht Vorentwurf, a.a.O., S. 49 ff., in
welchem sogar die Zulässigkeit des Jugendrichtermodells betont
wird). In der Literatur wird denn auch nicht die Doppelrolle der
Jugendanwaltschaft als Untersuchungs- bzw. Anklage- und Vollzugs-
behörde diskutiert. Auf Kritik stösst vielmehr die (hauptsächlich im
Jugendrichtermodell vorkommende) zusätzliche Ausübung richter-
licher Gewalt der Untersuchungsbehörde und damit der Verzicht auf
Einsetzung eines unabhängigen Gerichts (Art. 6 Abs. 3 JStPO; vgl.
dazu: PETER AEBERSOLD, Schweizerisches Jugendstrafrecht, Basel, 2007, S. 232 ff., mit weiteren Hinweisen; MURER MIKOLÁSEK, a.a.O., N. 734, 743 und 745; RIEDO, a.a.O., N. 1535 f.). Vorliegend amtet die Jugendanwaltschaft nur als Untersuchungs- und Anklage-
behörde und nimmt darüber hinaus keine richterliche Funktion wahr.
Die Parteistellung der Jugendanwaltschaft im gerichtlichen Verfahren
vor dem Jugendgericht führt demnach nicht zu einer Befangenheit
der Jugendanwaltschaft und ändert nichts an ihrer Zuständigkeit, den
Vollzug von Zwangs- und vorläufig angeordneten Schutzmassnah-
men zu organisieren.
3.2.2
Das DVI weist weiter daraufhin, dass die Vollzugsinstitution
vor Ort die Möglichkeit haben müsse, Ort und Modalitäten innerhalb
der gesetzlichen Haftregimes zu bestimmen. Nur so könne gewähr-
leistet werden, dass rechtzeitig Versetzungen vorgenommen würden,
falls die Sicherheit nicht mehr garantiert sei. Das Amt für Justiz-
vollzug führe die Einrichtungen, welche für den Vollzug von Unter-
suchungs- und Sicherheitshaft vorgesehen seien, und es wisse des-
halb, wo welche Plätze zur Verfügung stehen würden. Damit könne
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verhindert werden, dass die einweisende Behörde Gefangene einem
bestimmten Gefängnis zuweisen, welche keine Aufnahmekapazitäten
hätten (...).
Die Aufgaben, welche das Amt für Justizvollzug in Erwach-
senenstrafverfahren erfüllt, nimmt im Jugendstrafverfahren integral
die Jugendanwaltschaft als gesetzlich bestimmte Vollzugsbehörde
(Art. 42 JStPO) wahr. Selbstverständlich hat die Jugendanwaltschaft,
soweit ein Freiheitsentzug in einer Institution vollzogen werden soll,
welche sowohl Jugendlichen als auch Erwachsenen offensteht, Rück-
sprache mit dem Amt für Justizvollzug zu nehmen, ob der notwen-
dige Platz (d.h. die notwendige besondere Abteilung i.S.v. Art. 28
Abs. 1 JStPO) in der Einrichtung zur Verfügung steht. Diese not-
wendige Koordination kann aber nicht dazu führen, dass das Amt für
Justizvollzug eine ihm nicht zugewiesene Vollzugsaufgabe über-
nimmt. Im Zweifelsfall müssen die besonderen Abteilungen jedoch,
solange die getrennten Jugendvollzugsanstalten noch nicht errichtet
wurden (Art. 48 i.V.m. Art. 27 JStG), vom Amt für Justizvollzug für
den Jugendstrafvollzug (inkl. Untersuchungs- und Sicherheitshaft)
zur Verfügung gestellt werden.
Soweit das DVI darauf hinweist, dass die Institutionen vor Ort
gewisse Modalitäten des Vollzugs selber regeln können müssen, kann
dem ohne weiteres zugestimmt werden. Diese Aufgaben kommen
aber den Institutionen vor Ort (d.h. den einzelnen Vollzugsein-
richtungen) und nicht dem Amt für Justizvollzug zu (vgl. dazu auch:
§ 18 EG JStPO, § 62 ff. SMV). Dazu gehört selbstverständlich auch
die Mitteilung an die Jugendanwaltschaft als Vollzugsbehörde, dass
eine Person im Vollzug nicht mehr tragbar ist (...).
3.3
Zusammenfassend steht damit fest, dass der Vollzug der Sicher-
heitshaft im Jugendstrafverfahren ebenfalls der Jugendanwaltschaft
obliegt. Das Amt für Justizvollzug war demnach nicht zuständig,
Anordnungen betreffend den Vollzug der Sicherheitshaft des Be-
schwerdeführers zu erlassen und ihn ins Zentralgefängnis Lenzburg
versetzen zu lassen. Da die Versetzung nicht formell verfügt, sondern
in einem Realakt vollzogen wurde, ist keine Aufhebung eines Ent-
scheids vorzunehmen, sondern im Entscheiddispositiv festzustellen,
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dass die Jugendanwaltschaft für den Vollzug der Sicherheitshaft im
Jugendstrafverfahren zuständig ist. Der Hauptantrag des Beschwer-
deführers ist daher im Sinne der Erwägungen gutzuheissen.
Diese Gutheissung der Beschwerde führt nun aber nicht dazu,
dass der Beschwerdeführer in das Bezirksgefängnis Z. zurückversetzt
würde. Die angefochtene Versetzung wurde nämlich bereits voll-
zogen und die Rückversetzung des Beschwerdeführers ... müsste
von der zuständigen Behörde angeordnet werden. Dem Regierungs-
rat kommt aber - wie dem Amt für Justizvollzug - weder als
erstinstanzliche Behörde noch als Rechtsmittelinstanz eine Vollzugs-
zuständigkeit im Jugendstrafverfahren zu, er kann und darf deshalb
auch im Rahmen des vorliegenden Verfahrens keine materielle Prü-
fung des korrekten Vollzugsorts der Sicherheitshaft des Beschwer-
deführers vornehmen und den Beschwerdeführer in eine andere Insti-
tution verlegen lassen. Dem Regierungsrat steht es auch als Auf-
sichtsbehörde nicht zu, der Jugendanwaltschaft fallbezogene An-
weisungen zu erteilen (§ 11 Abs. 4 EG JStPO).
Da der Beschwerdeführer jedoch Anspruch darauf hat, dass der
Vollzugsort durch die zuständige Jugendanwaltschaft bestimmt wird,
lädt der Regierungsrat die Jugendanwaltschaft ein, nach Rücksprache
mit dem Amt für Justizvollzug (vgl. Erw. 3.2.2) zu bestimmen, wo
die Sicherheitshaft des Beschwerdeführers zukünftig vollzogen wer-
den soll.
(...)
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