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Urteil Obergericht des Kantons Zürich (ZH)

Zusammenfassung des Urteils SB230216: Obergericht des Kantons Zürich

Die ProLitteris, eine Schweizer Genossenschaft für Urheberrechte, forderte von Herrn A______ Zahlungen gemäss genehmigten Tarifen für die Jahre 2013 bis 2017. Herr A______ reagierte nicht auf Mahnungen und Klagen, weshalb das Gericht zugunsten von ProLitteris entschied. Die Gerichtskosten in Höhe von 300 CHF wurden Herrn A______ auferlegt, und er wurde verpflichtet, ProLitteris 300 CHF für Anwaltskosten zu zahlen. Das Gerichtsurteil wurde am 18. Juni 2019 von Richter Ivo Buetti gefällt.

Urteilsdetails des Kantongerichts SB230216

Kanton:ZH
Fallnummer:SB230216
Instanz:Obergericht des Kantons Zürich
Abteilung:II. Strafkammer
Obergericht des Kantons Zürich Entscheid SB230216 vom 03.10.2023 (ZH)
Datum:03.10.2023
Rechtskraft:-
Leitsatz/Stichwort:Grobe Verletzung der Verkehrsregeln
Schlagwörter : Beschuldigte; Beschuldigten; Einvernahme; Urteil; Person; Polizei; Verfahren; Verfahrens; Verfahren; Berufung; Fahrzeug; Geschwindigkeit; Lenker; Staatsanwaltschaft; Polizeirapport; Beginn; Geschwindigkeitsüberschreitung; Verteidigung; Verkehrsregelverletzung; Personen; Zeitpunkt; Abteilung; Sinne; Vorverfahren; Dispositiv; Akten; Gerichtskasse; Sachverhalt; Verfahrens
Rechtsnorm:Art. 10 StPO ;Art. 141 StPO ;Art. 158 StPO ;Art. 27 SVG ;Art. 32 BV ;Art. 391 StPO ;Art. 402 StPO ;Art. 428 StPO ;Art. 90 SVG ;
Referenz BGE:119 Ib 12; 141 IV 20;
Kommentar:
-

Entscheid des Kantongerichts SB230216

Obergericht des Kantons Zürich

II. Strafkammer

Geschäfts-Nr.: SB230216-O/U/ad

Mitwirkend: Oberrichter lic. iur. Spiess, Präsident, Oberrichterin lic. iur. Ohnjec und Ersatzoberrichter lic. iur. Weder sowie Gerichtsschreiberin MLaw Blumer

Urteil vom 3. Oktober 2023

in Sachen

A. ,

Beschuldigter und Berufungskläger

ab 4. August 2023 amtlich verteidigt durch Rechtsanwalt Dr. iur. X. ,

gegen

Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat,

Anklägerin und Berufungsbeklagte

betreffend grobe Verletzung der Verkehrsregeln

Berufung gegen ein Urteil des Bezirksgerichtes Zürich, 10. Abteilung Einzelgericht, vom 26. Januar 2023 (GG220297)

Anklage:

Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat vom 31. Oktober 2022 (Urk. 13) ist diesem Urteil beigeheftet.

Urteil der Vorinstanz:

(Urk. 29 S. 17 ff. = Urk. 32 S. 17 ff.)

  1. Der Beschuldigte ist schuldig der vorsätzlichen groben Verletzung der Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG i.V.m. Art. 27 Abs. 1 SVG, Art. 4a Abs. 1 lit. a VRV und Art. 22 Abs. 1 SSV.

  2. Der Beschuldigte wird bestraft mit einer Freiheitsstrafe von 10 Monaten sowie einer Busse von Fr. 500.

  3. Der Vollzug der Freiheitsstrafe wird aufgeschoben und die Probezeit auf 2 Jahre festgesetzt. Die Busse ist zu bezahlen.

  4. Bezahlt der Beschuldigte die Busse schuldhaft nicht, so tritt an deren Stelle eine Ersatzfreiheitsstrafe von 5 Tagen.

  5. Die Entscheidgebühr wird angesetzt auf:

    CHF 2'000; die weiteren Kosten betragen: CHF 1'100 gebühr für das Vorverfahren Allfällige weitere Auslagen bleiben vorbehalten.

  6. Die Kosten der Untersuchung und des gerichtlichen Verfahrens werden dem Beschuldigten auferlegt.

  7. Es wird keine Entschädigung zugesprochen.

BerufungsAnträge:

  1. Des amtlichen Verteidigers des Beschuldigten: (Urk. 34 S. 2, Urk. 45 S. 2)

    Unter Aufhebung der Ziff. 1, 2, 3, 4 sowie 6 und 7 des Erkenntnisses im Dispositiv des Urteils des Bezirksgerichts Zürich vom 26. Januar 2023 (Geschöfts-Nr.: GG220297-L) und der zuGehörigen Erwägungen sei(en)

    1. Der Polizeirapport vom 24. Mai 2022 (act. 1) sowie die Polizeiliche Befragung von A. vom 24. Mai 2022 (act. 2) aus den Akten zu entfernen und zu versiegeln;

    2. A. freizusprechen;

    3. Die Kosten des Verfahrens auf die Gerichtskasse zu nehmen und

    4. A. sei aus dieser Kasse für seinen entstandenen Verteidigungsaufwand eine Entschädigung zu Gewähren.

  2. Der Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat: (sinngemäss)

Bestätigung des vorinstanzlichen Urteils.

Erwägungen:

  1. Verfahrensgang
    1. Der Beschuldigte wurde mit Urteil des Bezirksgerichts Zürich, 10. Abteilung

      ? Einzelgericht, vom 26. Januar 2023 gemäss dem eingangs erwähnten Urteils- dispositiv schuldig gesprochen. Das Urteil wurde gleichentags Mändlich eröffnet und im Dispositiv übergeben (Prot. I S. 12). Mit Eingabe vom 26. Januar 2023

      liess der Beschuldigte innert Frist Berufung anmelden (Urk. 27). Die Berufungserklürung liess er ebenfalls rechtzeitig mit Eingabe vom 19. April 2023 einreichen (Urk. 31/2 und Urk. 34).

    2. Die mit präsidialVerfügung vom 20. April 2023 angesetzte Frist zur Erklärung der Anschlussberufung zur Einreichung eines Nichteintretensantrags liess die Staatsanwaltschaft ungenutzt verstreichen (Urk. 35). Sodann wurden die Parteien zur Berufungsverhandlung auf den 3. Oktober 2023 vorgeladen (Urk. 37).

    3. Auf entsprechenden Antrag des Beschuldigten vom 4. August 2023 und nach nachträglicher Darlegung seiner finanziellen Verhältnisse mit Eingabe vom

    29. August 2023 (Urk. 38 und Urk. 41-42/2) wurde der zu Beginn als erbetener

    Verteidigter fungierende Rechtsanwalt Dr. iur. X.

    mit präsidialVerfügung

    vom 12. September 2023 (ab 4. August 2023) als amtlicher Verteidiger eingesetzt

    (Urk. 43).

    4. Zur Berufungsverhandlung erschien der Beschuldigte in Begleitung seines amtlichen Verteidigers (Prot. II S. 5).

  2. Prozessuales
    1. Gemäss Art. 402 StPO hat die Berufung im Umfang der Anfechtung aufschiebende Wirkung. Die Rechtskraft des angefochtenen Urteils wird somit im Umfang der BerufungsAnträge gehemmt, während die von der Berufung nicht erfassten Punkte in Rechtskraft erwachsen (J ürG B?HLER, in: Basler Kommentar, Strafprozessordnung, 3. Aufl. 2023, N 1 f. zu Art. 402 StPO).

    2. Gegen das vorinstanzliche Urteil wurde vorliegend nur seitens des Beschul- digten ein Rechtsmittel erhoben. Der Beschuldigte beantragt einen Freispruch unter entsprechenden Kosten- und Entschädigungsfolgen und ficht damit Dispositiv- Ziffern 1 bis 4 sowie 6 des vorinstanzlichen Urteils an. Nicht angefochten wurde einzig die Kostenfestsetzung gemäss Dispositiv-Ziffer 5 (Urk. 34). Insoweit ist das Urteil des Bezirksgerichts Zürich, 10. Abteilung Einzelgericht, vom 26. Januar 2023 in Rechtskraft erwachsen, was vorab mit Beschluss festzustellen ist. Im ?b-

    rigen steht der Entscheid unter Vorbehalt des Verschlechterungsverbots im Sinne von Art. 391 Abs. 2 StPO zur Disposition.

  3. Sachverhalt und rechtliche Würdigung

1. Vorwurf

In der Anklage vom 31. Oktober 2022 wird dem Beschuldigten vorgeworfen, am

27. März 2023 um 15.12 Uhr als Lenker des Personenwagens Mercedes-Benz mit dem Kontrollschild ZH1 auf der B. -strasse, Höhe Hausnummer 2, in Zürich, Fahrtrichtung stadtauswürts, innerorts die signalisierte Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h nach Abzug der tolerierten Messunsicherheit um 48 km/h überschritten zu haben (Urk. 13).

  1. Beweismittel

    1. Polizeiliche Einvernahme vom 24. Mai 2022 (Urk. 2)

      1. Anlässlich der Berufungsverhandlung wie auch bereits im Rahmen des Vorverfahrens und vor Vorinstanz beanstandete der Verteidiger eine fehlende rechtsgenügende Belehrung des Beschuldigten über den Gegenstand des Strafverfahrens zu Beginn der ersten Einvernahme vom 24. Mai 2022. Der Tatvorhalt sei entgegen einer entsprechenden Vorschrift in Art. 158 Abs. 1 lit. a StPO zu Beginn der Einvernahme weder inhaltlich noch ürtlich zeitlich konkretisiert wor- den. Ihm sei lediglich ein rechtlicher Vorhalt, Nämlich der Vorwurf einer groben Verkehrsregelverletzung, gemacht worden. Anschliessend seien mehrere inhaltliche Fragen gestellt worden, die offensichtlich darauf bezogen gewesen seien, den Beschuldigten als Fahrer des Fahrzeugs zu identifizieren. Erst danach sei dem Beschuldigten eröffnet worden, dass mit dem entsprechenden Fahrzeug eine Geschwindigkeitsüberschreitung begangen worden war. Die Angabe über die Höhe der Geschwindigkeitsüberschreitung sei erst nach weiteren Zwischenfragen und belastenden Antworten des Beschuldigten erfolgt. Gerade im vorliegenden Fall, indem aufgrund der gemessenen Geschwindigkeit ein absoluter Grenzfall zum Raserdelikt im Sinne von Art. 90 Abs. 3 SVG vorliege, sei die Kenntnis der Höhe der Geschwindigkeitsüberschreitung für die Wahrnehmung seiner Verteidi-

        gungsrechte essenziell gewesen. Die stückweise Offenbarung des vorgeworfenen Sachverhalts, womit sich der Beschuldigte selbst derart stark belastet habe, dass er von der Belastung nicht mehr glaubhaft habe abweichen können, sei mit einer fairen Verfahrensführung nicht vereinbar. Im Ergebnis sei das Einvernahmeprotokoll insgesamt als Beweismittel nicht verwertbar, aus den Akten zu entfernen und unter separaten Verschluss zu nehmen (Urk. 6/5 S. 4, Urk. 24 S. 3 ff., Urk. 45 S. 3 ff.).

      2. Im Allgemeinen muss die einzuvernehmende Person zu Beginn der Einvernahme in einer ihr Verständlichen Sprache namentlich über den Gegenstand des Strafverfahrens und die Eigenschaft, in der sie einvernommen wird, informiert sowie umfassend über ihre Rechte und Pflichten belehrt werden (Art. 143 Abs. 1 lit. b und c StPO). Wird die beschuldigte Person zum ersten Mal einvernommen, so muss sie darüber hinaus von der Polizei Staatsanwaltschaft zu Beginn unter anderem darauf hingewiesen werden, dass gegen sie ein Vorverfahren eingeleitet worden ist und welche Straftaten Gegenstand des Verfahrens bilden (Art. 158 Abs. 1 lit. a StPO). Die Belehrungspflichten sind Elemente der Verfahrensfairness von Art. 6 Ziff. 1 EMRK, der Aufklürungspflicht nach Art. 6 Ziff. 3 EMRK und Art. 32 Abs. 2 BV und der Fürsorgepflicht des Staates gegenüber beschuldigten Personen, namentlich zur Absicherung der Verteidigungsrechte (N I- KLAUS RUCKSTUHL, in: Basler Kommentar Strafprozessordnung, 3. Aufl. 2023, N 3c zu Art. 158 StPO). Daneben hat der Hinweis nach Art. 158 Abs. 1 lit. a StPO die Funktion, den Prozessgegenstand festzulegen. Massgeblich ist die Tathypothese, mit der die StrafverfolgungsBehörde gegenüber der beschuldigten Person arbeitet, auch wenn sie diese erst bruchstückhaft beweisen kann (GUNHILD GODENZI, in: Schweizerische Strafprozessordnung, 3. Aufl. 2020, N 20 zu Art. 158 StPO). In diesem frühen Verfahrensstadium muss die Verdachts- und Beweislage noch nicht in allen Details bekannt gegeben werden. Eine gewisse Verallgemeinerung ist zulässig (BGE 119 Ib 12 E. 5c m.w.H.; NIKLAUS OBERHOLZER, Grundzüge des Strafprozessrechts, 4. Aufl. 2020, N 637). Die Information hat zu Beginn der ersten Einvernahme aber doch in einer Weise zu erfolgen, die es der beschuldigten Person zumindest ermöglicht, die ihr zur Last gelegten Straftaten zu identifizieren und sich entsprechend zu verteidigen (Urteil des Bundesgerichts 6B_1059/2019

        vom 10. November 2020 E. 1.3; DANIEL JOSITSCH/NIKLAUS SCHMID, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts, 4. Aufl. 2023, N 862; GODENZI, a.a.O., N 21 zu Art. 158 StPO m.w.H.). Vorzuhalten ist folglich der gesamte Verfahrensgegenstand, der die äusseren Umstände der Straftat hinsichtlich Ort, Zeit und Tatumstände umfasst (BGE 141 IV 20 E. 1.3.3; JOSITSCH/SCHMID, a.a.O., N 862). Der

        Hinweis auf den Gegenstand des Verfahrens im Verlauf der Einvernahme genügt nicht (Urteil des Bundesgerichts 6B_1214/2019 vom 1. Mai 2020 E. 1.3.1). Einvernahmen ohne die gesetzlichen Hinweise sind nicht verwertbar (vgl. Art. 158 Abs. 2 StPO).

      3. Anstelle der zur ersten polizeilichen Einvernahme vom 24. Mai 2022 vorgeladenen Halterin des Personenwagens Mercedes Benz AMG G 63, ZH 1, C. (Urk. 5/1) ist ihr Lebenspartner, der Beschuldigte, zur Einvernahme erschienen. Dies, nachdem er am 18. Mai 2022 telefonisch bei der Polizei angerufen und mitgeteilt hatte, dass er zur Einvernahme vom 24. Mai 2022 erscheinen werde. Mit grosser Wahrscheinlichkeit sei er der Lenker gewesen (vgl. dazu nachfolgend E. 2.2.). Zu Beginn der Einvernahme in Frage 1 wurde er darüber informiert, dass gegen ihn ein Vorverfahren wegen grober Verkehrsregelverletzung eingeleitet worden sei und er als beschuldigte Person zuhanden der Staatsanwaltschaft einvernommen werde. Hernach wurde er über seine Rechte und Pflichten nach Art. 158 Abs. 1 lit. b-d StPO informiert (Urk. 2 F/A 2-4). In den darauf folgenden zwei Fragen wurde zuerst auf die Halter-Lenker-Frage in Bezug auf den besagten Personenwagen eingegangen. Der Beschuldigte bestätigte seine Lebenspartnerin als Halterin des Fahrzeugs (Urk. 2 F/A 5). Auf die Frage, wer das erwähnte Fahrzeug mehrheitlich lenke, gab er an, dass jetzt, wo sie gesundheitlich angeschlagen sei, eigentlich nur er damit fahre (Urk. 2 F/A 6). Darauf folgte der Tatvorhalt, wonach am Sonntag, 27. März 2022, 15.12 Uhr mit dem erwähnten Personenwagen, in ... Zürich ..., B. -strasse 2, Fahrtrichtung stadtauswürts, die Geschwindigkeit überschritten worden sei. Der Beschuldigte wurde gefragt, wer das Fahrzeug zum fraglichen Zeitpunkt gelenkt habe. Er gab zur Antwort, dass wahrscheinlich er gefahren sei. Er glaube, dass er dort seine Tochter zu einer Kollegin habe bringen müssen. Er sei sicher gefahren (Urk. 2 F/A 7). So- dann befragte die Polizei den Beschuldigten über die Anzahl und den Aufbewahrungsort des Zündschlüssels und über Allfällige vorbestehende Sanktionen des Strassenverkehrsamts gegen ihn (Urk. 2 F/A 8-10). Danach folgte der Vorhalt der konkreten Geschwindigkeitsüberschreitung von 48 km/h in einer Höchstgeschwindigkeitszone von 50 km/h und die Frage, ob er den Sachverhalt und den Straftatbestand anerkenne. Nachdem der Beschuldigte zur Antwort gab, nichts anerkennen zu können, ohne ein entsprechendes Radarfoto gesehen zu haben (Urk. 2 F/A 11), wurde ihm dieses auf dem Bildschirm der einvernehmenden Person gezeigt. Daraufhin bestätigte der Beschuldigte, sich als Lenker zu erkennen (Urk. 2 F/A 13). Anschliessend erfolgten Fragen zu den Gründen der Fahrt bzw. der Geschwindigkeitsüberschreitung.

      4. Zu Beginn der ersten Einvernahme wurde der Beschuldigte lediglich dar- über informiert, dass gegen ihn ein Vorverfahren wegen grober Verkehrsregelverletzung gefährt werde. Gleich darauf wurde er mit Fragen zur Halter-

        /Lenkereigenschaft konfrontiert dies, obschon aus dem Telefonat vom 18. Mai 2022 bereits bekannt war, dass mehrheitlich der Beschuldigte das Fahrzeug lenkte. Erst nachdem er sich (erneut) als Lenker des Fahrzeugs identifizieren liess, wurde er über die Tathandlung (Geschwindigkeitsüberschreitung) sowie über den Tatort und die Tatzeit informiert. Zu dem Zeitpunkt, als der Beschuldigte angab, dass nur er mit dem Fahrzeug fahre, kannte er also lediglich den pauschalen rechtlichen Vorhalt der groben Verkehrsregelverletzung (Urk. 2 F/A 1 und 6). Als er angab, zum fraglichen Zeitpunkt gefahren zu sein, er habe seine Tochter zu ei- ner Kollegin bringen müssen, war er zwar in Kenntnis davon, dass es sich um ei- ne Geschwindigkeitsüberschreitung handelte, wusste aber nach wie vor nicht, welche konkrete Höhe ihm zur Last gelegt wurde (Urk. 2 F/A 7). Dennoch hatte er bereits ausreichend selbstbelastende Aussagen gemacht, von denen er kaum mehr glaubhaft hätte abweichen können. So gab er auch auf Vorhalt der konkreten Geschwindigkeitsüberschreitung sowie des Laserfotos (Urk. 4) auf dem die lenkende Person nicht zu erkennen ist an, sich auf dem Foto zu erkennen (Urk. 2 F/A 11 und 13).

      5. Mit anderen Worten wurde dem Beschuldigten zu Anfang der Einvernahme lediglich eine pauschale rechtliche Würdigung vorgehalten, womit er sich insbe-

        sondere als juristischer Laie kein Bild über die ihm vorzuwerfende Tat machen konnte. Erst im Verlauf der Befragung ergab sich für den Beschuldigten der konkrete Gegenstand des Verfahrens dies nachdem er bereits wiederholt selbstbelastend ausgesagt hatte. Durch die stückweise Offenbarung des Tatvorwurfs wur- de der Beschuldigte dazu verleitet, ein Geständnis in Raten abzugeben, das er im Verlauf der Befragung nicht mehr zurücknehmen konnte. Dieses Vorgehen widerspricht den Grundsätzen eines fairen Verfahrens. überdies wurde es dem Beschuldigten dadurch verunmöglicht, sich eine wirksame Verteidigungsstrategie zu überlegen. Ausserdem bleibt die Frage offen, ob der Beschuldigte überhaupt ausgesagt hätte, wäre er von Anfang an über die Höhe der Geschwindigkeitsüberschreitung informiert gewesen. Dabei kann der Erwägung der Vorinstanz, wonach der Beschuldigte durch die Vorladung vom 16. Mai 2022 (Urk. 5/1) über den Gegenstand des Verfahrens vorinformiert gewesen sei, nicht gefolgt werden. Einerseits ist weder dargelegt noch erwiesen, dass der Beschuldigte Kenntnis über den Inhalt der Vorladung hatte. Andererseits wurde der Gegenstand des Verfahrens auch in der Vorladung nur rudimenTür widergegeben (Verkehrsregelverletzung mit dem Personenwagen, ZH1 vom 27.03.2022, 15.12 Uhr, in der Stadt Zürich, vgl. Urk. 5/1). Eine Verkehrsregelverletzung [...] in der Stadt Zürich hätte Vieles sein können und ist damit zu wenig konkretisiert.

      6. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Beschuldigte zu Beginn sei- ner ersten Einvernahme vom 24. Mai 2022 nicht ausreichend über den Gegenstand des Verfahrens orientiert wurde. Die Anforderungen von Art. 158 Abs. 1 lit. a StPO sind damit nicht eingehalten worden, weshalb die Einvernahme nicht verwertbar ist (Art. 158 Abs. 2 StPO). In der Folge ist das Einvernahmeprotokoll aus den Akten zu entfernen, bis zum rechtsKräftigen Abschluss des Verfahrens unter separatem Verschluss zu halten und danach zu vernichten (Art. 141 Abs. 5 StPO).

    2. Polizeirapport vom 24. Mai 2022 (Urk. 1 S. 2)

      1. Im Vorverfahren, vor Vorinstanz und auch anlässlich der Berufungsverhandlung beanstandete der Verteidiger weiter, die Polizei sei im telefonischen Kontakt mit dem Beschuldigten am 18. Mai 2022 ihrer Belehrungspflicht nicht

        nachgekommen. Sie habe den Beschuldigten nicht darauf hingewiesen, sich nicht selbst belasten zu müssen und ein Zeugnisverweigerungsrecht in Bezug auf sei- ne Lebenspartnerin zu haben. Folglich sei auch der Polizeirapport vom 24. Mai 2022 nicht verwertbar (Urk. 6/5 S. 4, Urk. 24 S. 5, Urk. 45 S. 7).

      2. Die StrafverfolgungsBehörden können auch im Rahmen informeller Gespräche Befragungen zu Erkenntnissen kommen, die sie in der Folge verwenden wollen. Stammen die Ausführungen von einer Person zu einem Zeitpunkt, in welchem sie bereits eine mutmassliche Rolle im Verfahren hat, dürfen die Erkenntnisse nur in der dafür vorgesehenen Form erhoben und zu den Akten genommen werden. Entscheidend ist, ob die äusserung von einer StrafverfolgungsBehörde provoziert wurde nicht. Jedenfalls kann gültig nur auf das Selbstbelastungsprivileg verzichtet werden, wenn vorgängig darüber informiert wurde (R UCKSTUHL, a.a.O., N 7 zu Art. 158 StPO). Keine hinweispflichtige Einver- nahme im Sinne von Art. 142 ff. und Art. 158 ff. StPO liegt bei informatorischen Befragungen vor, die der Abklärung dienen, ob überhaupt ein konkreter Tatver- dacht besteht und/oder gegen wen als beschuldigte Person zu ermitteln ist (GODENZI, a.a.O., N 39 zu Art. 158 StPO).

      3. Aus dem Polizeirapport vom 24. Mai 2022 ergeht, dass der Beschuldigte am 18. Mai 2022 telefonisch bei der rapportierenden Polizeibeamtin angerufen habe und genauere Angaben habe wissen wollen. Das Fahrzeug würden nur er und seine Lebenspartnerin benutzen. Diese könne krankheitsbedingt in letzter Zeit das Fahrzeug nicht mehr fahren. Zur Einvernahme am 24. Mai 2022 werde er erscheinen, da mit grosser Wahrscheinlichkeit er der Lenker gewesen sei (Urk. 1 S. 2).

      4. Im Rapport der Stadtpolizei vom 24. Mai 2022 wird namentlich die selbstbelastende Aussage des Beschuldigten vom 18. Mai 2022 zu den Akten genommen, wonach er zum fraglichen Zeitpunkt mit grosser Wahrscheinlichkeit der Lenker gewesen sei. Aus dem Rapport ergeht jedoch nicht, ob es sich dabei um eine Spontanäusserung des Beschuldigten handelte. Eindeutig ist jedoch, dass dem Beschuldigten vor seinem Anruf vom 18. Mai 2022 noch keine Rolle im betreffen- den Strafverfahren zugeteilt war. Insofern diente die informatorische Erkenntnis

über die mögliche Lenkereigenschaft des Beschuldigten der Abklärung, gegen wen als beschuldigte Person zu ermitteln ist. Eine hinweis- und belehrungspflichtige Einvernahmesituation ist nicht erkennbar. Damit ist der Polizeirapport vom

24. Mai 2022 als Beweismittel verwertbar (Art. 158 Abs. 2 StPO e contrario).

  1. Sachverhaltserstellung

    1. Der Beschuldigte ist nicht gestündig, weshalb zunächst der objektive Sachverhalt zu erstellen ist. Dafür liegen folgende Beweismittel im Recht: Der Polizeirapport vom 24. Mai 2022 (Urk. 1), das Einvernahmeprotokoll der Staatsanwaltschaft vom 8. September 2022 (Urk. 3) und dasjenige der vorinstanzlichen Hauptverhandlung vom 26. Januar 2023 (Prot. I S. 7 ff.) sowie der Radarfotobogen vom

27. März 2022 (Urk. 4) mit den dazuGehörigen Unterlagen zur Messtauglichkeit der Laseranlage (Urk. 18-20).

      1. Aus dem Polizeirapport vom 24. Mai 2022 ergeht die telefonische Aussage des Beschuldigten gegenüber der rapportierenden Polizeibeamtin, dass nur seine Lebenspartnerin er das Fahrzeug benutzen würden und erstere in letzter Zeit krankheitsbedingt nicht mit dem Fahrzeug fahre. Sie könne wegen ihrer Krankheit nicht zur Einvernahme erscheinen, er werde jedoch den Termin wahrnehmen, da mit grosser Wahrscheinlichkeit er der Lenker gewesen sei (Urk. 1 S. 2). Dem Polizeirapport kommt grundsätzlich Beweiswert zu (Urteil des Bundesgerichts 6B_1057/2013 vom 19. Mai 2014 E. 2.3), der im Rahmen der BeweisWürdigung konkret zu bestimmen ist (vgl. Art. 10 Abs. 2 StPO). Vorliegend beruht die Aussage des Beschuldigten einzig auf der Wahrnehmung der rapportierenden Polizeibeamtin. Der Beschuldigte konnte sich zur Rapportierung nicht äussern. überdies war er zum Zeitpunkt des Telefonats am 18. Mai 2022 nicht über den Gegenstand des Verfahrens informiert, weshalb seine Angabe, vermutlich der Lenker gewesen zu sein, generell und nicht tatbezogen zu verstehen ist. Entsprechend kann gestätzt auf den Polizeirapport vom 24. Mai 2022 (Urk. 1) die täterschaft des Beschuldigten nicht erstellt werden.

      2. Im Rahmen der staatsanwaltschaftlichen und der vorinstanzlichen Einver- nahme vom 8. September 2022 respektive vom 26. Januar 2023 verweigerte der

        Beschuldigte Aussagen zur Sache (Urk. 3 F/A 4-27, Prot. I S. 9 f.), was nicht zu seinen Lasten ausgelegt werden darf.

      3. Auf dem Radarfotobogen vom 27. März 2022 (Urk. 4) ist zu erkennen, wie der Personenwagen Mercedes-Benz mit dem Kontrollschild ZH1 auf der B. -strasse in Zürich stadtauswürts in einer Höchstgeschwindigkeitszone von 50 km/h mit einer Geschwindigkeit von 102 km/h fuhr. Zudem ergibt sich aus den in den Akten liegenden Dokumenten zur Messtauglichkeit der Laseranlage, dass diese zum fraglichen Zeitpunkt einwandfrei funktionierte (Urk. 18-20). Da auf den Fotos jedoch die lenkende Person nicht zu erkennen ist, kann die täterschaft des Beschuldigten auch anhand dieser nicht erstellt werden.

3.2. Im Ergebnis kann der objektive Sachverhalt gemäss Anklageschrift mit den vorhandenen Beweismitteln nicht erstellt werden. In der Folge ist der Beschuldigte der groben Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG nicht schul- dig und ist freizusprechen.

IV. Kosten- und Entschädigungsfolgen
  1. In Anbetracht dessen, dass der Beschuldigte mit seinen Berufungsbegehren vollumfänglich obsiegt und vom Anklagevorwurf freizusprechen ist, sind die Kosten der Untersuchung und des Gerichtsverfahrens beider Instanzen auf die Gerichtskasse zu nehmen. Die zweitinstanzliche Entscheidgebühr fällt ausser Ansatz (Art. 426 Abs. 2 und Art. 428 Abs. 1 StPO).

  2. Der seitens der amtlichen Verteidigung geltend gemachte Aufwand von Fr. 1'210 für das zweitinstanzliche Gerichtsverfahren ist ausgewiesen und erscheint angemessen (Urk. 46). Es rechtfertigt sich daher, Rechtsanwalt Dr. iur. X. für seine Aufwendungen im Berufungsverfahren pauschal und gesamthaft mit Fr. 1'300 (inkl. Auslagen und MwSt.) zu entschädigen. Die entsprechenden Kosten sind auf die Gerichtskasse zu nehmen.

  3. darüber hinaus steht dem Beschuldigten für die Kosten seiner erbetenen Verteidigung im Strafverfahren ausgangsgemäss eine Parteientschädigung zu (Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO). Ihm ist daher für die angemessene Ausübung seiner

Verfahrensrechte im Rahmen der Untersuchung und des erstinstanzlichen Gerichtsverfahrens eine Prozessentschädigung von Fr. 3'524.05 aus der Gerichtskasse zusprechen (Art. 429 Abs. 1 lit. a StPO, 17 lit. a AnwGebV und Urk. 25).

Es wird beschlossen:

  1. Es wird festgestellt, dass das Urteil des Bezirksgerichts Zürich, 10. Abteilung

    ? Einzelgericht, vom 26. Januar 2023 bezüglich der Dispositivziffer 5 (Kostenfestsetzung) in Rechtskraft erwachsen ist.

  2. Mändliche Eröffnung und schriftliche Mitteilung mit nachfolgendem Urteil.

Es wird erkannt:

  1. Der Beschuldigte A.

    ist der groben Verletzung der Verkehrsregeln im

    Sinne von Art. 90 Abs. 2 SVG nicht schuldig und wird freigesprochen.

  2. Die zweitinstanzliche Gerichtsgebühr fällt ausser Ansatz. Die weiteren Kosten betragen Fr. 1'300 für die amtliche Verteidigung.

  3. Die Kosten der Untersuchung und des Gerichtsverfahrens beider Instanzen, einschliesslich derjenigen der amtlichen Verteidigung, werden auf die Gerichtskasse genommen.

  4. Dem Beschuldigten wird für die Untersuchung und für das erstinstanzliche Gerichtsverfahren eine Prozessentschädigung von Fr. 3'524.05 aus der Gerichtskasse zugesprochen.

  5. Mändliche Eröffnung und schriftliche Mitteilung im Dispositiv an

    • die amtliche Verteidigung im Doppel für sich und zuhanden des Beschuldigten (übergeben)

    • die Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat sowie in vollständiger Ausfertigung an

    • die amtliche Verteidigung im Doppel für sich und zuhanden des Beschuldigten

    • die Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat

      und nach unbenütztem Ablauf der Rechtsmittelfrist bzw. Erledigung allfälliger Rechtsmittel an

    • die Vorinstanz

    • das Migrationsamt des Kantons Zürich

    • die Kantonspolizei Zürich, KDM-ZD, mit separatem Schreiben ( 54a Abs. 1 PolG)

    • das Strassenverkehrsamt des Kantons Zürich, Abteilung Administrativmassnahmen, 8090 Zürich (PIN 3)

    • die Koordinationsstelle VOSTRA/DNA zur Entfernung der Daten gemäss Art. 12 Abs. 1 lit. d VOSTRA mittels Kopie von Urk. 33.

  6. Rechtsmittel:

Gegen diesen Entscheid kann bundesrechtliche Beschwerde in Strafsachen erhoben werden.

Die Beschwerde ist innert 30 Tagen, von der Zustellung der vollständigen, begründeten Ausfertigung an gerechnet, bei den Strafrechtlichen Abteilungen des Bundesgerichtes (1000 Lausanne 14) in der in Art. 42 des Bundesgerichtsgesetzes vorgeschriebenen Weise schriftlich einzureichen.

Die Beschwerdelegitimation und die weiteren Beschwerdevoraussetzungen richten sich nach den massgeblichen Bestimmungen des Bundesgerichtsgesetzes.

Obergericht des Kantons Zürich

II. Strafkammer Zürich, 3. Oktober 2023

Der Präsident:

Oberrichter lic. iur. Spiess

Die Gerichtsschreiberin:

MLaw Blumer

Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.

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