VIII. Sozialhilfe
43 Berücksichtigung von bevorschussten Kinderunterhaltsbeiträgen als eigene Mittel. - Streitgegenstand; Form der Wiedererwägung (Erw. I/2-3). - Formelle Anforderungen an die Gewährung und Anpassung der Alimentenbevorschussung (Erw. II/3). - Die Berücksichtigung der bevorschussten Unterhaltsbeiträge als ei- gene Mittel genügt i.c. den formellen Anforderungen nicht (Erw. II/4.1). - Die Bevorschussung von Kinderzulagen ist nicht zulässig (Erw. II/4.2).
Urteil des Verwaltungsgerichts, 4. Kammer, vom 22. Dezember 2005 in Sa- chen R.G. gegen das Bezirksamt Lenzburg.
Aus den Erwägungen
I.
2.
2.1.
Das Rechtsmittelverfahren ist durch den Streitgegenstand be-
grenzt, der seinerseits durch die angefochtene Verfügung, das An-
fechtungsobjekt, bestimmt wird. Nur was Gegenstand des Verwal-
tungsverfahrens war im verwaltungsinternen Beschwerdever-
fahren zusätzlich geregelt wurde, kann im verwaltungsgerichtlichen
Beschwerdeverfahren Streitgegenstand sein. Der Verfügungsge-
genstand ergibt sich aus der erstinstanzlichen Verfügung in Verbin-
dung mit dem entsprechenden Gesuch, soweit sie auf ein solches hin
erging. Als zweites Element sind die Parteibegehren heranzuziehen,
die den Streitgegenstand auf Teile des jeweiligen Anfechtungsobjekts
beschränken können (vgl. BGE 125 V 413 Erw. 1 f.; AGVE 1999,
S. 368; Michael Merker, Rechtsmittel, Klage und Normenkontroll-
verfahren nach dem aargauischen Gesetz über die Verwaltungs-
rechtspflege [Kommentar zu den §§ 38-72 VRPG], Diss. Zürich
1998, § 38 N 3, § 39 N 24 f.; Alfred Kölz / Jürg Bosshart / Martin
Röhl, VRG, Kommentar zum Verwaltungsrechtspflegegesetz des
Kantons Zürich, 2. Auflage, Zürich 1999, Vorbem. zu §§ 19-28 N 86;
Alfred Kölz / Isabelle Häner, Verwaltungsverfahren und Verwal-
tungsrechtspflege des Bundes, 2. Auflage, Zürich 1998, Rz. 403 ff.).
2.2.
Eine Verfügung kann gemäss § 25 Abs. 1 VRPG auf Gesuch ei-
nes Betroffenen durch die erstinstanzlich zuständige Behörde in
Wiedererwägung gezogen werden. Die Wiedererwägung ist ein
formloser Rechtsbehelf, der keinen Anspruch auf Prüfung und Be-
urteilung vermittelt, sofern die Pflicht zur Behandlung nicht gesetz-
lich vorgesehen, sich aus einer entsprechenden Verwaltungspraxis
bzw. aus dem Verbot der formellen Rechtsverweigerung und dem
Anspruch auf rechtliches Gehör ergibt (siehe Merker, a.a.O., § 45
N 50; Ulrich Häfelin / Georg Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht,
4. Auflage, Zürich / Basel / Genf 2002, Rz. 1828 ff., insb. Rz. 1832
f.). Wird von der verfügenden Instanz ein neuer Sachentscheid erlas-
sen, wird die ursprüngliche Verfügung gegenstandslos, und gegen die
neue Verfügung steht das Rechtsmittelverfahren offen (AGVE 1994,
S. 459 f. mit Hinweisen; BGE 116 V 62 Erw. 3a und
117 V 8 Erw. 2a).
3.
3.1.
Mit Beschluss vom 10. November 2003 hat die Gemeinde A die
materielle Hilfe für die Beschwerdeführerin neu berechnet und dem
Bezirksamt beantragt, die Beschwerde "im vorerwähnten Sinne ab-
zuhandeln". Gleichzeitig wurde der Beschwerdeführerin die mate-
rielle Hilfe in der neu berechneten Höhe ausbezahlt. Es stellt sich da-
her die Frage, ob die Gemeinde A dadurch ihren Entscheid vom
22. September 2003 in Wiedererwägung gezogen hat.
3.2.
Gemäss § 23 VRPG sind Verfügungen und Entscheide als sol-
che zu bezeichnen (Abs. 1). Soweit einem Begehren nicht voll ent-
sprochen wird, hat die Eröffnung der Verfügung eine Rechtsmittel-
belehrung zu enthalten (Abs. 3). Diese allgemeinen formellen Erfor-
dernisse gelten auch für Verfügungen und Entscheide, mit denen eine
frühere Verfügung in Wiedererwägung gezogen wird (§ 25 i.V.m.
§ 23 Abs. 1 VRPG; siehe vorne Erw. 2.2).
Vorliegend hat der Gemeinderat A am 10. November 2003 we-
der eine neue Verfügung erlassen noch diese als solche bezeichnet,
und der Beschluss enthält auch keine Rechtsmittelbelehrung. Abge-
sehen davon, dass die Beschwerdeführerin nicht Adressatin dieses
Entscheides war, war für sie auch gar nicht erkennbar, dass der Ge-
meinderat A damit die ursprüngliche Verfügung aufgehoben hat, zu-
mal er in Ziff. 1 seines Beschlusses einen Antrag zuhanden des Be-
zirksamtes stellte. Der Beschluss vom 10. November 2003 vermag
somit den formellen Anforderungen an eine Wiedererwägungsverfü-
gung nicht zu genügen.
3.3.-4.2. (...)
II.
1.-2.1. (...)
2.2.
Das Verwaltungsgericht hat vom Gemeinderat A die Verfügun-
gen zur Bevorschussung der Unterhaltsbeiträge der Kinder und der
Kinderzulagen angefordert. Aus den eingereichten Verfügungen er-
gibt sich Folgendes:
- Mit Verfügung vom 21. Juni 1993 wurden Kinderunterhaltsbei-
träge im Gesamtbetrag von Fr. 1'653.35 bevorschusst und der Be-
schwerdeführerin persönlich eine materielle Unterstützung in der
Höhe von Fr. 1'054.-- gewährt.
- Am 6. Dezember 1993 verfügte der Gemeinderat A die Bevor-
schussung der Kinderzulagen von Fr. 420.-- in Ergänzung zum Be-
schluss vom 21. Juni 1993, wobei der Unterstützungsbeitrag für
die Beschwerdeführerin um die Kinderzulagen auf Fr. 1'474.-- er-
höht wurde.
- In der Verfügung vom 22. September 2003 wurden als eigene
Mittel der Klägerin Unterhaltsbeiträge von Fr. 1'981.-- eingesetzt.
Dieser Betrag ergibt sich aus den bevorschussten Unterhaltsbeiträ-
gen für den Sohn D. von Fr. 685.--, für M. von Fr. 634.-- und für
S. von Fr. 662.--.
- Den im Beschluss vom 10. November 2003 angerechneten Unter-
haltsbeiträgen von Fr. 2'039.-- liegen die unveränderten Unter-
haltsbeiträge für D. und M. sowie die Erhöhung für S. ab dem
13. Altersjahr zugrunde.
3.
Über die Gesuche um Bevorschussung von Unterhaltsbeiträgen
nach § 32 ff. SPG entscheidet die zuständige Gemeinde (§ 36 Abs. 1
SPG). Sie hat die erforderlichen Verfügungen zu erlassen (§ 44
SPG). Gemäss § 29 Abs. 5 SPV hat die Gemeinde den Anspruch auf
Bevorschussung mindestens einmal jährlich zu überprüfen. Für das
Verfahren gelten die Bestimmungen des VRPG (§ 58 Abs. 4 SPG).
Gemäss § 23 VRPG sind Verfügungen und Entscheide als solche zu
bezeichnen, zu eröffnen (Abs. 1) und zu begründen mit Hin-
weis, dass eine Begründung verlangt werden kann (Abs. 4), im Dis-
positiv zu eröffnen (siehe vorne Erw. I/3.2).
4.
4.1.
Wie sich aus den nachgereichten Verfügungen ergibt, hat der
Gemeinderat seit dem Entscheid über die Bevorschussung der Unter-
haltsbeiträge vom 21. Juni 1993 keine Verfügungen über die An-
passung Änderung der Bevorschussung eröffnet. Die Berück-
sichtigung der bevorschussten Unterhaltsbeiträge als eigene Mittel
(Einnahmen) in den Entscheiden über die (persönliche) materielle
Hilfe an die Beschwerdeführerin mit dem blossen Hinweis, dass die
Kinderalimente von der Gemeinde bevorschusst werden, genügt den
formellen Anforderungen an einen Entscheid über die Bevorschus-
sung Anpassung der Kinderalimente nicht. Aus den Beschlüssen
vom 22. September 2003 und 10. November 2003 ist auch nirgends
ersichtlich, dass und wie der Gemeinderat über die Bevorschussung
der Kinderalimente neu entschieden hat.
Gleiches gilt für die Abänderung der mit Verfügung vom
6. Dezember 1993 gewährten Bevorschussung der Kinderzulagen. Es
ist aus den Akten und den Verfügungen nirgends ersichtlich, ob und
wann der Gemeinderat diese zusätzliche Bevorschussung der Kin-
derzulagen seit Dezember 1993 aufgehoben angepasst hat. Auch
der Widerruf die Aufhebung der Verfügung vom 6. Dezember
1993 betreffend die Bevorschussung der Kinderzulagen bedarf einer
entsprechenden formell rechtmässigen Verfügung (siehe vorne
Erw. I/3.2).
4.2.
In diesem Zusammenhang ist allerdings festzuhalten, dass nach
dem System des SPG nur die Kinderunterhaltsbeiträge bevorschusst
werden können (§ 32 SPG und § 27 Abs. 4 SPV). Die Kinderzulagen
dürfen nach dem Gesetz nicht bevorschusst werden. Sie sind gemäss
Art. 285 Abs. 2 ZGB vom Unterhaltspflichtigen zusätzlich zum Un-
terhaltsbeitrag zu zahlen, sofern sie ihm zustehen. Ihre Ausrichtung
an die Kinder bzw. deren gesetzliche Vertreterin kann mittels einer
Anweisung an den Arbeitgeber des Unterhaltsverpflichteten voll-
streckt werden (Art. 291 ZGB).
Die fehlende Bevorschussung von Kinderzulagen in der ange-
fochtenen Verfügung vom 22. September 2003 und im Antrag der
Gemeinde vom 11. November 2003 ist daher materiell nicht zu bean-
standen, entbindet aber die Sozialbehörden nicht, über ein ent-
sprechendes Gesuch der Beschwerdeführerin über die Aufhe-
bung einer unrechtmässigen Bevorschussung in einer formell recht-
mässigen Verfügung zu entscheiden.