2009 Straf-undMassnahmenvollzug 107
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25 Bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug - Die bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug darf nicht verweigert werden, wenn die bundesrechtlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Daran ändert auch eine interne Weisung (Sofortmassnahmen) nichts, welche besagt, es brauche stets ein Gutachten, und wenn dieses (noch) nicht vorliege, erfolge keine bedingte Entlassung.
Entscheid des Verwaltungsgerichts, 1. Kammer, vom 28. Oktober 2009 in Sachen I.A. gegen den Entscheid des Departements Volkswirtschaft und Inne-
res (WBE.2009.334).
Aus den Erwägungen
II. 1. 1.1. Nach Art. 86 Abs. 1 StGB ist der Gefangene nach Verbüssung von zwei Dritteln, mindestens aber drei Monaten seiner Strafe be-
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dingt zu entlassen, wenn es sein Verhalten im Strafvollzug rechtfer tigt und nicht anzunehmen ist, er werde in Freiheit weitere Ver brechen Vergehen begehen. Die zuständige Behörde hat von Amtes wegen zu prüfen, ob der Gefangene bedingt entlassen werden kann; dabei hat sie diesen anzuhören und einen Bericht der Anstalts leitung einzuholen (Art. 86 Abs. 2 StGB). Die Bestimmung über die reguläre bedingte Entlassung wurde im Vergleich zur Rechtslage vor Inkrafttreten des revidierten Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches am 1. Januar 2007 ("Hat der zu Zuchthaus Gefängnis Verurteilte zwei Drittel der Strafe, bei Gefängnis mindestens drei Monate, ver büsst, so kann ihn die zuständige Behörde bedingt entlassen, wenn sein Verhalten während des Strafvollzuges nicht dagegen spricht und anzunehmen ist, er werde sich in der Freiheit bewähren." [Art. 38 Ziff. 1 Abs. 1 aStGB]) in Bezug auf die Legalprognose neu gefasst, indem nicht wie bisher positiv verlangt wird, es müsse erwartet wer den können, der Täter werde sich in Freiheit bewähren, sondern ne gativ, dass zu erwarten ist, er werde in Freiheit keine Verbrechen Vergehen mehr begehen. Jedenfalls tendenziell wurden mit die ser neuen Formulierung die Anforderungen an die Legalprognose ge senkt; stärker noch als bisher wird man daher davon auszugehen ha ben, dass die bedingte Entlassung die Regel und deren Verweigerung die Ausnahme darstellt. Abgesehen davon entspricht die neurechtli che Regelung im Wesentlichen der altrechtlichen von Art. 38 Ziff. 1 aStGB, weshalb die diesbezügliche Rechtsprechung massgebend bleibt (BGE 133 IV 201 Erw. 2.2). 1.2. Die bedingte Entlassung stellt somit nach wie vor die vierte und letzte Stufe des Strafvollzuges dar und bildet die Regel, von der nur aus guten Gründen abgewichen werden darf. In dieser Stufe soll der Entlassene den Umgang mit der Freiheit erlernen, was nur in Freiheit möglich ist. Diesem rein spezialpräventiven Zweck stehen die Schutzbedürfnisse der Allgemeinheit gegenüber, welchen umso hö heres Gewicht beizumessen ist, je hochwertiger die gefährdeten Rechtsgüter sind. Die Prognose über das künftige Wohlverhalten ist in einer Gesamtwürdigung zu erstellen, welche nebst dem Vorleben, der Persönlichkeit und dem Verhalten des Täters während des Straf-
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vollzugs vor allem dessen neuere Einstellung zu seinen Taten, seine allfällige Besserung und die nach der Entlassung zu erwartenden Le bensverhältnisse berücksichtigt. Der Verzicht auf eine Gesamtwürdi gung aller für die Prognose relevanten Umstände und das alleinige Abstellen auf die Vorstrafen stellt eine Ermessensüberschreitung dar (BGE 133 IV 201 Erw. 2.3 mit Verweisen). 1.3. Das Bundesgericht hat in BGE 124 IV 193 festgehalten, dass an sich für die Prognose nicht entscheidend sei, welche Art von Delikt zur Freiheitsstrafe geführt habe. Die Entlassung dürfe nicht für ge wisse Tatkategorien erschwert werden. Dagegen seien die Umstände der Straftat insoweit beachtlich, als sie Rückschlüsse auf die Täter persönlichkeit und damit auf das künftige Verhalten erlaubten. Ob die mit einer bedingten Entlassung in gewissem Masse stets verbun dene Gefahr neuer Delikte zu verantworten sei, hänge im Übrigen nicht nur davon ab, wie wahrscheinlich ein neuer Fehltritt sei, son dern auch von der Bedeutung des eventuell bedrohten Rechtsgutes. Habe z.B. ein Strafgefangener früher nur unbedeutende Eigen tumsdelikte begangen, so dürfe ein höheres Risiko übernommen werden als bei einem Gewaltverbrecher, der sich in schwerer Weise gegen hochwertige Rechtsgüter (Leib, Leben usw.) vergangen hat (a.a.O., Erw. 3 mit Verweisen). 1.4. Bei Würdigung der Bewährungsaussichten ist freilich allgemein ein vernünftiges Mittelmass zu halten in dem Sinne, dass nicht jede noch so entfernte Gefahr neuer Straftaten eine Verweigerung der be dingten Entlassung zu begründen vermag, ansonst dieses Institut sei nes Sinnes beraubt würde. Anderseits darf aber auch nicht aufgrund einzelner günstiger Faktoren die bedingte Entlassung bewilligt wer den, obwohl gewichtigere Anhaltspunkte für die Gefahr neuer Rechtsbrüche sprechen (BGE 124 IV 193 Erw. 3 mit Verweisen). 2. 2.1. Die Vorinstanz verweist im angefochtenen Entscheid auf die di versen Vorstrafen des Beschwerdeführers und führt in diesem Zu sammenhang aus, die gegen ihn ausgesprochene bedingte Zuchthaus-
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strafe im Jahr 2005 habe ihn in keiner Weise von der Begehung neuer Straftaten abzuhalten vermocht. Wenige Monate nach der Ver urteilung habe er erneut zu delinquieren begonnen. Die begangenen Straftaten liessen einerseits einen deutlichen Suchtmittelmissbrauch auch im Zusammenhang mit der Begehung von Straftaten und ande rerseits einen Hang zur Anwendung von Gewalt erkennen. Auch im Strafvollzug sei es dem Beschwerdeführer nicht gelungen, gänzlich auf den Konsum von Alkohol zu verzichten. Aufgrund der beschrie benen Persönlichkeitsmerkmale bestünden einige Unsicherheiten über den künftigen Bewährungserfolg. Diese würden durch die Aus weisung aus der Schweiz, die im Beschwerdeverfahren auch in zweiter Instanz bestätigt worden sei, noch verstärkt. Die soziale Un sicherheit und die ungeklärte Situation über die künftige Integration würden die Beurteilung des künftigen Verhaltens des Beschwerde führers zusätzlich erschweren. Unter den gegebenen Umständen könne nicht ohne Weiteres von einer künftigen Bewährung des Be schwerdeführers ausgegangen werden. In diesem Zusammenhang verweist die Vorinstanz auf die nach dem Fall "Lucie" im Frühling 2009 erfolgte Verschärfung im Verfahren betreffend bedingte Entlas sung, und führt in diesem Zusammenhang aus, die Gewährung von Vollzugsöffnungen bei Straftätern, welche Gewaltdelikte begangen hätten, unterliege besonderen Rahmenbedingungen, sogenannten So fortmassnahmen. Für die Beurteilung des künftigen Bewährungser folges müssten Straftäter, die ein Gewaltdelikt begangen haben, fo rensisch-psychiatrisch begutachtet und die Akten der Fachkommis sion zur Überprüfung der Gemeingefährlichkeit von Straftätern vor gelegt werden. Eine Abweichung davon sei bei Verurteilten möglich, die nicht als gemeingefährlich eingestuft werden und die unmittelbar nach der Strafverbüssung die Schweiz verlassen müssen. Der Be schwerdeführer wolle die Schweiz nicht verlassen und im fremden polizeilichen Verfahren um sein Aufenthaltsrecht kämpfen. Unter den gegebenen Umständen seien weitere Abklärungen erforderlich, um den künftigen Bewährungserfolg in der Schweiz beurteilen zu können.
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2.2. Der Beschwerdeführer macht geltend, es könne von einer be dingten Entlassung nur abgesehen werden, wenn gute Gründe gegen eine solche sprächen, wobei diese Gründe von der Behörde zu be nennen seien. Unterlasse es die Behörde, die notwendigen Abklärun gen bezüglich der Rückfallgefahr vorzunehmen, so könne nicht erst nach Verbüssung von zwei Dritteln der Strafe mit den Abklärungen begonnen werden. Sei nach der Verbüssung von zwei Dritteln der Strafe keine Prognosestellung möglich, sei der Gefangene zu entlas sen. Nachdem vorliegend bis zum heutigen Tag kein Gutachtens auftrag erteilt worden sei, verhinderten die Behörden die Anwendung von Art. 86 StGB. Liege kein Gutachten vor, sei die Rückfallgefahr aufgrund der anderen Anhaltspunkte abzuklären. Der Beschwerde führer habe sich vor dem Strafantritt während rund 15 Monaten in Freiheit bewährt und die Bewährungsprognose sei gut. So habe er sich während des Aufenthaltes in der Justizvollzugsanstalt eine Ar beitsstelle organisiert; nach der Entlassung werde er bei seinen Eltern wohnen. Was die migrationsrechtliche Situation anbelange, so sei einerseits davon auszugehen, dass die Verfügung des Migrationsam tes bezüglich Widerruf der Niederlassungsbewilligung vor der ge richtlichen Instanz nicht geschützt werde. Ausserdem habe die Situa tion bezüglich Niederlassungsbewilligung sicherlich keinen negati ven Einfluss auf die Bewährungsaussichten; im Gegenteil trage die Situation dazu bei, dass sich der Beschwerdeführer auch nach der bedingten Entlassung wohl verhalten werde, um die Niederlassungs bewilligung nicht aufs Spiel zu setzen. Zudem habe sich der Be schwerdeführer im Strafvollzug wohl verhalten, wobei von Seiten der Vollzugsanstalt die bedingte Entlassung befürwortet werde. 3. 3.1. 3.1.1. Es gilt im Folgenden zu prüfen, ob die bundesrechtlichen Vor aussetzungen für eine bedingte Entlassung erfüllt sind. Wie bereits in Erw. 1.2 hiervor ausgeführt, ist die Prognose über das künftige Wohlverhalten in einer Gesamtwürdigung zu erstellen, welche nebst dem Vorleben, der Persönlichkeit und dem Verhalten des Täters wäh-
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rend des Strafvollzugs vor allem dessen neuere Einstellung zu seinen Taten, seine allfällige Besserung und die nach der Entlassung zu er wartenden Lebensverhältnisse berücksichtigt. 3.1.2. Die formellen Voraussetzungen der Gewährung der bedingten Entlassung (Verbüssung von zwei Dritteln) sind in casu unbestritte nermassen erfüllt. 3.1.3. Ebenfalls unbestritten ist, dass sich der Beschwerdeführer seit seiner Verurteilung am 18. Juli 2007 bis zum Strafantritt am 9. De zember 2008 nichts mehr hat zuschulden kommen lassen. Die Re haklinik B. hatte in ihrem Bericht vom 25. August 2008 im Zusam menhang mit den Kopf- und Nackenverletzungen über den zwi schenzeitlichen Verlauf der weiteren Behandlung des Beschwerde führers geschildert, dessen Verhalten während der stationären Be handlung gebe zu keinerlei Klagen Anlass; es kontrastiere erheblich zu früheren Verhaltensweisen, bei denen der Beschwerdeführer sich u.a. auch die strafrechtlichen Konflikte zugezogen habe. Seit über ei nem Jahr konsumiere er keine illegalen Drogen mehr; die Gefähr dung durch Alkohol habe er wahrgenommen und er bemühe sich aktiv um Vermeidung dieses Konsums. Sein eigenes Bemühen um Fortschritte sowie Übernahme von Verantwortung fielen positiv auf und verbesserten die gesamten prognostischen Erwartungen. Zu kämpfen habe der Beschwerdeführer mit der eigenen ungestümen Wesensart, wobei gute Fortschritte zu verzeichnen seien. 3.1.4. Was das Verhalten des Beschwerdeführers im Strafvollzug an belangt, so verfasste die Strafanstalt W. am 23. Juli 2009 einen Voll zugsbericht mit dem Antrag, den Beschwerdeführer auf den 16. Sep tember 2009 bedingt zu entlassen, sofern bis zu diesem Zeitpunkt der Entscheid über den Landesverweis nicht definitiv sei. So hielt die Strafanstalt im erwähnten Bericht fest, der Beschwerdeführer werde als freundlicher und offener Gefangener erlebt; er füge sich pro blemlos in den Gefängnisalltag ein. Bei Vollzugsfragen arbeite er interessiert und aktiv mit. Eigene Anliegen könne er persönlich an gehen. Wenn er Hilfe brauche, wende er sich an die entsprechenden
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Stellen. Er zeige eine beachtliche Bereitschaft, sein Denken und Handeln zu reflektieren und die daraus gewonnenen Konsequenzen adäquat umzusetzen. Im Umgang mit den Mitgefangenen habe er keine Probleme. Er pflege wenige Kontakte mit Mitgefangenen. Er sei viel auf seinem Zimmer und bete fünf Mal täglich. Dem Personal gegenüber verhalte er sich freundlich und korrekt. Die Zimmerord nung sei gut und die Körperhygiene sei ihm wichtig. Aufgrund seines schweren Unfalls mit Genickbruch verspüre er immer wieder Hals und Kopfschmerzen. Trotzdem könne er fast lückenlos zur täglichen Arbeit ausrücken. Der Beschwerdeführer habe ein Mal wegen unerlaubten Besitzes eines Handys sanktioniert werden müssen, wobei eine weitere Sanktionierung wegen unerlaubtem Alkoholkon sum in einem "Kulturausgang" zurzeit hängig sei. Der Beschwerde führer verbringe seine Freizeit grösstenteils auf dem Zimmer und lese ab und zu ein Buch. Er beteilige sich aber auch an Aussenakti vitäten (Schwimmen) und nehme am Kulturausgang (Kino) teil. Re gelmässig sei er auch im Kraftraum beim Fitnesstraining anzutreffen. Der Beschwerdeführer pflege seine sozialen Kontakte vorwiegend im Kreis seiner Familie. Seine Eltern, Geschwister und seine Schwä gerin besuchten ihn regelmässig am Besuchssonntag. Die bisher ge währten fünf Beziehungsurlaube habe der Beschwerdeführer bei sei ner Familie (...) verbracht; er sei immer pünktlich und in gutem Zu stand in die Anstalt zurückgekehrt. Das deliktische Verhalten sei pri mär durch den zuständigen Sachbearbeiter wiederholt thematisiert worden. Der Beschwerdeführer meine verstanden zu haben, dass er viele "Dummheiten" gemacht habe; er glaube diesbezüglich, er habe seine Lektion gelernt und habe das "alte Leben" abgelegt. Er wolle seinen Eltern und seiner Ehefrau zeigen, dass er sich verändert habe. Die Anbindung an den Glauben der Moslems sei ihm dabei eine Stütze. 3.1.5. Mit Schreiben vom 30. Juli 2009 teilte der Beschwerdeführer gegenüber dem DVI seine Bereitschaft mit, ein forensisches Gut achten erstellen zu lassen.
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3.1.6. Nach dem Vollzug wird der Beschwerdeführer wieder bei sei nen Eltern wohnen (Bericht der Strafanstalt W. vom 23. Juli 2009). Ausserdem hat er während des Vollzugs eine Arbeitsstelle organi siert, welche er antreten kann, sobald der Strafvollzug beendet ist. Der entsprechende Arbeitsvertrag ist bereits von beiden Parteien Arbeitgeber und zukünftiger Arbeitnehmer - unterzeichnet. 3.2. In Gesamtwürdigung dieser Umstände (vor Strafvollzug 15 Monate straffrei; tadelloser Führungsbericht der Strafanstalt; Ein sicht, "Dummheiten" gemacht zu haben und Wille, seinen Angehöri gen zu zeigen, dass er sich verändert hat; Unterkunft und Arbeits stelle für die Zeit nach dem Vollzug sind geregelt; Bereitschaft, ein psychiatrisches Gutachten erstellen zu lassen) kann und muss eine gute Prognose abgegeben werden. Mag sein, dass die gegen ihn aus gesprochene bedingt zu vollziehende Zuchthausstrafe im Jahr 2005 damals noch nicht die gewollte Wirkung erzielt hatte, doch kann mit Bezug auf die Berichte der Rehaklinik B. und der Strafanstalt W. festgestellt werden, dass sich die Verhaltensweise und die Einstel lung des Beschwerdeführers zwischenzeitlich offensichtlich positiv verändert haben müssen. So wird in den Berichten geschildert, das eigene Bemühen des Beschwerdeführers um Fortschritte sowie Über nahme von Verantwortung fielen positiv auf und verbesserten die ge samten prognostischen Erwartungen; das Verhalten kontrastiere er heblich zu früheren Verhaltensweisen; er zeige eine beachtliche Be reitschaft, sein Denken und Handeln zu reflektieren und die daraus gewonnenen Konsequenzen adäquat umzusetzen; er meine verstan den zu haben, dass er viele "Dummheiten" gemacht habe. Auch die migrationsrechtliche - aktuell unsichere - Situation dürfte eher dazu beitragen, dass der Beschwerdeführer sich auch nach der bedingten Entlassung wohl verhalten wird. Dahingehend kann den Ausführun gen des Beschwerdeführers vollumfänglich zugestimmt werden. Es sind keinerlei gewichtigere Anhaltspunkte für die Gefahr neuer Rechtsbrüche ersichtlich; es ist nicht anzunehmen, der Beschwerde führer werde in Freiheit weitere Verbrechen Vergehen begehen. Dass es dafür niemals eine Garantie gibt - bei niemandem, ist leider
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eine hinzunehmende Tatsache. Wie bereits vorne in Erw. 1.4 festge halten, vermag nicht jede noch so entfernte Gefahr neuer Straftaten eine Verweigerung der bedingten Entlassung zu begründen, ansons ten dieses Institut seines Sinnes beraubt würde. Die "Unsicherheiten über den künftigen Bewährungserfolg", welche die Vorinstanz auf grund der Persönlichkeitsmerkmale des Beschwerdeführers sieht, reichen nicht aus, um eine negative Prognose zu stellen. Es liegen keine "guten Gründe" (vgl. BGE 133 IV 201 Erw. 2.3) vor, dass von der Regel, den Gefangenen nach zwei Dritteln bedingt zu entlassen, abgewichen werden kann. 4. 4.1. 4.1.1. Die Vorinstanz stellt in der angefochtenen Verfügung fest, dass aufgrund von sog. Sofortmassnahmen für die Beurteilung des künfti gen Bewährungserfolges Straftäter, welche ein Gewaltdelikt began gen haben, forensisch-psychiatrisch begutachtet und die Akten der Fachkommission zur Überprüfung der Gemeingefährlichkeit von Straftätern vorgelegt werden müssen. Eine Abweichung davon sei bei Verurteilten möglich, die nicht als gemeingefährlich eingestuft wür den und die unmittelbar nach der Strafverbüssung die Schweiz ver lassen müssten. Nachdem der Beschwerdeführer die Schweiz nicht verlassen und im fremdenpolizeilichen Verfahren um sein Aufent haltsrecht kämpfen wolle, seien weitere Abklärungen erforderlich, um den künftigen Bewährungserfolg in der Schweiz beurteilen zu können. In einem Schreiben vom 24. September 2009 zu Handen des Beschwerdeführers führt die Vorinstanz aus, für Straftäter, welche ein schweres Gewalt- Sexualdelikt begangen haben, seien am 1. April 2009 Sofortmassnahmen verfügt worden; im Falle des Be schwerdeführers seien der ihm zur Last gelegte Straftatbestand der Erpressung und des Angriffs ursächlich. Gemäss diesen Sofortmass nahmen müsse die Vollzugsbehörde vor jeder Vollzugsöffnung eine psychiatrische Begutachtung mit Risikobeurteilung in Auftrag geben und die Akten nach dem Vorliegen des Gutachtens der Fachkommis-
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sion zur Überprüfung der Gemeingefährlichkeit von Straftätern im Freiheitsentzug vorlegen. 4.1.2. Der Beschwerdeführer macht in Bezug auf die erwähnten So fortmassnahmen geltend, die Kantone seien bezüglich des Verfahrens der bedingten Entlassung zwar frei, sie dürften aber selbstverständ lich das Bundesrecht nicht abändern, sondern hätten dieses einzuhal ten. Des Weiteren macht der Beschwerdeführer in diesem Zusam menhang geltend, die Sofortmassnahmen seien erst nach Strafantritt des Beschwerdeführers eingeführt worden. Er habe sich bei Strafan tritt darauf verlassen dürfen, bei guter Führung nach Verbüssung von zwei Dritteln der Strafe bedingt entlassen zu werden, weshalb die in der Zwischenzeit eingeführten Sofortmassnahmen nicht nachträglich auf den Beschwerdeführer angewandt werden dürften. 4.2. Am 20. März 2009 resp. am 1. April 2009 erliess der (jeweilige) Vorsteher des Departements Volkswirtschaft und Inneres als Reak tion auf den Fall "Lucie" im Frühling 2009 eine "Verfügung [betref fend] bedingte Entlassung von Personen mit schweren Delikten ge gen Leib und Leben; Grundlage und Arbeitsweise der Vollzugsbe hörden und der Bewährungshilfe; Sofortmassnahmen für die Dauer der administrativen Untersuchung" (nachfolgend: Soma-Verfügung). Besagte Verfügung wurde nirgends publiziert; dem Obergericht wur de sie nach Erlass zur Kenntnis zugestellt. Der Untersuchungsbericht im Fall "Lucie" liegt mittlerweile vor. Gemäss Referat des Departe mentsvorstehers anlässlich einer Medienkonferenz vom 4. September 2009 bleiben die Sofortmassnahmen bestehen, bis der Untersu chungsbericht vertieft ausgewertet ist, die Empfehlungen näher ge prüft und gegebenenfalls umgesetzt sind (http://www.ag.ch/ politdos siers/shared/dokumente/pdf/ 090904_referat2_hofmann.pdf). In Ziffer 1 der Soma-Verfügung wird festgehalten, dass die So fortmassnahmen für die bedingte Entlassung von Personen gelten, deren Strafurteil folgende Delikte zugrunde liegen: - Vorsätzliche Tötung Art. 111 StGB - Mord Art. 112 StGB - Totschlag Art. 113 StGB
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- Körperverletzung Art. 122 StGB - Gefährdung des Lebens Art. 129 StGB - Angriff Art. 134 StGB - Raub Art. 140 Ziff. 2, 3 und 4 StGB - Erpressung Art. 156 StGB - Freiheitsberaubung / Entführung Art. 183 / 184 StGB - Geiselnahme Art. 185 StGB - Sexuelle Handlungen mit Kindern Art. 187 StGB - Sexuelle Nötigung Art. 189 StGB - Vergewaltigung Art. 190 StGB - Schändung Art. 191StGB - Förderung der Prostitution Art. 195 StGB - Menschenhandel Art. 196 StGB - Brandstiftung Art. 221 StGB - Verursachen einer Explosion Art. 223 StGB - Gefährdung durch Sprengstoffe und Gase in verbrecherischer Absicht Art. 224 StGB - Herstellen, Verbergen, Weiterschaffen von Sprengstoffen und giftigen Gasen Art. 226 StGB - Kriminelle Organisation Art. 260ter StGB - Gefährdung der öffentlichen Sicherheit mit Waffen Art. 260quater StGB - Völkermord Art. 264 StGB - Meuterei von Gefangenen Art. 311 StGB Ziffer 2 besagter Verfügung lautet folgendermassen:
" 2.1
Die Vollzugsbehörde ordnet vor jeder bedingten Entlassung aus Strafen oder
Massnahmen bei Personen, die nach Erwachsenenstrafrecht verurteilt wur-
den, eine psychiatrische Begutachtung mit Risikobeurteilung an.
2.2
Die Vollzugsbehörde gibt die Gutachten rechtzeitig in Auftrag und sorgt da-
für, dass die Gutachten termingerecht erstellt werden.
Mit den Gutachten können anerkannte Forensiker in der ganzen Schweiz be-
auftragt werden. (...)
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2.3
Kann die Begutachtung nicht rechtzeitig auf den Zeitpunkt der bedingten
Entlassung erfolgen, ist die bedingte Entlassung mangels Vorliegens der Be-
urteilungsgrundlagen für die Prognose über die Bewährung vorerst mit be-
schwerdefähiger Verfügung zu verweigern.
2.4
Bei Ausländern und Ausländerinnen, die aufgrund einer rechtskräftig verfüg-
ten fremdenpolizeilichen Wegweisung die Schweiz im Zeitpunkt der beding-
ten Entlassung verlassen müssen, kann ihm Rahmen der bisherigen Praxis
auf das Einholen eines Gutachtens und die Beurteilung durch die Fachkom-
mission verzichtet werden, sofern keine Anhaltspunkte für Gemeingefähr-
lichkeit bestehen und die direkte Ausschaffung ab der Vollzugsinstitution si-
chergestellt ist.
Bei Ausländern und Ausländerinnen, bei denen Anhaltspunkte für Gemein-
gefährlichkeit bestehen, ist vor der bedingten Entlassung ein Gutachten ein-
zuholen, und der Fall der Fachkommission zur Beurteilung vorzulegen. Die
zuständigen Behörden des Staats, in welchen die Ausschaffung erfolgt, sind
auf dem Kanal, der durch die Abteilung Strafrecht gemäss separatem Auftrag
mit dem Bund abzuklären ist, über die wesentlichen Ergebnisse des Gutach-
tens und die Empfehlung der Fachkommission zu informieren." Gemäss Ziffer 3.1 der Soma-Verfügung unterbreitet die Voll zugsbehörde Anträge auf Vollzugserleichterungen (u.a. bedingte Entlassung) zusammen mit dem eingeholten Gutachten der Fach kommission zur Beurteilung. 4.3. 4.3.1. Die hierarchisch übergeordnete Behörde hat gegenüber den ihr unterstellten Dienststellen die Befugnis zum Erlass von verbindli chen Anordnungen für den Einzelfall und von allgemeinen Weisun gen, d.h. von Verwaltungsverordnungen. Dies sind generelle Dienstanweisungen, deren Hauptfunktion darin besteht, eine einheit liche, gleichmässige und sachrichtige Praxis des Gesetzesvollzugs si cherzustellen. Sie kann auch organisatorische Anordnungen enthal ten. Verwaltungsverordnungen sind nach herrschender Ansicht keine Rechtsquellen des Verwaltungsrechts, da sie keine Rechtsnormen enthalten, insbesondere keine Rechte und Pflichten der Privaten sta-
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tuieren. Dies hat u.a. zur Konsequenz, dass Verwaltungsgerichte in der Regel nicht an Verwaltungsverordnungen gebunden sind. Bei spielsweise im Falle der Anfechtung einer Steuerveranlagung prüft das Verwaltungsgericht nur, ob die Veranlagung mit dem Steuerge setz und der Vollziehungsverordnung übereinstimmt, aber nicht, ob sie der Verwaltungsverordnung entspricht. Das Gericht berücksich tigt sie bei seiner Entscheidung allerdings, soweit sie eine dem Ein zelfall gerecht werdende Auslegung der massgebenden Bestimmung zulässt, weil es nicht ohne Not von einer einheitlichen Praxis der Verwaltungsbehörden abweichen will. Trotz ihrer Verbindlichkeit für Behörden werden sie in der Regel nicht in den offiziellen Gesetzes sammlungen publiziert (Ulrich Häfelin/Georg Müller/Felix Uhl mann, Allgemeines Verwaltungsrecht, 5. Auflage, Zürich, Basel, Genf 2006, Rz. 1232 und Rz. 123 ff.). 4.3.2. Die Vorinstanz stützte die Verweigerung der bedingten Entlas sung auf Ziffer 2.3 der Soma-Verfügung, wonach die bedingte Ent lassung mangels Vorliegens der Beurteilungsgrundlagen für die Pro gnose über die Bewährung vorerst mit beschwerdefähiger Verfügung zu verweigern ist, wenn die Begutachtung nicht rechtzeitig auf den Zeitpunkt der bedingten Entlassung erfolgen kann. Anlässlich der Gewährung des rechtlichen Gehörs am 16. Sep tember 2009 hatte die Vorinstanz dem Beschwerdeführer mitgeteilt, das Gutachten sei aufgrund der migrationsrechtlichen Situation (Wegweisung bereits vor 2. Instanz bestätigt) und aufgrund der Er stellungsdauer (z.Zt. ca. 6 - 10 Monate) nicht in Auftrag gegeben worden. In Ziffer 2.2 der Soma-Verfügung wird festgehalten, dass die Vollzugsbehörde die Gutachten rechtzeitig in Auftrag zu geben und dafür zu sorgen hat, dass die Gutachten termingerecht erstellt wer den. Termingerecht kann in diesem Zusammenhang nur bedeuten, dass das Gutachten im Zeitpunkt der potentiellen bedingten Entlas sung vorliegen und die Fachkommission die Gemeingefährlichkeit bereits beurteilt haben muss. Die Vorinstanz hat in ihrer Beschwer deantwort vom 8. Oktober 2009 in Bezug auf das Gutachten ausge führt, die Gutachter-Fragen seien dem Beschwerdeführer am
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25. September 2009 eröffnet worden mit der Möglichkeit zur Stellungnahme/Ergänzung bis zum 23. Oktober 2009. Nach Eingang der Stellungnahme bzw. nach Ablauf dieser Frist werde der Gutachterauftrag an das Departement Forensik der Psychiatrischen Klinik Königsfelden erteilt. Offensichtlich wurde im vorliegenden Fall das Gutachten somit nicht termingerecht in Auftrag gegeben, nachdem bereits am 16. September 2009 die Mindestdauer für eine bedingte Entlassung erstanden war. 4.3.3. Es dürfte ausser Frage stehen, dass eine interne Weisung, wie dies die Soma-Verfügung darstellt, das Bundesrecht auf keinen Fall vereiteln darf. Genau dies ist jedoch im vorliegenden Fall geschehen, nachdem der Beschwerdeführer die bundesrechtlichen Voraussetzun gen für eine bedingte Entlassung erfüllt (vgl. vorne Erw. 3), diese je doch gestützt auf Ziffer 2.3 der Soma-Verfügung ("Kann die Begut achtung nicht rechtzeitig auf den Zeitpunkt der bedingten Entlassung erfolgen, ist die bedingte Entlassung mangels Vorliegens der Beurtei lungsgrundlagen für die Prognose über die Bewährung vorerst mit beschwerdefähiger Verfügung zu verweigern.") verweigert wird. Es trifft zwar zu, dass die migrationsrechtliche Situation unklar ist, doch ist dies kein Grund, mit der Auftragserteilung eines Gutachtens zu zuwarten, zumal der Beschwerdeführer bereits im März 2009 Be schwerde beim Rekursgericht für Ausländerrecht eingereicht hat, und es notorisch ist, dass sich solche Verfahren in die Länge ziehen kön nen. Dass bis zum Vorliegen eines rechtskräftigen Urteils Ziffer 2.4 der Soma-Verfügung keine Anwendung finden kann, dürfte aufgrund des klaren Wortlauts wohl unbestritten sein. Auch die Tatsache, dass die Erstellungszeit für ein derartiges Gutachten gut sechs bis zehn Monate dauern kann, ist notorisch und hätte bereits frühzeitig - wohl am ehesten gerade unmittelbar nach Erlass der Soma-Verfügung - be rücksichtigt werden müssen, zumal sich der Beschwerdeführer selbst mit Schreiben vom 30. Juli 2009 bereit erklärt hatte, sich einer psychiatrischen Begutachtung zu unterziehen, und in diesem Zu sammenhang darum gebeten hatte, das Nötige zu veranlassen.
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Ziffer 2.3 der Soma-Verfügung ist deshalb im vorliegenden Fall die Anwendung zu versagen. Es wäre bundesrechtswidrig, die be dingte Entlassung eines Gefangenen, der die bundesrechtlichen Vor aussetzungen für die bedingte Entlassung erfüllt, daran scheitern zu lassen, dass ein gestützt auf eine interne Weisung gefordertes Gut achten (noch) nicht vorliegt. Unter diesen Umständen kann auch die vom Beschwerdeführer aufgeworfene Frage offen gelassen werden, ob die Sofortmassnah men, welche erst nach Strafantritt des Beschwerdeführers eingeführt wurden, nachträglich auf diesen angewandt werden dürfen.
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