Zusammenfassung des Urteils SU210020: Obergericht des Kantons Zürich
Der Beschwerdeführer X. hat gegen die Abschreibungsverfügung der Staatsanwaltschaft Graubünden bezüglich einer Strafanzeige wegen Drohung und Nötigung gegen Y. Beschwerde eingelegt. Y. wurde mit einem Strafbefehl schuldig gesprochen und zu einer Geldstrafe sowie einer Busse verurteilt. X. hatte sich als Zivilkläger konstituiert und auf eine Teilnahme am Strafverfahren als Strafkläger verzichtet. Das Kantonsgericht von Graubünden trat auf die Beschwerde nicht ein, da X. nicht zur Beschwerdeführung legitimiert war. Die Kosten des Verfahrens in Höhe von CHF 1'500 gehen zu Lasten von X.
Kanton: | ZH |
Fallnummer: | SU210020 |
Instanz: | Obergericht des Kantons Zürich |
Abteilung: | II. Strafkammer |
Datum: | 23.09.2021 |
Rechtskraft: | - |
Leitsatz/Stichwort: | Missachten eines audienzrichterlichen Verbotes |
Schlagwörter : | Beschuldigte; Urteil; Vorladung; Verfahren; Hauptverhandlung; Gericht; Recht; Beschuldigten; Berufung; Vorinstanz; Stadtrichteramt; Akten; Verjährung; Kantons; Person; Bundesgericht; Verfahrens; Einsprache; Bezirksgericht; Mangel; Sinne; Mängel; Berufungsverfahren; Rechtsprechung; Aktenentscheid; Gerichtsgebühr; Oberrichter; Abteilung |
Rechtsnorm: | Art. 109 StGB ;Art. 29 BV ;Art. 329 StPO ;Art. 336 StPO ;Art. 355 StPO ;Art. 356 StPO ;Art. 409 StPO ;Art. 426 StPO ;Art. 428 StPO ;Art. 6 EMRK ;Art. 97 StGB ; |
Referenz BGE: | 135 IV 196; 138 IV 157; 140 IV 86; |
Kommentar: | - |
Obergericht des Kantons Zürich
II. Strafkammer
Geschäfts-Nr.: SU210020-O/U/mc
Mitwirkend: die Oberrichter lic. iur. Spiess, Präsident, und lic. iur. Stiefel, Oberrichterin lic. iur. Haus Stebler sowie Gerichtsschreiberin lic. iur. Aardoom
Beschluss vom 23. September 2021
in Sachen
Beschuldigter und Berufungskläger
gegen
Untersuchungsbehörde und Berufungsbeklagte
betreffend Missachten eines audienzrichterlichen Verbotes
Erwägungen:
Der Beschuldigte wurde am 11. März 2019 wegen Missachten eines audienzrichterlichen Verbots mit einer Busse von Fr. 50.bestraft (Urk. 11). Dagegen erhob er fristgerecht Einsprache (Urk. 13). Das Stadtrichteramt erläuterte ihm mit Schreiben vom 9. Oktober 2019 die Sach- und Rechtslage und gab ihm Gelegenheit, die Einsprache zurückzuziehen (Urk. 15), was der Beschuldigte nicht tat (Urk. 16). Am 24. März 2021 überwies das Stadtrichteramt das Verfahren dem Bezirksgericht Zürich.
Der zuständige Einzelrichter des Bezirksgerichts lud den Beschuldigten zur erstinstanzlichen Hauptverhandlung auf den 21. Mai 2021, 10:30 Uhr, vor
(Urk. 21). In der Vorladung wurde aufgrund des ausländischen Wohnsitzes des Beschuldigten auf BGE 140 IV 86, E. 2 hingewiesen (Bleibt der Einsprecher der Hauptverhandlung unentschuldigt fern, so wird aufgrund der Akten entschieden, selbst wenn er sich vertreten lässt). Die Vorladung wurde dem Beschuldigten nach Deutschland zugestellt, wo er diese am 4. Mai 2021 in Empfang nahm (Urk. 21/2). Der Beschuldigte reagierte umgehend mit Schreiben vom 5. Mai 2021, in welchem er festhielt, dass er die Vorladung hiermit zurückweise. Als Begründung gab er an, das Gericht habe ihn nicht zeitgleich über die hiesigen Covid 19-Sicherheitsmassnahmen informiert. An seinem Wohnort ( ) bestehe eine Ausgangssperre von 22 bis 5 Uhr, so dass ihm eine Wahrnehmung des Termins am 21. Mai 2021 um 10:30 Uhr innerhalb einer 24h-Reise nicht möglich sei. Zu-
dem würde er weitere Fragen nicht beantworten, da in seinen schriftlichen Einlassungen alle nur erdenklichen Fakten zur Zurückweisung der Missachtung des richterlichen Parkverbotes dargelegt seien (Urk. 22). Die bisherigen Schreiben legte er bei. Nächstes Aktorum in den vorinstanzlichen Akten ist das Urteil der Vorinstanz vom 21. Mai 2021. Dieses erging, nachdem im vorinstanzlichen Protokoll festgehalten wurde, dass der Beschuldigte trotz gehöriger Vorladung unentschul- digt nicht erschienen sei (Prot. I S. 4). Eine Reaktion seitens der Vorinstanz auf das Schreiben des Beschuldigten vom 5. Mai 2021 findet sich nicht in den Akten.
Die Vorinstanz eröffnete dem Beschuldigten das Urteil direkt in begründeter Form, wogegen dieser mit Schreiben vom 14. Juni 2021 (Datum Poststempel;
Urk. 26) rechtzeitig Berufung erhob (Zustellung begründetes Urteil am 8. Juni 2021; Urk. 24/2; vgl. BGE 138 IV 157). Mit Präsidialverfügung vom 14. Juli 2021 wurde den Parteien Frist angesetzt, sich dazu zu äussern, ob ein schwerer Mangel im Sinne von Art. 409 StPO vorliege (Urk. 28). Der Beschuldigte reichte am
21. Juli 2021 ein Dokument ein, in welchem die an seinem Wohnort im Zeitpunkt der angesetzten vorinstanzlichen Hauptverhandlung geltenden Covid- Massnahmen beschrieben werden (Urk. 30). Das Stadtrichteramt liess sich nicht vernehmen.
Weist das erstinstanzliche Verfahren wesentliche Mängel auf, die im Berufungsverfahren nicht geheilt werden können, so hebt das Berufungsgericht das angefochtene Urteil auf und weist die Sache zur Durchführung einer neuen Hauptverhandlung und zur Fällung eines neuen Urteils an das erstinstanzliche Gericht zurück (Art. 409 Abs. 1 StPO). Wesentlich sind die Mängel dann, wenn durch sie in schwerwiegender Weise in die Rechte der beschuldigten Person anderer Parteien eingegriffen wird und die Mängel im Berufungsverfahren ohne den Verlust einer Instanz nicht mehr behoben werden können. Dies ist beispielsweise bei nicht richtiger Besetzung des Gerichts, unterbliebener korrekter Vorla- dung, Verweigerung von Teilnahmerechten sowie nicht gehöriger Verteidigung der Fall. Bei Vorliegen solcher Mängel wäre ein Verfahren nicht mehr fair im Sinne von Art. 6 EMRK (Basler Kommentar zur StPO, Eugster, Art. 409 N 1).
Bei Beschuldigten mit ausländischem Wohnsitz gelten besondere Regeln. So ist der sich im Ausland aufhaltende Beschuldigte nicht verpflichtet, eine Vorla- dung in die Schweiz zu befolgen. Leistet er der Vorladung keine Folge, darf er keinerlei rechtliche tatsächliche Nachteile erleiden. Die Vorladung kommt damit in der Sache einer Einladung gleich. Zwang darf damit nicht ausgeübt wer- den (BGE 140 IV 86 S. 2.3 f.). Diesbezüglich gibt es einschlägige Rechtsprechung des Bundesgerichts zur Rückzugsfiktion im Einspracheverfahren bei der Staatsanwaltschaft (Art. 355 Abs. 2 StPO), welche auch im Verfahren vor dem erstinstanzlichen Gericht Geltung beansprucht und somit auch für Art. 356 Abs. 4 StPO gilt (Urteil des BGer 6B_282/2019 vom 5. April 2019, E. 3). Demnach ist die Rückzugsfiktion im Einspracheverfahren bei Beschuldigten mit ausländischem
Wohnsitz grundsätzlich nicht zulässig. Um diese Verfahren gleichwohl zu einem Abschluss zu bringen, besteht einerseits gemäss Art. 336 Abs. 3 StPO die Möglichkeit, die beschuldigte Person auf ihr Gesuch hin vom persönlichen Erscheinen zu dispensieren, wenn diese wichtige Gründe geltend macht und ihre Anwesenheit an der Hauptverhandlung nicht erforderlich ist. Andererseits schreibt die StPO in Art. 336 Abs. 4 vor, dass die Vorschriften über das Abwesenheitsverfahren anwendbar sind, wenn die beschuldigte Person bei der Hauptverhandlung unentschuldigt ausbleibt. Letzterenfalls kann eine neu angesetzte Hauptverhandlung in Abwesenheit der beschuldigten Person durchgeführt werden (vgl. LGVE 2017
Nr. 18 E. 5.3.2.2., Entscheid des Kantonsgerichts Luzern vom 18. Oktober 2017; Zürcher Kommentar StPO-Schwarzenegger, 3. Auflage, Art. 356 N 3). Einen direkten Aktenentscheid sieht das Bundesgericht entgegen der vorinstanzlichen Auffassung grundsätzlich nicht vor (vgl. BGE 140 IV 86).
Diese Rechtsprechung ist auch beim Vorgehen der Vorinstanz bei der Vorladung des Beschuldigten zu berücksichtigen. So drohte sie diesem in der Vorla- dung vom 30. April 2021 an, es werde aufgrund der Akten entschieden, sollte er der Hauptverhandlung unentschuldigt fernbleiben (Urk. 21/1). Auch ein Aktenentscheid kann Nachteile rechtlicher tatsächlicher Natur bringen wie vorliegend auch geschehen - und stellt damit eine Zwangsausübung im Sinne der obgenannten Rechtsprechung dar. Die Vorladung war demnach nicht korrekt. Kommt hinzu, dass der Beschuldigte umgehend auf die Vorladung reagierte und mit Schreiben vom 5. Mai 2021 festhielt, dass ihm eine Teilnahme an der Hauptverhandlung aufgrund der Ausgangssperre an seinem Wohnort nicht möglich sei. Auf dieses Schreiben, welches durch einen Laien verfasst wurde und offensichtlich als Verschiebungsoder Dispensationsgesuch zu behandeln gewesen wäre, reagierte die Vorinstanz nicht. Selbst wenn man von einer korrekten Vorladung ausgehen würde, kann aufgrund des Schreibens des Beschuldigte nicht davon ausgegangen werden, dass er unentschuldigt nicht zur Hauptverhandlung erschienen ist.
Auch kann aus besagtem Schreiben des Beschuldigten nicht auf ein Desinteresse am weiteren Gang des Verfahrens geschlossen werden, bei welchem gemäss
bundesgerichtlicher Rechtsprechung eine Rückzugsfiktion und demnach auch ein Aktenentscheid zulässig ist. Ein solches Desinteresse kann nur zum Tragen kommen, wenn der Beschuldigte hinreichend über die Folgen des unentschuldigten Fernbleibens informiert wurde und sich aus seinem gesamten Verhalten der Schluss aufdrängt, er verzichte am weiteren Gang des Verfahrens bewusst auf seinen Rechtsschutz (vgl. BGE 140 IV 86 E. 2.6). Der Beschuldigte äusserte sich während des gesamten Verfahrens klar, dass er den Strafbefehl nicht akzeptiere und dagegen vorgehen wolle, und teilte dem Gericht mit, weshalb es ihm nicht möglich sei, an der Hauptverhandlung teilzunehmen. Dass er anfügte, er wolle keine Fragen beantworten, heisst nicht, dass er beispielsweise auch keine Ausführungen zu seiner Person machen würde keine Stellungnahme zu seiner Verteidigung halten würde und bewusst auf seinen Rechtsschutz verzichtet hat. Indem die Vorinstanz nicht auf das Schreiben des Beschuldigten reagierte, einfach auf ein unentschuldigtes Fernbleiben entschied und einen Aktenentscheid fällte, verletzte sie dessen Recht auf Teilnahme an der erstinstanzlichen Hauptverhandlung, welches Teilgehalt des Anspruches auf rechtliches Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV ist.
Insgesamt ist damit festzuhalten, dass die Vorladung des Beschuldigten ei- ne Zwangsandrohung enthielt, welche grundsätzlich nicht zulässig gewesen wäre und die Vorinstanz auch nicht auf dessen sofortiges Schreiben, weshalb er nicht an der Hauptverhandlung teilnehmen konnte, reagierte. Damit leidet das vorinstanzliche Verfahren an einem schweren Mangel, welcher im Berufungsverfahren nicht behoben werden kann, ohne dass der Beschuldigte einer Instanz verlustig ginge. Das vorinstanzliche Urteil ist deshalb aufzuheben und wäre grundsätzlich an das erstinstanzliche Gericht zurückzuweisen. Wie nachfolgend auszuführen sein wird, ist jedoch von einer Rückweisung abzusehen.
Gemäss Art. 109 StGB verjähren die Strafverfolgung und die Strafe für Übertretungen in drei Jahren. Ist vor Ablauf der Verjährungsfrist ein erstinstanzliches Urteil ergangen, so tritt die Verjährung nicht mehr ein (Art. 104 in Verbin- dung mit Art. 97 Abs. 3 StGB, vgl. auch BGE 135 IV 196). Die Verjährung beginnt mit dem Tag, an dem der Täter die strafbare Tätigkeit ausführte (Art. 104 in Ver-
bindung mit Art. 98 lit. a. StGB). Die Verjährungsfrist begann am 30. August 2018 zu laufen (Urk. 11). Da die Vorinstanz am 21. Mai 2021, mithin noch vor dem
30. August 2021, ein Urteil fällte, könnte die Verjährung nicht mehr eintreten, wenn das Urteil bestätigt würde bzw. in Rechtskraft erwüchse. Das vorinstanzliche Urteil wird nun aber durch den vorliegenden Beschluss aufgehoben. Folglich läuft die Verjährungsfrist weiter, als wäre nie ein erstinstanzliches Urteil ergangen. Die Strafverfolgung der Übertretung war damit am 30. August 2021 verjährt. Damit besteht ein unüberwindbares Verfahrenshindernis im Sinne von Art. 329 Abs. 1 lit. c StPO, weshalb das Verfahren einzustellen ist (Art. 379 i.V.m. Art. 329 Abs. 4 StPO).
4. Infolge Einstellung des Verfahrens wegen Verjährung sind die Kosten der Busse und der Untersuchung dem Stadtrichteramt Zürich zur Abschreibung zu überlassen. Die vorinstanzliche Gerichtsgebühr ist auf die Gerichtskasse zu nehmen (Art. 426 Abs. 1 und 2 StPO). Der Beschuldigte obsiegt im Berufungsverfahren, weshalb die zweitinstanzliche Gerichtsgebühr ausser Ansatz zu fallen hat (Art. 428 Abs. 1 StPO). Mangels erheblicher Umtriebe ist ihm keine Entschädigung zuzusprechen.
Es wird beschlossen:
Das Urteil des Bezirksgerichts Zürich, 10. Abteilung - Einzelgericht, vom
21. Mai 2021 wird aufgehoben.
Das Verfahren (Nr. 2019-011-612) wird eingestellt.
Die Kosten des Stadtrichteramts Zürich (Strafbefehl Nr. : Fr. 50.- Busse sowie Fr. 360.- Untersuchungskosten) werden dem Stadtrichteramt zur Abschreibung überlassen. Die erstinstanzliche Gerichtsgebühr wird auf die Gerichtskasse genommen.
Die zweitinstanzliche Gerichtsgebühr fällt ausser Ansatz.
Mangels erheblicher Umtriebe werden keine Entschädigungen zugesprochen.
Schriftliche Mitteilung in vollständiger Ausfertigung an
den Beschuldigten
das Stadtrichteramt Zürich
die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich
sowie nach Ablauf der Rechtsmittelfrist bzw. Erledigung allfälliger Rechtsmittel an
die Vorinstanz
die Kantonspolizei Zürich, KDM-ZD, mit separatem Schreiben (§ 54a Abs. 1 PolG).
Rechtsmittel:
Gegen diesen Entscheid kann bundesrechtliche Beschwerde in Strafsachen erhoben werden.
Die Beschwerde ist innert 30 Tagen, von der Zustellung der vollständigen, begründeten Ausfertigung an gerechnet, bei der Strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichtes (1000 Lausanne 14) in der in Art. 42 des Bundesgerichtsgesetzes vorgeschriebenen Weise schriftlich einzureichen.
Die Beschwerdelegitimation und die weiteren Beschwerdevoraussetzungen richten sich nach den massgeblichen Bestimmungen des Bundesgerichtsgesetzes.
Obergericht des Kantons Zürich
II. Strafkammer Zürich, 23. September 2021
Der Präsident:
Oberrichter lic. iur. Spiess
Die Gerichtsschreiberin:
lic. iur. Aardoom
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