Zusammenfassung des Urteils VR220007: Obergericht des Kantons Zürich
Die Rekurrentin schuldet dem Kanton Zürich Geld aus zwei abgeschlossenen Verfahren, für die sie von ihrer Anwältin vertreten wurde. Die Verwaltungskommission des Obergerichts des Kantons Zürich hat entschieden, dass die Rekursgegnerin, die Zentrale Inkassostelle, das Geld der Rekurrentin zur Begleichung von Gerichtskosten verrechnen darf. Die Rekurrentin hat dagegen Rekurs eingelegt, der jedoch abgewiesen wurde. Die Gerichtsgebühr beträgt 500 CHF, und die Kosten des Verfahrens wurden der Rekurrentin auferlegt.
Kanton: | ZH |
Fallnummer: | VR220007 |
Instanz: | Obergericht des Kantons Zürich |
Abteilung: | Verwaltungskommission |
Datum: | 02.05.2022 |
Rechtskraft: | - |
Leitsatz/Stichwort: | Rekurs gegen Verrechnungsanzeige |
Schlagwörter : | Verrechnung; Rekurs; Rekurrentin; Rekursgegnerin; Recht; Verfahren; Forderung; Behörde; Verwaltungskommission; Prozessentschädigung; Forderungen; Behörden; Staatsanwaltschaft; Verfahrens; Bundes; Schuld; Geschäfts-Nr; Kanton; Entschädigung; Verfahren; Vollzugsbehörde; Zürich-Sihl; Akten; Bundesgericht; Abtretung; Obergericht; Kantons; Einstellungsverfügung |
Rechtsnorm: | Art. 120 OR ;Art. 167 OR ;Art. 442 StPO ; |
Referenz BGE: | 139 IV 243; 143 IV 293; 144 IV 212; |
Kommentar: | Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017 |
Obergericht des Kantons Zürich
Verwaltungskommission
Geschäfts-Nr. VR220007-O/U
Mitwirkend: Der Obergerichtspräsident lic. iur. M. Langmeier, Oberrichterin lic. iur. Ch. von Moos Würgler und Oberrichter lic. iur. Ch. Prinz sowie die Gerichtsschreiberin lic. iur. A. Leu
Beschluss vom 2. Mai 2022
in Sachen
Rekurrentin
vertreten durch Rechtsanwältin lic. iur. X.
gegen
Rekursgegnerin
betreffend Rekurs gegen Verrechnungsanzeige
Erwägungen:
A. (fortan: Rekurrentin) schuldet dem Kanton Zürich aus dem bei der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl durchgeführten und mit Strafbefehl vom
15. November 2019 erledigten Verfahren Geschäfts-Nr. F-1/2019/10036320 einen Betrag Fr. 800.- (act. 7). Aus dem bei der Staatsanwaltschaft Zürich- Sihl durchgeführten und mit Einstellungsverfügung vom 20. August 2021 erledigten Verfahren Geschäfts-Nr. E-10/2021/10004902 steht ihr sodann nebst einer Genugtuung von Fr. 200.eine Prozessentschädigung von Fr. 800.zu (act. 6/1-2). In beiden Verfahren wurde die Rekurrentin durch Rechtsanwältin lic. iur. X. , Anwaltsbüro …, als erbetene Verteidigerin vertreten (act. 6/1 und act. 7). Während die Zentrale Inkassostelle (fortan: Rekursgegnerin) der Rekurrentin die Genugtuung per 29. Oktober 2021 (act. 6/3 S. 1) ausbezahlte, erklärte sie mit Schreiben vom 18. Oktober 2021 in Bezug auf die auszurichtende Prozessentschädigung von Fr. 800.- die Verrechnung mit den aus dem Verfahren Geschäfts-Nr. F-1/2019/10036320 geschuldeten Gerichtskosten von ebenfalls Fr. 800.- (act. 6/2). Mit E-Mail vom 1. März 2022 gelangte die Rechtsvertreterin der Rekurrentin an die Rekursgegnerin und ersuchte um Auszahlung der Prozessentschädigung von Fr. 800.- (act. 6/3). Am 14. März 2022 erhob sie sodann schriftlich Einsprache gegen die Verrechnung und erklärte, mit der Verrechnung nicht einverstanden zu sein. Erneut ersuchte sie um Auszahlung des erwähnten Betrages (act. 6/4). Mit Schreiben vom 18. März 2022 (act. 4 = act. 6/5) informierte die Rekursgegnerin die Rekurrentin darüber, dass sie an der Verrechnung festhalte, und verwies zur Begründung ihres Verrechnungsrechts auf Art. 120 OR. Gleichzeitig wies sie die Rekurrentin auf das ihr zustehende Rechtsmittel des Rekurses an die Verwaltungskommission des Obergerichts des Kantons Zürich hin.
Mit Eingabe vom 7. April 2022 (act. 1) machte die Rekurrentin von diesem Recht Gebrauch und liess durch ihre Rechtsvertreterin bei der Verwaltungskommission innert Frist Rekurs erheben. Dabei liess sie die folgenden Anträge stellen:
1. Es sei die Verfügung der Rekursgegnerin vom 18. März 2022 (Referenz-Nr. 1339408) aufzuheben und die Rekursgegnerin sei zu verpflichten, der Rekurrentin eine Entschädigung von
Fr. 800.00 auszubezahlen.
Es seien die Akten des Strafverfahrens Ref. E-10/2021/10004902 der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl beizuziehen.
Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Rekursgegnerin.
Die vorinstanzlichen Akten zog die Verwaltungskommission bei (§ 26a des Verwaltungsrechtspflegegesetzes [VRG, LS 175.2], act. 6/1-5 und act. 7). Hingegen verzichtete sie auf die Einholung einer Stellungnahme der Rekursgegnerin im Sinne von § 26b VRG (VRG Kommentar-Griffel, 3. Auflage, Zürich/Basel/ Genf 2014, § 26b N 6).
Gegenstand des vorliegenden Verfahrens bildet die Verrechnung von Verfahrensschulden der Rekurrentin mit einer ihr zustehenden Prozessentschädigung durch die Rekursgegnerin. Der Bezug und die Verwendung von solchen Leistungen sowie damit zusammenhängende Verrechnungen betreffen eine Justizverwaltungssache (GOG Kommentar- Hauser/Schweri/Lieber, 2. Auflage, Zürich/Basel/Genf 2017, Vorbemerkungen zu den §§ 67 ff. N 12). Gegen diesbezügliche Anordnungen der Zentralen Inkassostelle ist der Rekurs an die Verwaltungskommission des Obergerichts des Kantons Zürich gegeben (§ 76 Abs. 1 Gerichtsorganisationsgesetz [GOG, LS 211.1], § 42 Abs. 2 GOG, § 18 Abs. 1 lit. a der Verordnung über die Organisation des Obergerichts [OrgV, LS 212.51]).
Die Rekurrentin ersucht um Beizug der Akten der Staatsanwaltschaft Zürich- Sihl Geschäfts-Nr. E-10/2021/10004902 (act. 1 Antrag 2).
In den beigezogenen Akten der Rekursgegnerin befindet sich die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl vom 20. August 2021 (act. 6/1). Die Rekurrentin hat diese ebenfalls ins Recht gereicht (act. 3/2). Aus der Einstellungsverfügung gehen die aus diesem Verfahren resultieren- den Kosten- und Entschädigungsforderungen hervor. So wird in Dispositiv- Ziffer 2 verfügt, dass die Verfahrenskosten auf die Staatskasse genommen werden, und in Dispositiv-Ziffer 3 festgehalten, dass der Rekurrentin für ihre anwaltlichen Aufwendungen eine Entschädigung von Fr. 800.- (inkl. MwSt.) und für die erlittene Haft eine Genugtuung von Fr. 200.ausgerichtet wer- den. Massgeblich für die Frage der Zulässigkeit der von der Rekursgegnerin vorgenommenen Verrechnung sind diese Anordnungen der Staatsanwaltschaft. Die weiteren Akten aus dem Strafuntersuchungsverfahren sind für die Frage der Verrechnung hingegen nicht von Bedeutung. Deren Beizug erweist sich daher nicht als notwendig, weshalb der Antrag 2 der Rekurrentin abzuweisen ist.
1. Die Rekurrentin beanstandet in der Rekursschrift (act. 1 Rz 2 f.) den Umstand, dass die Rekursgegnerin Forderungen aus verschiedenen Verfahren verrechnen wolle. Die ihr - der Rekurrentin zugesprochene Prozessentschädigung resultiere aus einem Strafuntersuchungsverfahren der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl, während die zu bezahlenden Gerichtskosten aus einem anderen Verfahren aus dem Jahre 2020 stammten. Gemäss Art. 442 Abs. 4 der schweizerischen Strafprozessordnung (StPO, SR 312.0) dürften nur Verfahrenskosten und Entschädigungsforderungen aus demselben Strafverfahren miteinander verrechnet werden. Dies entspreche denn auch der bisherigen Praxis der Verwaltungskommission des Obergerichts des Kantons Zürich.
Nach Art. 442 Abs. 4 StPO können die Strafbehörden ihre Forderungen aus Verfahrenskosten mit Entschädigungsansprüchen der zahlungspflichtigen Partei aus dem gleichen Strafverfahren sowie mit beschlagnahmten Vermögenswerten verrechnen. In Anlehnung an den Wortlaut von Art. 442 Abs. 4 StPO hielt die Verwaltungskommission in der Vergangenheit in verschiede- nen Entscheiden fest, dass Art. 442 Abs. 4 StPO den Bestimmungen von Art. 120 ff. OR vorginge. Namentlich erwog sie im Beschluss vom 17. Juli 2013, Geschäfts-Nr. VR130005-O, E. III.3: […] Nach Art. 442 Abs. 4 StPO kön- nen die Strafbehörden ihre Forderungen aus Verfahrenskosten mit Entschädigungsansprüchen der zahlungspflichtigen Partei aus dem gleichen Strafverfahren sowie mit beschlagnahmten Vermögenswerten verrechnen. Art. 442 Abs. 4 StPO geht als neueres und spezielleres Recht der bisherigen Regelung der analog angewendeten Bestimmungen des Obligationenrechts (Art. 120 ff. OR) vor und schränkt damit die Möglichkeiten der Verrechnung von Forderungen durch das Gemeinwesen in Strafverfahren ein; die möglichen Verrechnungssituationen werden in Art. 442 Abs. 4 StPO abschliessend aufgezählt. Als zulässig erweist sich dabei die Verrechnung der den Strafbehörden zustehenden Forderungen aus Verfahrenskosten mit den von ihr geschuldeten Parteientschädigungen. […].
Auch im Beschluss vom 10. April 2019, Geschäfts-Nr. VR180011-O, vertrat die Verwaltungskommission die Ansicht, dass die Bestimmung in der schweizerische Strafprozessordnung zur Verrechnungsmöglichkeit in Art. 442 Abs. 4 StPO den bisher analog angewendeten obligationenrechtlichen Bestimmungen vorginge (E. III.3.3). Dieses Verfahren betraf die Verrechnung eines Anspruchs auf Ausrichtung einer Prozessentschädigung mit einer Gerichtskostenforderung aus demselben Verfahren.
In den vergangenen Jahren befasste sich auch das Bundesgericht mit der Frage der Zulässigkeit der Verrechnung von verschiedenen Forderungen durch die Straf- und Vollzugsbehörden. In BGE 143 IV 293 ff., wiedergegeben in Pra 107 (2018) Nr. 51, hielt es im Zusammenhang mit der Prüfung der Zulässigkeit der Verrechnung von Prozessentschädigungen mit staatlichen Gerichtskostenforderungen durch die Berufungskammer in Strafsachen des Kantonsgerichts des Kantons Waadt fest, zuständig für das Aussprechen einer diesbezüglichen Verrechnung sei nicht nur die Vollzugsbehörde, sondern auch die Strafbehörde. Dies ergebe sich aus einer Auslegung von Art. 442 Abs. 4 StPO, den verschiedenen Fassungen der massgeblichen Botschaft sowie den herrschenden Lehrmeinungen. Sowohl die Strafbehörden als auch die Vollzugsbehörden dürften demnach eine entsprechende Verrechnung aussprechen (E. 1).
In seinem Entscheid 6B_956/2017 vom 18. April 2018 (Pra 107 [2018] Nr. 153) befasste sich das Bundesgericht sodann unter Bezugnahme auf seine in BGE 143 IV 293 gemachten Erwägungen mit dem Verhältnis von Art. 442 Abs. 4 StPO und Art. 120 OR. Es erwog, der in Art. 120 OR vorgesehene Grundsatz der Verrechnung sei eine allgemein anerkannte Institution, die aber vom Gesetzgeber ausgeschlossen werden könne. Die Bestimmungen von Art. 120 ff. OR über die Verrechnung seien im öffentlichen Recht im Falle dessen Schweigens und vorbehältlich der Unvereinbarkeit anwendbar. Im in BGE 143 IV 293 publizierten Urteil habe das Bundesgericht entschieden, dass auf der Grundlage von Art. 442 Abs. 4 StPO die urteilende Behörde auch zur Anordnung der Verrechnung zuständig sei. Das Urteil sage aber weder, dass Art. 442 Abs. 4 StPO «im Bereich des Strafrechts» die Verrechnung auf die von dieser Bestimmung ins Auge gefassten Fälle beschränke, noch, dass eine solche Beschränkung auf die Vollzugsbehörde zur Anwendung gelange. Diese Fragen würden vom vorstehend zitierten Urteil nicht geprüft (E. 2.2 f., insb. E. 2.3.2). Das Bundesgericht erwog weiter, dass die Strafprozessordnung klar zwischen von dieser geregelten, auf die Verfolgung und Beurteilung von Straftaten anwendbaren Verfahren und jenem der Vollstreckung der Urteile, das unter Vorbehalt der in Art. 439 ff. StPO vorgesehenen Bestimmungen in die Zuständigkeit des Bundes und der Kantone falle, unterscheide. Sie differenziere auch deutlich zwischen den in Art. 12 ff. StPO aufgezählten Strafbehörden und den von Art. 439 ff. StPO anvisierten Vollzugsbehörden. Diese letzte Unterscheidung werde in der in BGE 143 IV 293 ff. publizierten Rechtsprechung übernommen. Bereits deshalb könne man die Bestimmung über die Zuständigkeit zur und die Möglichkeit der Verrechnung der Strafbehörden nicht auf die Vollstreckung bzw. die Vollzugsbehörden anwenden. Art. 442 Abs. 4 StPO könne nicht dahingehend ausgelegt werden, dass die Vollzugsbehörde in ihrer Befugnis
zur Verrechnungserklärung beschränkt werde. Die Verrechnung werde von Art. 120 ff. OR geregelt (E. 2.3.3).
In Nachachtung zu dieser Bundesgerichtspraxis hat die Verwaltungskommission im publizierten Beschluss vom 9. Februar 2021, Geschäfts- Nr. VR210001-O (E. III.1), ihre Praxis geändert und erwogen, dass Art. 442 Abs. 4 StPO die Verrechenbarkeit zwar auf Forderungen aus demselben Strafverfahren beschränke, dass sich diese Bestimmung indes nach der neusten bundesgerichtlichen Rechtsprechung primär an die Strafbehörden und nicht an kantonale Vollzugsbehörden wie die Rekursgegnerin richte. Diese seien demnach auch im Anwendungsbereich der Strafprozessord- nung befugt, ungeachtet von Art. 442 Abs. 4 StPO Forderungen aus verschiedenen Strafverfahren miteinander zu verrechnen. Massgebliche Rechtsgrundlage sei dabei Art. 120 ff. OR, welche im Sinne eines allgemein anerkannten Rechtsgrundsatzes zur Anwendung gelange (vgl. zum Ganzen BGE 139 IV 243 E. 5.1 S. 245 = Pra 102 (2013) Nr. 108; BGE 6B_956/2017
vom 18. April 2018, E. 2.2 [= BGE 144 IV 212 = Pra 107 [[2018]] Nr. 153
E. 2.2 f., insb. E. 2.3.3]; Urteil 2C_432/2010 vom 9. November 2010 E. 4.2; GOG Kommentar-Hauser/Schweri/Lieber, Vorbemerkungen zu den §§ 199 ff. N 22). In der Folge prüfte die Verwaltungskommission die Zulässigkeit der von der Rekursgegnerin ausgesprochenen Verrechnung anhand der in Art. 120 ff. OR vorgesehenen Voraussetzungen und bejahte diese.
An der neusten, auf der bundesgerichtlichen Rechtsprechung basierenden Praxis der Verwaltungskommission ist nach wie vor festzuhalten. Entgegen der Rekurrentin schliesst Art. 442 Abs. 4 StPO demnach eine Verrechnung von verschiedenen Forderungen aus unterschiedlichen Verfahren durch die Rekursgegnerin als Vollzugsbehörde nicht aus. Vielmehr ist eine solche bei Erfüllung der in Art. 120 f. OR aufgezählten Voraussetzungen zulässig. Dies ist daher im Nachfolgenden zu prüfen.
Art. 120 Abs. 1 OR folgend ist eine Verrechnung grundsätzlich zulässig, wenn zwei Personen einander Geldsummen andere Leistungen, die ihrem Gegenstande nach gleichartig sind, schulden, sofern die eigene Schuld
erfüllbar und die Forderung des Verrechnungsgegners fällig bzw. durchsetzbar ist. Durchsetzbarkeit bedeutet, dass die Forderung einredefrei, einklagbar und fällig ist (BSK OR I-Müller, Art. 120 N 3). Das Erfordernis der Gegenseitigkeit der Forderungen muss im Zeitpunkt der Verrechnungserklärung gegeben sein (BSK OR I-Müller, Art. 120 N 7).
In Bezug auf das Kriterium der Gegenseitigkeit bringt die Rekurrentin vor, sie habe den Anspruch auf eine allfällige Prozessentschädigung gemäss Anwaltsvollmacht vom 15. Februar 2021 an ihre Rechtsvertretung abgetreten. Mit der Rechtskraft der Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl vom 20. August 2021 sei die Forderung der Rekurrentin betreffend Entschädigung auf ihre Rechtsvertreterin übergegangen (act. 1 Rz 5).
Die Abtretung einer Forderung schliesst eine Verrechnung gegenüber dem bisherigen Gläubiger nicht aus. Es sind jedoch die Voraussetzungen nach Art. 167 OR zu berücksichtigen. Besagter Bestimmung folgend vermag die Zahlung der Schuld an den früheren Gläubiger den Schuldner von seiner Schuld nur dann gültig zu befreien, wenn die Leistung vor der Notifikation der Abtretung in gutem Glauben erfolgte. Ist einem gutgläubigen Schuldner damit die Abtretung weder vom Zedenten noch vom Zessionaren angezeigt worden, so kann er gegenüber dem Zedenten trotz erfolgter Abtretung seine Schuld durch Verrechnungserklärung tilgen (Lardelli, Die Einreden des Schuldners bei der Zession, Zürich/Basel/Genf 2008, N 81 f.; Beschluss der Verwaltungskommission OG ZH vom 4. Juni 2012, Nr. VR110009-O, E. IV.2.2).
Gemäss der Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl vom
20. August 2021 (act. 6/1) wurde der beschuldigten Person, d.h. der Rekurrentin des vorliegenden Verfahrens, für ihre anwaltlichen Aufwendungen ei- ne Entschädigung von Fr. 800.zugesprochen. Sie wurde darauf hingewiesen, dass das Guthaben nach Eintritt der Rechtskraft durch die Rekursgeg- nerin auf ein auf die Person der Berechtigten ihres Rechtsvertreters lautendes Konto überwiesen werde, wobei das Verrechnungsrecht des Staates vorbehalten bleibe (Dispositiv-Ziffer 3). Die Prozessentschädigung wurde
demnach der Rekurrentin zugesprochen, wovon im Übrigen auch diese ausgeht (act. 6/4). Aus den beigezogenen Akten der Rekursgegnerin ergeben sich keine Hinweise, dass die Rekurrentin die Abtretung der Prozessentschädigung an ihre Rechtsvertreterin gegenüber der Rekursgegnerin angezeigt hätte. Weder machte sie dies in ihren Schreiben vom 1. März 2022 bzw. 14. März 2022 (act. 6/3-4) geltend, noch ergeben sich aus den Akten anderweitige Anhaltspunkte, wonach sie gegenüber der Rekursgegnerin ei- ne Notifikation mittels Einreichung der die Abtretungsklärung enthaltenden Vollmacht vorgenommen hätte. Im Zeitpunkt ihrer Verrechnungserklärung am 18. Oktober 2021 (act. 6/2) hatte die Rekursgegnerin von der Abtretung der Prozessentschädigungsforderung an die Rechtsvertreterin der Rekurrentin demnach noch keine Kenntnis. Gestützt auf Art. 167 OR konnte sie daher trotz der Abtretung die Verrechnung aussprechen. Das Erfordernis der Gegenseitigkeit der Forderungen war erfüllt, ebenso dasjenige der Gleichartigkeit der Forderungen. Die Forderung der Rekursgegnerin, d.h. die Schuld der Rekurrentin, von Fr. 800.war zudem fällig, mitunter einklagbar und durchsetzbar, die Forderung der Rekurrentin bzw. die Schuld der Rekursgegnerin von ebenfalls Fr. 800.zumindest erfüllbar. Die für eine Verrech- nung notwendigen Anforderungen waren demnach gegeben, weshalb die Rekursgegnerin eine solche erklären und gegenüber der Rekurrentin am
18. Oktober 2021 aussprechen durfte (vgl. act. 6/2). Mit der Verrechnungserklärung im Umfang von Fr. 800.wurde die Verpflichtung auf Ausrichtung einer Prozessentschädigung rechtsgültig getilgt.
Die Rekurrentin bringt zudem vor, die Verrechnung erweise sich als unbillig, da sie als abgewiesene Asylbewerberin mit ihrem Mann und den drei gemeinsamen Kindern in einer Notunterkunft und von Nothilfe lebe. Zudem wäre der Rekurrentin im Falle der Fortführung des Verfahrens eine amtliche Verteidigerin bestellt worden, weshalb eine Verrechnung nicht hätte vorge- nommen werden können (act. 1 Rz 6).
Die Voraussetzungen, welche zu einer Verrechnung berechtigen, sind gesetzlich geregelt. Dass die finanziellen Verhältnisse des Schuldners im
Rahmen des Verrechnungsrechts zu berücksichtigen wären, sehen die Bestimmungen in Art. 120 f. OR nicht vor. Kriterien wie Billigkeit unzureichende finanzielle Mittel haben demnach keinen Einfluss auf das Verrechnungsrecht. Die Rekursgegnerin war demnach selbst im Wissen um die finanziellen Verhältnisse der Rekurrentin berechtigt, die Verrechnung zu erklären. Auch steht es der Verwaltungskommission als Rechtsmittelinstanz nicht zu, die Rekursgegnerin anzuweisen, unter diesen Umständen von ei- ner Verrechnung abzusehen.
Schliesslich vermag auch der Hinweis der Rekurrentin, dass ihr für den Fall, dass das Verfahren nicht eingestellt, sondern weitergeführt worden wäre, wohl eine amtliche Verteidigung bestellt worden wäre, am Verrechnungsrecht der Rekursgegnerin nichts zu ändern. Massgeblich für das Recht zur Verrechnung sind die tatsächlichen Umstände im Zeitpunkt der Verrech- nungserklärung. Allfällige Eventualitäten spielen hingegen keine Rolle, ebenso wenig allfällige Mängel im System betreffend die Bestellung von amtlichen Verteidigerinnen und Verteidigern, wie sie die Rekurrentin geltend macht. Massgeblich für die Rekursgegnerin und bindend waren einzig die rechtskräftig erledigten Entscheide, namentlich die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl vom 20. August 2021, Geschäfts-Nr. E- 10/2021/10004902, und der Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl vom 15. November 2019, Geschäfts-Nr. F-1/2019/10036320. Diese liessen, wie dargelegt, eine Verrechnung zu.
5. Damit ist abschliessend festzuhalten, dass die Rekursgegnerin am
18. Oktober 2021 infolge Erfüllung aller massgeblichen Voraussetzungen nach Art. 120 ff. OR über den Betrag von Fr. 800.eine Verrechnung aussprechen durfte. Der Rekurs ist daher abzuweisen.
Die Gerichtsgebühr ist auf Fr. 500.– festzusetzen (§ 13 VRG i.V.m. § 20 GebV OG). Ausgangsgemäss sind die Kosten des Verfahrens der Rekurrentin aufzuerlegen. Parteientschädigungen sind keine zuzusprechen (§ 17 VRG).
Hinzuweisen ist sodann auf das Rechtsmittel der Beschwerde ans Bundesgericht.
Es wird beschlossen:
Der Rekurs wird abgewiesen.
Die Gerichtsgebühr wird auf Fr. 500.– festgesetzt.
Die Kosten des Verfahrens werden der Rekurrentin auferlegt.
Parteientschädigungen werden keine zugesprochen.
Schriftliche Mitteilung, je gegen Empfangsschein, an:
die Rechtsvertreterin der Rekurrentin, zweifach, für sich und die Rekurrentin, sowie an
die Rekursgegnerin, unter Beilage einer Kopie von act. 1.
Die beigezogenen Akten (act. 6/1-5) werden der Rekursgegnerin nach unbenütztem Ablauf der Rechtsmittelfrist bzw. nach Erledigung allfälliger Rechtsmittel retourniert.
Rechtsmittel :
Eine allfällige Beschwerde gegen diesen Entscheid ist innert 30 Tagen von der Zustellung an beim Schweizerischen Bundesgericht, 1000 Lausanne 14, einzureichen. Zulässigkeit und Form einer solchen Beschwerde richten sich nach Art. 72 ff. (ordentliche Beschwerde) Art. 113 ff. (subsidiäre Verfassungsbeschwerde) in Verbindung mit Art. 42 des Bundesgesetzes über das Bundesgericht (BGG).
Zürich, 2. Mai 2022
OBERGERICHT DES KANTONS ZÜRICH
Verwaltungskommission Gerichtsschreiberin:
lic. iur. A. Leu
versandt am:
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