Zusammenfassung des Urteils SU190043: Obergericht des Kantons Zürich
Das Obergericht des Kantons Zürich hat in einem Fall von Übertretung der Prostitutionsgewerbeverordnung und der Verordnung über die Einführung des freien Personenverkehrs entschieden. Die Beschuldigte A. wurde vom Bezirksgericht Zürich schuldig gesprochen und mit einer Busse von Fr. 800.-- bestraft. Das Statthalteramt des Bezirks Zürich hat Berufung eingelegt, da es Mängel im vorinstanzlichen Verfahren sah. Das Obergericht entschied, dass das Verfahren an die Vorinstanz zurückgewiesen werden muss, da wesentliche Mängel vorliegen, die im Berufungsverfahren nicht geheilt werden können.
Kanton: | ZH |
Fallnummer: | SU190043 |
Instanz: | Obergericht des Kantons Zürich |
Abteilung: | I. Strafkammer |
Datum: | 11.12.2019 |
Rechtskraft: | - |
Leitsatz/Stichwort: | Übertretung der Prostitutionsgewerbeverordnung (PGVO) und der Verordnung über die Einführung des freien Personenverkehrs (VEP) |
Schlagwörter : | Beschuldigte; Berufung; Verfahren; Beschuldigten; Vorinstanz; Hauptverhandlung; Vorladung; Statthalteramt; Urteil; Berufungsverfahren; Bezirk; Verteidiger; Gericht; Bezirks; Berufungsverhandlung; Entscheid; Akten; Zustellung; Berufungserklärung; Frist; Rückzug; Dispensation; Recht; Kantons; Bezirksgericht; Urteils |
Rechtsnorm: | Art. 336 StPO ;Art. 356 StPO ;Art. 409 StPO ; |
Referenz BGE: | - |
Kommentar: | - |
Obergericht des Kantons Zürich
I. Strafkammer
Geschäfts-Nr.: SU190043-O/U/cwo, abgetrennt von SU190025
Mitwirkend: Oberrichter lic. iur. S. Volken, Präsident, die Ersatzoberrichterinnen lic. iur. C. Brenn und lic. iur. C. Keller sowie die Gerichtsschreiberin MLaw A. Donatsch
Beschluss vom 11. Dezember 2019
in Sachen
vertreten durch a.o. Statthalter-Stvin Dr. iur. Z. Chen,
Verwaltungsbehörde und I. Berufungsklägerin
gegen
Beschuldigte und II. Berufungsklägerin sowie Anschlussberufungsklägerin
betreffend Übertretung der Prostitutionsgewerbeverordnung (PGVO) und der Verordnung über die Einführung des freien Personenverkehrs (VEP)
Erwägungen:
Mit Urteil vom 8. Mai 2019 wurde die Beschuldigte A. vom Bezirksgericht Zürich wegen mehrfacher unzulässiger Betreibung der Salonprostitution schuldig gesprochen. Von weiteren Vorwürfen wurde sie freigesprochen resp. wurde das Verfahren eingestellt. Die Beschuldigte wurde mit einer Busse von Fr. 800.--, unter Festsetzung einer Ersatzfreiheitsstrafe von 8 Tagen, bestraft (Urk. 94 S. 46 ff.). Gegen das schriftlich im Dispositiv eröffnete Urteil (Urk. 85/1-2) meldete das Statthalteramt am 14. Mai 2019 fristgerecht Berufung an (Urk. 86). Die Berufungsanmeldung der Beschuldigten vom 23. Mai 2019 erfolgte ebenfalls fristgerecht (Urk. 88). Nach Zustellung des begründeten Urteils am 27. Juni 2019 (Urk. 92/1-2) reichte das Statthalteramt am 12. Juli 2019 seine Berufungserklärung ein (Urk. 98). Die Beschuldigte reichte bereits am 4. Juni 2019, und damit vor Erhalt des begründeten Urteils, eine als Berufungserklärung bezeichnete Eingabe ein (Urk. 97). Mit Präsidialverfügung vom 21. August 2019 wurde der Beschuldigten die Berufungserklärung des Statthalteramtes zugestellt und Frist für eine allfällige Anschlussberufung angesetzt (Urk. 105). Die korrekt zugestellte Verfügung wurde nicht abgeholt (Urk. 106). Am 30. September 2019 - und damit nicht fristgerecht erhob die Beschuldigte schliesslich Anschlussberufung (Urk. 109). Sinngemäss beantragt sie einen vollumfänglichen Freispruch.
Das Statthalteramt des Bezirks Zürich macht in seiner Berufungserklärung im Wesentlichen geltend, das vorinstanzliche Hauptverfahren sei nicht korrekt durchgeführt worden. Die Beschuldigte sei zur Hauptverhandlung unentschuldigt nicht erschienen und habe sich auch nicht vertreten lassen. Daher hätte die Vorinstanz in Anwendung von Art. 356 Abs. 4 StPO einen Rückzug der Einsprache annehmen müssen. Unzulässig sei auch die Dispensation der Beschuldigten im Sinne von Art. 336 Abs. 3 StPO, zumal diese nie um Dispensation ersucht habe und ihre Befragung an der Hauptverhandlung angesichts des fehlenden Geständnisses von zentraler Bedeutung gewesen wäre. Im Hauptstandpunkt beantragt das Statthalteramt daher, es sei das vorinstanzliche Urteil aufzuheben und der dem Verfahren zugrunde liegende Strafbefehl als rechtskräftig zu bestätigen. Eventualiter sei die Sache zwecks Neubeurteilung und Wiederholung der Haupt-
verhandlung mit Befragung der Beschuldigten an die Vorinstanz zurückzuweisen (Urk. 98). Angesichts dieser Anträge wurde den Parteien zur Wahrung des rechtlichen Gehörs mit Präsidialverfügung vom 27. November 2019 Frist zur Stellungnahme hinsichtlich einer allfälligen Rückweisung angesetzt (Urk. 116; Art. 107 Abs. 1 lit. d StPO; vgl. auch N. Schmid, StPO-Praxiskommentar, 3. Auflage 2018, Art. 409 N 4). Innert der angesetzten Frist von 10 Tagen ging trotz korrekter Zustellung keine Stellungnahme zur Frage der Rückweisung ein (Urk. 117). Allerdings hielt die Beschuldigte innert dieser Frist in einem Schreiben vom
6. Dezember 2019 fest, sie bitte um Festsetzung eines Termins für eine mündliche Verhandlung (Urk. 120). Nachdem der Beschuldigten die Vorladung für die angesetzte Berufungsverhandlung bereits am 25. Oktober 2019 korrekt und an die von ihr erneut bestätigte Adresse (Urk. 120) zugestellt worden war (Urk. 112), kann hier offen bleiben, was von diesem Schreiben zu halten ist.
Das Verfahren gegen die Beschuldigte wurde vor Vorinstanz mit dem Verfah-
ren gegen den Mitbeschuldigten B.
unter der Prozessnummer GC180133
vereinigt und durchgeführt. Das Berufungsverfahren gegen beide Beschuldigten wurde bisher unter der Prozessnummer SU190025 geführt. Nachdem das Statthalteramt seine Berufung gegen den Beschuldigten B. zurückgezogen hat, ist in jenem Verfahren nur noch die Berufung des Beschuldigten zu beurteilen. Die Berufungsverhandlung gegen beide Beschuldigten wurde wie erwähnt auf den 13. Januar 2020 angesetzt; die Vorladungen konnten korrekt zugestellt werden (Urk.
112). Nachdem das Verfahren gegen die Beschuldigte A.
indes wie im
Folgenden zu zeigen sein wird an die Vorinstanz zurückzuweisen ist, sind die beiden Verfahren fortan getrennt weiterzuführen. Das Verfahren in Sachen A. ist daher aus administrativen Gründen vom Verfahren SU190025 abzutrennen und unter der Nummer SU190043 fortzuführen, während das Verfahren gegen den Beschuldigten B. unter der Nummer SU190025 weiterläuft. Die Ladungen für die Berufungsverhandlung vom 13. Januar 2020 i.S. A. sind abzunehmen, die Berufungsverhandlung in ihrer Angelegenheit findet mithin nicht statt.
Die Vorinstanz lud die Beschuldigte und ihren damaligen Verteidiger mit Verfügung vom 20. März 2019 zur Hauptverhandlung auf den 29. April 2019 vor. Als Säumnisfolge wurde festgehalten, die Beschuldigte habe als Einsprecherin persönlich zu erscheinen, selbst wenn sie sich anwaltlich vertreten lasse, ansonsten Rückzug der Einsprache angenommen werde (Urk. 48/1). Dabei zitierte die Vorinstanz einen französisch verfassten Bundesgerichtsentscheid (Nr. 6B_592/2012 vom 11. Februar 2013, Erw. 3). Ob dieser Anwendung gefunden hätte, kann offen gelassen werden, denn an der Hauptverhandlung erschienen unbestrittenermassen weder die Beschuldigte noch ihr Vertreter.
Diese Vorladung konnte der Beschuldigten an den von ihr angegebenen Adressen nicht zugestellt werden, weil sie diese nicht abholte (Urk. 49, 50 und 53). Gemäss Entscheid des Vorderrichters galt die Vorladung als per 15. April 2019 zugestellt (Urk. 53). Daran, dass die Beschuldigte Kenntnis von der Vorladung und vom Datum der Hauptverhandlung haben musste, besteht kein Zweifel: Nicht nur entliess sie ihren korrekt vorgeladenen Verteidiger erst kurz vor der Verhandlung (Urk. 56), musste mit diesem also noch in Kontakt gestanden haben; sie hatte auch bereits am 23. April 2019 telefonischen Kontakt mit der Vorinstanz, bei dem es darum ging, dass sie die Vorladung zur Hauptverhandlung nicht habe abholen können, weil sie keine Zeit gehabt habe. Dabei bestätigte sie auch die Richtigkeit der damaligen Zustelladresse (Urk. 54). Auf weitere Kontaktversuche der Vorinstanz reagierte die Beschuldigte dann offenbar nicht mehr (Urk. 55). Damit ist ohne weiteres von einer korrekt zugestellten Vorladung auszugehen, deren Nichtabholung von der Beschuldigten selbst zu verantworten war. Dennoch sah sich die Vorinstanz veranlasst, am 12. April 2019 eine erneute Vorladungsverfügung zu erlassen, diesmal mit dem Hinweis, die Zustellungsversuche an die Beschuldigte seien nicht erfolgreich gewesen, weshalb ihr das persönliche Erscheinen an der Hauptverhandlung erlassen werde, zumal überdies davon auszugehen sei, dass sie von ihrem Verteidiger vertreten werde. Im Säumnisfalle
mithin wenn sowohl die Einsprecherin als auch ihr Verteidiger - der Hauptverhandlung unentschuldigt fern blieben, würde aufgrund der Akten entschieden (Urk. 51). Ob diese zweite Vorladung der Beschuldigten persönlich je zugestellt werden konnte, geht aus den Akten nicht hervor (Urk. 53 enthält die erste Vorladung). Es ist allerdings zu Gunsten der Beschuldigten davon auszugehen, dass sie sich auf die gerichtliche Säumnisandrohung vom 12. April 2019 verlassen durfte, zumal sie davon durch ihren damaligen Verteidiger erfahren haben könnte. Dem Hauptantrag des Statthalteramts Zürich, den Strafbefehl gegen die Beschuldigte - unter Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils - direkt als rechtskräftig zu bestätigen (Urk. 98 S. 2), kann somit nicht gefolgt werden, stellte dies doch eine massive Verletzung des rechtlichen Gehörs der Beschuldigten dar.
Hingegen macht das Statthalteramt zu Recht geltend, die Dispensation der Beschuldigten durch den Vorderrichter sei in Verletzung von Art. 336 Abs. 3 StPO ergangen, weil die Beschuldigte zum einen nie ein Gesuch um Dispensation gestellt habe und zum andern ihre Befragung an der Hauptverhandlung durchaus angezeigt gewesen wäre (Urk. 98 S. 2). Die blosse Tatsache, dass die Beschuldigte in einem von ihr verursachten Verfahren die Vorladung nicht entgegen nahm, kann nicht dazu führen, die Einsprecherin vom Erscheinen zu dispensieren und so die Rückzugsfiktion gemäss Art. 356 Abs. 4 StPO zu umgehen. Auch die Vorinstanz geht denn von einem unentschuldigten Fernbleiben der Beschuldigten aus (Urk. 94 S. 4). Es fragt sich, ob von einem solchen überhaupt gesprochen werden kann, wenn der Beschuldigten das Erscheinen ja freigestellt war: Wer nicht zu erscheinen braucht, muss sich auch nicht beim Gericht entschuldigen. Zu Recht hielt die Vorinstanz unter Verweis auf das Bundesgerichtsurteil Nr. 6B_7/2017 vom 5. Mai 2017 zwar fest, dass das Abwesenheitsverfahren und das Einspracheverfahren nur alternativ und nicht kumulativ durchgeführt werden könnten (Urk. 94 S. 4). Ein Abwesenheitsverfahren findet bei unentschuldigt abwesenden Einsprechern nicht statt (BSK, StPO, 2. A., N 5 zu Art. 356). Dies bedeutet indes nicht, dass bei unentschuldigtem Fernbleiben einfach aufgrund der Akten zu entscheiden wäre, wie die Vorinstanz dies tat. Vielmehr greift dann
auch gemäss dem zitierten Bundesgerichtsentscheid (a.a.O. Erw. 1.5. a.E.) - die Rückzugsfiktion gemäss Art. 356 Abs. 4 StPO. Zwar könnte sich die beschuldigte Person auf ihr Gesuch hin vom persönlichen Erscheinen dispensieren lassen, wenn wichtige Gründe geltend gemacht würden und ihre Anwesenheit nicht erforderlich wäre. (Nur) In diesem Fall könnte sie sich an der Hauptverhandlung auch von einem Verteidiger vertreten lassen und müsste nicht selbst erscheinen
(a.a.O. Erw. 1.3.). All dies war im vorliegenden Verfahren jedoch nicht der Fall. Die Vorinstanz hat somit ein Verfahren durchgeführt, welches im Gesetz so nicht vorgesehen ist.
Weist das erstinstanzliche Verfahren wesentliche Mängel auf, die im Berufungsverfahren nicht geheilt werden können, hebt das Berufungsgericht das angefochtene Urteil auf und weist die Sache zur Durchführung einer neuen Hauptverhandlung und Entscheidfällung an das erstinstanzliche Gericht zurück (Art. 409 Abs. 1 und 2 StPO). Die Durchführung eines nicht im Gesetz vorgesehenen erstinstanzlichen Verfahrens kann nicht im Berufungsverfahren geheilt werden. Der vorinstanzliche Entscheid ist daher aufzuheben und das Verfahren im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückzuweisen. Das vorliegende Berufungsverfahren ist als dadurch erledigt abzuschreiben, wobei die Kosten des Berufungsverfahrens auf die Gerichtskasse zu nehmen sind.
Es wird beschlossen:
Das Verfahren gegen die Beschuldigte A.
wird vom Verfahren
SU190025 abgetrennt und unter der Prozessnummer SU190043 fortgeführt. Die bisherigen Akten im Verfahren SU190025 (Urk. 1-122) werden in diesem Verfahren beigezogen.
Das Urteil des Bezirksgerichts Zürich, 10. Abt. - Einzelgericht, vom 8. Mai
2019 gegen die Beschuldigte A.
wird aufgehoben und der Prozess im
Sinne der Erwägungen zur Durchführung einer neuen Hauptverhandlung und Entscheidfällung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
Das Berufungsverfahren SU190043 wird als dadurch erledigt abgeschrieben. Die Ladung für die Berufungsverhandlung vom 13. Januar 2020 wird abgenommen (im Verfahren gegen A. ).
Die Kosten dieses Berufungsverfahrens werden auf die Gerichtskasse genommen.
Schriftliche Mitteilung an
die Beschuldigte A.
das Statthalteramt des Bezirks Zürich
die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich
sowie nach unbenütztem Ablauf der Rechtsmittelfrist resp. Erledigung allfälliger Rechtsmittel an
die Vorinstanz (unter Rücksendung der Akten)
Gegen diesen Entscheid kann unter den einschränkenden Voraussetzungen von Art. 93 des Bundesgerichtsgesetzes bundesrechtliche Beschwerde in Strafsachen erhoben werden.
Die Beschwerde ist innert 30 Tagen, von der Zustellung der vollständigen, begründeten Ausfertigung an gerechnet, bei der Strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichtes (1000 Lausanne 14) in der in Art. 42 des Bundesgerichtsgesetzes vorgeschriebenen Weise schriftlich einzureichen.
Die Beschwerdelegitimation und die weiteren Beschwerdevoraussetzungen richten sich nach den massgeblichen Bestimmungen des Bundesgerichtsgesetzes.
Obergericht des Kantons Zürich
I. Strafkammer Zürich, 11. Dezember 2019
Der Präsident:
lic. iur. S. Volken
Die Gerichtsschreiberin:
MLaw A. Donatsch
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