Kanton: | ZH |
Fallnummer: | SB190317 |
Instanz: | Obergericht des Kantons Zürich |
Abteilung: | II. Strafkammer |
Datum: | 18.10.2019 |
Rechtskraft: | Weiterzug ans Bundesgericht, 6B_1365/2019 |
Leitsatz/Stichwort: | Missachtung der Ein- oder Ausgrenzung |
Schlagwörter : | Schuldig; Beschuldigte; Eingrenzung; Beschuldigten; Gemeinde; Verteidigung; Eingrenzungsgebiet; Migration; Verfahren; Berufung; Urteil; Rückführung; Recht; Eingrenzungsgebiets; Kantons; Amtlich; Karte; Amtliche; Ausgrenzung; Einoder; Missachtung; Migrationsamt; Bahnhof; Rückführungsrichtlinie; Verfahren; Gemeindegebiet; Grenzverlauf; Strassen; Verlassen |
Rechtsnorm: | Art. 119 AIG ; Art. 12 StGB ; Art. 126 AIG ; Art. 135 StPO ; Art. 426 StPO ; Art. 428 StPO ; Art. 74 AIG ; Art. 82 StPO ; |
Referenz BGE: | 143 IV 249; 143 IV 264; |
Kommentar zugewiesen: | Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017 |
Weitere Kommentare: | - |
Obergericht des Kantons Zürich
II. Strafkammer
Geschäfts-Nr.: SB190317-O/U/cw
Mitwirkend: die Oberrichter Dr. Bussmann, Präsident, und lic. iur. Stiefel, der Ersatzoberrichter lic. iur. Meier sowie der Gerichtsschreiber lic. iur. Samokec
Urteil vom 18. Oktober 2019
in Sachen
Beschuldigter und Berufungskläger
amtlich verteidigt durch Rechtsanwalt MLaw X1. substituiert durch MLaw X2.
gegen
Anklägerin und Berufungsbeklagte
betreffend Missachtung der Einoder Ausgrenzung
Anklage:
Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Limmattal/Albis vom 26. Juli 2018 (Urk. 6) ist diesem Urteil beigeheftet.
Urteil der Vorinstanz:
(Urk. 33 S. 17 f.)
Der Beschuldigte ist schuldig der Missachtung der Einoder Ausgrenzung im Sinne von Art. 119 Abs. 1 AIG in Verbindung mit Art. 74 Abs. 1 und 2 AIG.
Der Beschuldigte wird bestraft mit 90 Tagen Freiheitsstrafe, wovon 1 Tag durch Haft erstanden ist.
Die Freiheitsstrafe wird vollzogen.
Die Entscheidgebühr wird angesetzt auf:
Fr. 1'000.00; die weiteren Kosten betragen: Fr. 800.00 Gebühr für das Vorverfahren.
Allfällige weitere Kosten bleiben vorbehalten.
Rechtsanwalt MLaw X1. wird für seine Aufwendungen als amtlicher Verteidiger des Beschuldigten aus der Gerichtskasse mit Fr. 4'580.- (inkl. Barauslagen und 7.7 % MwSt.) entschädigt.
Die Kosten der Untersuchung und des gerichtlichen Verfahrens, ausgenommen diejenigen der amtlichen Verteidigung, werden dem Beschuldigten auferlegt, aber abgeschrieben.
Die Kosten der amtlichen Verteidigung werden auf die Gerichtskasse genommen; vorbehalten bleibt eine Nachforderung gemäss Art. 135 Abs. 4 StPO.
Berufungsanträge:
Der amtlichen Verteidigung: (Urk. 43 S. 1)
1. Der Beschuldigte sei von Schuld und Strafe freizusprechen.
Eventualiter sei der Beschuldigte mit einer Geldstrafe von maximal 30 Tagessätzen zu Fr. 10.- zu bestrafen.
Der Vollzug der verhängten Strafe sei aufzuschieben.
Der Sprechende sei als amtlicher Verteidiger des Beschuldigten für seinen Aufwand gemäss beiliegender Honorarnote zu entschädigen.
Unter Kostenund Entschädigungsfolgen zulasten der Staatskasse.
Der Anklagebehörde: (Urk. 38, schriftlich)
Bestätigung des vorinstanzlichen Urteils.
Erwägungen:
Mit Urteil des Bezirksgerichtes Dietikon, Einzelgericht in Strafsachen, vom 9. Januar 2019 wurde der Beschuldigte der Missachtung der Einoder Ausgrenzung im Sinne von Art. 119 Abs. 1 AIG i.V.m. Art. 74 Abs. 1 und 2 AIG schuldig gesprochen und mit einer unbedingten Freiheitsstrafe von 90 Tagen bestraft.
Im Übrigen wurde über die Kostenund Entschädigungsfolgen entschieden (Urk. 33 S. 17).
Gegen dieses Urteil meldete die Verteidigung am 15. Januar 2019 Berufung an (Urk. 26; Prot. I S. 13) und reichte nach Erhalt des begründeten Urteils am 13. Juni 2019 (Urk. 32/2) fristgerecht seine Berufungserklärung ein (Urk. 35). Mit Präsidialverfügung vom 4. Juli 2019 wurde die Berufungserklärung der Staatsanwaltschaft zugestellt und Frist angesetzt, um Anschlussberufung zu erheben oder einen Nichteintretensantrag zu stellen. Mit Eingabe vom 8. Juli 2019 verzichtete die Staatsanwaltschaft auf Anschlussberufung und beantragte die Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils (Urk. 38). Am 31. Juli 2019 wurde zur Berufungsverhandlung auf den 18. Oktober 2019 vorgeladen (Urk. 40). Nach der Durchführung der Berufungsverhandlung, zu welcher der Beschuldigte und seine amtliche Verteidigung erschienen sind (Prot. II S. 3), erweist sich das Verfahren als spruchreif.
Der Beschuldigte beantragt im Berufungsverfahren einen Freispruch (Urk. 35 S. 1; Urk. 43 S. 1). Seine Berufung richtet sich damit gegen das gesamte vorinstanzliche Urteil, wobei aber keine Beanstandung hinsichtlich der vorinstanzlichen Kostenfestsetzung und des Honorars der amtlichen Verteidigung erfolgte
(Art. 399 Abs. 3 lit. b StPO). Damit ist festzustellen, dass das Urteil des Bezirksgerichtes Dietikon, Einzelgericht in Strafsachen, vom 9. Januar 2019 bezüglich der Dispositivziffer 4 (Kostenfestsetzung) und 5 (Honorar amtliche Verteidigung) in Rechtskraft erwachsen ist.
Soweit für die tatsächliche und die rechtliche Würdigung des eingeklagten Sachverhaltes auf die Erwägungen der Vorinstanz verwiesen wird, so erfolgt dies in Anwendung von Art. 82 Abs. 4 StPO, auch ohne dass dies jeweils explizit Erwähnung findet.
Sachverhalt
Dem Beschuldigten wird in der Anklageschrift vom 26. Juli 2018 vorgeworfen, sich am 25. Juli 2018 um etwa 15.00 Uhr am Bahnhof B. in
aufgehalten zu haben, obwohl er mit Verfügung des Migrationsamtes des Kantons Zürich vom 15. September 2017 mit einer Eingrenzung für das Gemeindegebiet D. belegt worden war. Dem Beschuldigten sei die Eingrenzung bekannt gewesen, da er den Erhalt der Verfügung am 27. September 2017 schriftlich bestätigt habe (Urk. 6 S. 3).
Der Beschuldigte anerkannte sowohl im Vorverfahren, als auch im erstinstanzlichen Gerichtsverfahren, zum anklagegegenständlichen Zeitpunkt am Bahnhof B. von zwei Polizisten kontrolliert worden zu sein. Er sei mit einem Kollegen namens E. , welcher, wie er, in der NUK D. wohne, unterwegs zur F. [Fluss] in der Nähe des Bahnhofs B. gewesen, um schwimmen zu gehen. Aus den Depositionen des Beschuldigten geht sodann hervor, dass er sich bewusst war, dass er auf das Gemeindegebiet von D. eingegrenzt gewesen war und dieses nicht hätte verlassen dürfen (Urk. 2/1 S. 2; Urk. 2/9 S. 2 f.; Prot. I S. 6 ff.). Auch im Berufungsverfahren blieb es bei diesen Zugaben des Beschuldigten (Prot. II S. 8), welche sich als glaubhaft erweisen und
sich auch mit dem übrigen Untersuchungsergebnis decken (vgl. Urk. 2/7 und Urk. 2/8). Der Anklagesachverhalt ist damit rechtsgenügend erstellt.
Rechtliche Würdigung
Am 1. Januar 2019 ist das neue Ausländerund Integrationsgesetz (AIG; SR 142.20) in Kraft getreten. Der Beschuldigte hatte das ihm zur Last gelegte Verhalten noch vor Inkrafttreten des AIG begangen. Da sowohl das AIG in dessen Art. 119 Abs. 1 als auch das im Zeitpunkt der Tat in Kraft stehende AuG im gleichnamigen Artikel für die Missachtung der Einoder Ausgrenzung die Bestrafung mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe vorsehen, erweist sich das neue Recht nicht als das Mildere. Zur Anwendung gelangt deshalb das AuG (Art. 126 Abs. 4 AIG).
Dass der Beschuldigte den objektiven Tatbestand von Art. 119 Abs. 1 AuG erfüllte, indem er sich am Bahnhof B. , und damit ausserhalb des Eingrenzungsgebiets der Gemeinde D. aufhielt, ist unbestritten.
Dagegen sieht die Verteidigung den subjektiven Tatbestand nicht als erfüllt an, da hierfür wenigstens eine eventualvorsätzliche Tatbegehung vorliegen müsse, der Beschuldigte aber höchstens fahrlässig gehandelt habe (Urk. 21 S. 7; Urk. 43 S. 2 ff.). Zur Begründung führt die Verteidigung an, dass die dem Beschuldigten ausgehändigte Karte des Eingrenzungsgebiets weder Strassennamen noch farbliche Unterscheidungen enthalte, so dass Flüsse, Wege und Strassen nicht voneinander unterschieden werden könnten. Die Notunterkunft (NUK)
sei auf der Karte nicht eingezeichnet und der Bahnhof B. und die F. könnten nur mit Ortskenntnis erahnt werden. Die Gemeindegrenze von D. sei auch nicht auf Google Maps ersichtlich, und es gebe auch keine Strassenschilder, welche das Gemeindegebiet markieren würden. Weiter sei die Karte dem Beschuldigten auch nie erklärt worden. Als der Beschuldigte die Karte erhalten habe, sei er noch in der Gemeinde G. eingegrenzt gewesen. Der Beschuldigte habe damit vor seiner Eingrenzung in der Gemeinde D. gar nie die Gelegenheit gehabt, dieses Gebiet und dessen Grenzen vorgängig auszukundschaften, ohne dabei Gefahr zu laufen, sich nach Art. 119 Abs. 1 AuG straf-
bar zu machen (Urk. 21 S. 6; Urk. 43 S. 2 f.). Weiter bringt die Verteidigung vor, dass selbst die beiden Polizisten, welche den Beschuldigten und dessen Kollegen kontrolliert hätten, anlässlich ihrer Einvernahmen nicht dazu in der Lage gewesen seien, das Gemeindegebiet von D. auf einer Karte genau einzugrenzen (Urk. 21 S. 6 f.; Urk. 43 S. 3). Nach Ansicht der Verteidigung würden alle diese Faktoren klar dafür sprechen, dass der Beschuldigte die Eingrenzung lediglich fahrlässig missachtet habe. Weder habe der Beschuldigte die Eingrenzung vorsätzlich missachtet noch eine Tatverwirklichung in Kauf genommen oder auch nur für möglich gehalten (Urk. 21 S. 7; Urk. 43 S. 3). Dass der Beschuldigte vor seinem Ausflug an die F. nicht geprüft habe, wo genau die Gemeindegrenze von D. verlaufe, könne höchstens als pflichtwidrige Unvorsichtigkeit im Sinne von Art. 12 Abs. 3 StGB qualifiziert werden. Zudem sei der Beschuldigte auch nicht dazu verpflichtet gewesen, sich über den Grenzverlauf zu informieren. Vielmehr wäre es an den Behörden gewesen, dem Beschuldigten die Grenzen des Eingrenzungsgebiets klar aufzuzeigen. Dementsprechend werde der subjektive Tatbestand von Art. 119 Abs. 1 AuG nicht erfüllt (Urk. 21 S. 7; Urk. 43 S. 4).
Den Vorbringen der Verteidigung ist zunächst entgegenzuhalten, dass der Beschuldigte anlässlich seiner ersten polizeilichen Einvernahme am 25. Juli 2018 angab, dass es ihm bewusst gewesen sei, dass er das Gebiet der Gemeinde D. nicht verlassen dürfe. Weiter führte der Beschuldigte aus, dass er die Eingrenzung als illegal erachte und diese nicht akzeptiere (Urk. 2/1 S. 2 F9). Die Frage, ob er bewusst gegen die Eingrenzung verstossen habe, als er das Gemeindegebiet von D. verlassen habe, bejahte er. Zudem kündigte er an, dass er sich nicht an die Eingrenzung halten werde (Wie erwähnt, wir können dieses Gesetz vergessen. Ich werde mich nicht an die Eingrenzung halten. Ich war bereits schon bis zum Maximum im Gefängnis und ich weiss, dass das nicht korrekt ist.; Urk. 2/1 S. 2 F10). Demgegenüber bestritt der Beschuldigte im weiteren Verlauf des Vorverfahrens und vor Vorinstanz, das Eingrenzungsgebiet bewusst verlassen zu haben. Er machte weiter geltend, die ihm ausgehändigte Karte, auf welcher das Eingrenzungsgebiet abgebildet sei, sei in einem schrecklichen Zustand gewesen. Es seien keinerlei Strassennamen ersichtlich und auch der Grenzverlauf des Eingrenzungsgebiets sei darauf nicht klar erkennbar, weshalb er
gar nicht habe wissen können, wo er hingehe und wo die Gemeindegrenze von D. verlaufe. Letztere sei zudem auch nicht auf dem Navigationsgerät auf seinem Mobiltelefon ersichtlich (Urk. 2/9 S. 1 ff.; Prot. I S. 6 ff.). Dabei blieb er auch im Berufungsverfahren (Prot. II S. 8).
Vor dem Hintergrund, dass der Beschuldigte in seiner ersten Einvernahme unmittelbar nach der Tatbegehung seiner Eingrenzung die Rechtmässigkeit absprach und angab, die Eingrenzung bewusst missachtet zu haben und sie auch in Zukunft nicht zu beachten, ist seine spätere, völlig konträre Darstellung, wonach er den Grenzverlauf des Eingrenzungsgebiets gar nicht habe kennen können und er dieses Gebiet nicht wissentlich verlassen habe, als nachgeschobene Schutzbehauptung zu qualifizieren.
Selbst wenn aber über das anfängliche Eingeständnis des Beschuldigten, vorsätzlich gehandelt zu haben, hinweggesehen würde, läge dennoch nicht eine fahrlässige, sondern eine eventualvorsätzliche Tatbegehung vor.
Der Beschuldigte wurde per 15. September 2017 von der Notunterkunft H. in I. in die Notunterkunft D. umplatziert (Urk. 3/1 S. 2). Zum Zeitpunkt der Tatbegehung am 25. Juli 2018 lebte der Beschuldigte mithin bereits mehr als 10 Monate in der Gemeinde D. , weshalb ihm das Gemeindegebiet zum Tatzeitpunkt nicht völlig fremd sein konnte und er zumindest eine grobe Ahnung von den Dimensionen des Eingrenzungsgebiets und dessen ungefähren Grenzverlaufs haben musste. Letzterer ist auch auf der Karte ersichtlich, welche dem Beschuldigten am 27. September 2018 ausgehändigt wurde (Urk. 3/3 und Urk. 10/3 S. 450). Dass die Leserlichkeit der Karte unter der fehlenden farblichen Unterscheidungen und der nicht verzeichneten Strassennamen leidet, wie dies der Beschuldigte und seine Verteidigung geltend machen, trifft grundsätzlich zu. Wie die Vorinstanz aber zutreffend erwog (Urk. 33 S.10), sind auf der Karte der allgemeine Strassenverlauf, Kreisel und Kreuzungen, welche als Orientierungshilfen genutzt werden können, gut erkennbar. Beachtlich ist insbesondere der markante Verkehrsknotenpunkt im Norden des Eingrenzungsgebiets. Dort befindet sich eine mehrspurige Hauptstrasse, welche quer über die Autobahn führt und mit dieser durch mehrere Ausfahrtsbzw. Zufahrtsschlaufen verbunden ist.
Der Karte kann entnommen werden, dass die Nordgrenze des Eingrenzungsgebiets, welche der Beschuldigte zwingend überqueren musste, um zur F. beim Bahnhof B. zu gelangen, entlang ebendieser Hauptstrasse verläuft (vgl. Urk. 10/3 S. 450). Der Beschuldigte hätte damit bereits aufgrund dieser in der Karte ersichtlichen Information wissen müssen, dass dieser Verkehrsknotenpunkt und die dort quer zur Autobahn verlaufende Hauptstrasse die Nordgrenze des Eingrenzungsgebiets markiert und er diese nicht passieren darf.
eiter wäre es dem Beschuldigten auch möglich gewesen, sich im Vorfeld seines geplanten Ausflugs an die F. genauer über den Grenzverlauf der Gemeinde D. zu informieren. Der Beschuldigte gab sowohl im Vorverfahren als auch in den beiden gerichtlichen Verfahren zu Protokoll, dass sein Mobiltelefon über ein Navigationsgerät verfüge, welches aber die Gemeindegrenzen von D. nicht anzeige (Urk. 2/9 S. 1 f.; Prot. I S. 9; Prot. II S. 8). Es ist nicht bekannt, welche Art von Navigationsgerät bzw. Karten-App der Beschuldigte zum anklagegegenständlichen Zeitpunkt benutzt hat. Ebensowenig lässt sich verifizieren, ob das vom Beschuldigten genutzte Navigationssystem die Gemeindegrenzen von D. effektiv nicht anzeigte bzw. anzeigen konnte. Ungeachtet dessen wäre es dem Beschuldigten aber immerhin möglich gewesen, den auf der ihm ausgehändigten Karte abgebildeten Strassenverlauf mit dem auf seinem Navigationsgerät angezeigten Strassenverlauf abzugleichen und so zu eruieren, ob sich die F. noch im Eingrenzungsgebiet befindet, oder nicht. Im Übrigen wäre es ihm auch möglich gewesen, sich im Internet über die Gemeindegrenzen von
D. zu informieren. Auf der allgemein bekannten Website Google Maps - oder in der entsprechenden Gratis-App für das Mobiltelefon - werden durch die blosse Eingabe des Suchbegriffs D. automatisch die Gemeinde D. und deren Grenzverlauf angezeigt. Aufgrund einer solchen Suchanfrage hätte der Beschuldigte ebenfalls erkennen können, dass sich die F. ausserhalb des Eingrenzungsgebiets befindet.
Schliesslich hätte der Beschuldigte auch einfach beim Betreuungspersonal der Notunterkunft nachfragen können, ob ein Ausflug an die F. mit seiner Eingrenzung vereinbar sei.
Der Beschuldigte sah indessen gänzlich davon ab, sich in irgendeiner Form darüber zu informieren, ob sich die F. beim Bahnhof B. noch innerhalb des Eingrenzungsgebiets befindet. Er zog im Gegenteil einfach los und dies, obwohl er gemäss eigenen Aussagen keinerlei Ahnung vom Grenzverlauf des Eingrenzungsgebiets hatte. Angesichts seiner geltend gemachten Ahnungslosigkeit musste der Beschuldigte folglich mit der Möglichkeit rechnen, dass ihn der Weg zur F. aus dem Eingrenzungsgebiet herausführen könnte. Zwischen der Notunterkunft in D. und der F. beim Bahnhof B. liegt eine beträchtliche Gehdistanz von mehr als 3 Kilometern (vgl. Google Maps unter
[Link]). Die Wahrscheinlichkeit, das Eingrenzungsgebiet zu verlassen, wird mit zunehmender zurückgelegter Distanz naturgemäss immer grösser. Der Beschuldigte konnte somit nicht ernsthaft darauf vertrauen, dass sich seine Zieldestination noch innerhalb des Eingrenzungsgebiets befinden würde. Dass der Beschuldigte trotz seiner geltend gemachten Unkenntnis über den Grenzverlauf des Eingrenzungsgebiets einfach loszog, ohne sich vorgängig über die Vereinbarkeit seines Tuns mit der Eingrenzung zu informieren, und dass er die weite Strecke bis zum Bahnhof B. zurücklegte, lässt darauf schliessen, dass es ihn schlicht nicht kümmerte, ob sich sein Ziel noch innerhalb des Eingrenzungsgebiets befand oder nicht. Damit nahm er den Taterfolg zumindest in Kauf. Vor diesem Hintergrund ist das Handeln des Beschuldigten als eventualvorsätzliches zu qualifizieren.
2.7. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Beschuldigte den Tatbestand der Missachtung der Einoder Ausgrenzung im Sinne von Art. 119 Abs. 1 AuG erfüllt hat.
Vor Vorinstanz machte die Verteidigung geltend, dass eine Verurteilung des Beschuldigten wegen Missachtung der Einoder Ausgrenzung mit Blick auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung zur EU-Rückführungsrichtlinie erst dann zulässig sei, wenn die zuständigen Behörden alles ihnen zumutbare unternommen hätten, um die Wegweisung des Betroffenen zu vollziehen, der Vollzug indessen am Verhalten des Betroffenen scheitere (Urk. 21 S. 2). Nach Ansicht der Verteidigung sei es offensichtlich, dass von den zuständigen Behörden noch nicht
alles ihnen zumutbare unternommen worden sei, um die Identität des Beschuldigten zu klären und seine Wegweisung zu vollziehen. So seien aufgrund einer im Februar 2018 durchgeführten Kontrolle der Effekten des Beschuldigten neue Abklärungen hinsichtlich dessen Herkunft angestrengt worden, welche gemäss einem Schreiben des Migrationsamtes des Kantons Zürich vom 3. September 2018 noch im Gange seien. Das Rückführungsverfahren sei damit nach wie vor pendent und könne nicht als gescheitert bezeichnet werden. Selbst wenn aber davon ausgegangen würde, dass das Rückkehrverfahren abgeschlossen sei und der Beschuldigte mit seinem Verhalten die Rückführung verunmögliche, würde der Umstand, dass nicht alle zumutbaren Massnahmen für den Vollzug der Rückkehr des Beschuldigten getroffen worden seien, dessen Verurteilung entgegenstehen. Das AuG sehe für Zwangsmassnahmen eine Höchstdauer von 18 Monaten vor. Der Beschuldigte habe bislang aber lediglich 6 Monate in Ausschaffungshaft verbracht, womit die Höchstdauer von 18 Monaten noch nicht ausgeschöpft sei und dementsprechend auch noch nicht alle zumutbaren Massnahmen zur Rückfüh- rung des Beschuldigten getroffen worden seien. Das Strafverfahren sei deshalb einzustellen bzw. sei der Beschuldigte eventualiter vom Anklagevorwurf der Missachtung der Einoder Ausgrenzung freizusprechen (Urk. 21 S. 2 ff.). Anlässlich der Berufungsverhandlung äusserte sich die Verteidigung nicht mehr zur Vereinbarkeit einer Verurteilung des Beschuldigten mit der EU-Rückführungsrichtlinie (vgl. Urk. 43 S. 1 ff.).
Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist die Rückführungsrichtlinie auf eine Bestrafung wegen Missachtung einer Einoder Ausgrenzung anwendbar, wenn die Einoder Ausgrenzung nicht wegen eines die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdenden Verhaltens des Täters (Art. 74 Abs. 1 lit. a AuG), sondern (ausschliesslich) zur Durchsetzung seiner Wegweisung (Art. 74 Abs. 1 lit. b AuG) angeordnet wurde (BGE 143 IV 264 ff., Erw. 2.6.2). In der Verfügung vom 15. September 2016 erwog das Migrationsamt des Kantons Zürich, dass der Beschuldigte mit rechtskräftigem Entscheid vom 12. November 2009 aus der Schweiz weggewiesen worden sei. Er habe sich aber der behördlichen Anordnung zur Ausreise aus der Schweiz widersetzt und die Ausreisefrist unbenützt verstreichen lassen, weshalb die Voraussetzungen für die Anordnung einer Eingrenzung im Sinne von Art. 74 Abs. 1 lit. b AuG erfüllt seien (Urk. 10/3 S. 415). Da die Eingrenzung somit nicht aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung aufgrund eines gefährdenden Verhaltens, sondern ausschliesslich zur Durchsetzung der Wegweisung angeordnet wurde, gelangt demnach die EURückführungsrichtlinie zur Anwendung.
Das Bundesgericht hat sich mit der Anwendung der EU-Rückführungsrichtlinie und dem Verhältnis zur innerstaatlichen Sanktionierbarkeit während des Rückführungsverfahrens bereits mehrfach befasst. Auf diese grundlegenden Erwägungen kann verwiesen werden (vgl. BGE 143 IV 249 E. 1.6). Demzufolge räumt die EU-Rückführungsrichtlinie dem verwaltungsrechtlichen Rückführungsverfahren den Vorrang vor strafrechtlichen Sanktionen ein. Nationale Strafbestimmungen sind jedoch nicht ausgeschlossen, wenn im verwaltungsrechtlichen Verfahren alles für den Vollzug der Rückkehrentscheidung zumutbare vorgekehrt worden ist, dieser indessen am Verhalten des Betroffenen scheitert (vgl. Urteile des Bundesgerichtes 6B_139/2014 vom 5. August 2014 E. 2; 6B_188/2012 vom 17. April 2012 E. 5; 6B_617/2012 und 6B_618/2012 vom 11. März 2013 E. 1.5)
und die Ausreise objektiv möglich ist (Urteil des Bundesgerichtes 6B_482/2010 vom 7. Oktober 2010 E. 3.2.2 und 3.2.3). Zur Art der zu ergreifenden Massnahmen bzw. Zwangsmassnahmen äussert sich die EU-Rückführungsrichtlinie nicht. Gemäss der europäischen Rechtsprechung beziehen sich die Begriffe Massnahmen und Zwangsmassnahmen aber auf jegliches Vorgehen, das auf wirksame Weise unter Beachtung der Verhältnismässigkeit zur Rückkehr des Betroffenen führt (BGE 143 IV 249 E. 3.1 mit Hinweis auf das Urteil des EuGH C-329/11 vom
Dezember 2011 in Sachen Achughbabian). Zwangsmassnahmen zur Durchfüh- rung der Abschiebung sind schliesslich nur als letztes Mittel vorzunehmen (Art. 8 Abs. 4 Rückführungsrichtlinie). Wenn die Anwendung von Zwangsmassnahmen die Rückführung nicht ermöglicht hat, ist eine Bestrafung auch gemäss Rechtsprechung des EuGH zur EU-Rückführungsrichtlinie wieder zulässig (Zünd, in: OFK-Migrationsrecht, 4. Aufl. 2015, Art. 115 AuG N 12 mit Verweis auf die Rechtsprechung des EuGH).
it Verfügung des Staatssekretariats für Migration vom 12. November 2009 wurde das Asylgesuch des Beschuldigten abgelehnt und dessen Wegweisung aus der Schweiz verfügt (Urk. 10/3 S. 19 ff.). Dieser Wegweisungsentscheid erwuchs in Rechtskraft, als die vom Beschuldigten dagegen erhobene Beschwerde mit Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 25. November 2009 abgelehnt wurde (Urk. 10/3 S. 8 ff.). In der Folge wurde der Beschuldigte verpflichtet, die Schweiz mit Eintritt der Rechtskraft der Verfügung des Staatssekretariats für Migration vom 12. November 2009 zu verlassen (Urk. 10/3 S. 40). Dieser Verpflichtung kam er indessen bis heute nicht nach. Auch die zahlreichen nachfolgenden Aufforderungen, die Schweiz zu verlassen, wurden vom Beschuldigten nicht befolgt (Urk. 10/3 S. 103, 111, 151, 226 ff., 318, 339, 367, 390 und 411). Am
20. Januar 2010 wurde der Beschuldigte in Ausschaffungshaft versetzt, aus welcher er nach der Dauer von 6 Monaten am 19. Juli 2010 wieder entlassen wurde (Urk. 10/3 S. 68, 74 ff., 90 ff. und 103). Mit Verfügung des Migrationsamtes des Kantons Zürich vom 12. Februar 2014 wurde der Beschuldigte auf das Gemeindegebiet von J. eingegrenzt, wobei die Eingrenzung am 15. Oktober 2014 wieder aufgehoben wurde (Urk. 10/3 S. 348 ff. und 368). Am 15. September 2016 wurde der Beschuldigte wiederum für die Dauer von zwei Jahren auf das Gemeindegebiet von G. eingegrenzt (Urk. 10/3 S. 414 ff.). Mit Verfügung des Migrationsamtes des Kantons Zürich vom 15. September 2017 wurde diese Eingrenzung auf das Gemeindegebiet von D. ausgedehnt (Urk. 10/3 S. 454 f.). Aufgrund der Weigerung des Beschuldigten, seine Herkunft offenzulegen, unternahmen die Migrationsbehörden diverse Abklärungsversuche, welche aber allesamt ergebnislos blieben (Urk. 10/3 S. 1 ff. [betreffend Litauen]; Urk. 10/3 S. 194, 303, 311 und 364 [betreffend Weissrussland]; Urk. 10/3 S. 229 und 258 [betreffend Armenien]). Am 31. Januar 2018 erteilte das Migrationsamt des Kantons Zü- rich der Kantonspolizei Zürich den Auftrag zur Durchführung einer Effektenkontrolle beim Beschuldigten und zur Auswertung von dessen Mobiltelefon und Laptop (Urk. 10/3 S. 483 f.). Aufgrund dieser Effektenkontrolle ergab sich der Verdacht, dass der Beschuldigte, nicht wie von ihm behauptet, aus Litauen, sondern aus der Ukraine stammen könnte (Urk. 10/3 S. 511). Die anlässlich der Effektenkontrolle erstellten Fotoaufnahmen von Kontaktdaten und Fotografien, welche auf
dem Mobiltelefon und dem Laptop des Beschuldigten gesichtet wurden, wurden vom Migrationsamt des Kantons Zürich dem Staatssekretariat für Migration zur Auswertung und weiteren Recherche weitergeleitet (Urk. 10/3 S. 517). Gemäss dem Schreiben des Migrationsamtes des Kantons Zürich vom 3. September 2018 waren die Identitätsabklärungen des SEM zum damaligen Zeitpunkt noch pendent (Urk. 10/2 S. 2).
Aus den vorstehenden Erwägungen erhellt, dass die Migrationsbehör- den zahlreiche Bemühungen zum Vollzug der Rückkehrentscheidung unternommen haben. So wurde der Beschuldigte einerseits für 6 Monate in Ausschaffungshaft versetzt (Urk. 10/3 S. 68, 74 ff., 90 ff. und 103) und andererseits mehrfach eingegrenzt (Urk. 10/3 S. 348 ff., 414 ff. und 454 f.). Da sich der Beschuldigte weigerte, seine richtigen Personalien offenzulegen, unternahmen die Migrationsbehörden zudem diverse Versuche, die Herkunft des Beschuldigten zu eruieren. Aufgrund dieser Abklärungen konnte jedoch nur festgestellt werden, dass der Beschuldigte weder Staatsbürger von Litauen noch von Weissrussland oder Armenien ist (Urk. 10/3 S. 1 ff., S. 194, 303, 311, 364, 229 und 258). Als sich neue Hinweise auf eine ukrainische Herkunft des Beschuldigten ergaben, unternahmen die Migrationsbehörden im Februar 2018 einen erneuten Identifikationsversuch. Aufgrund des Schreibens des Migrationsamtes des Kantons Zürich vom 3. September 2018 bestehen Hinweise darauf, dass diese Abklärungen zur Herkunft des Beschuldigten nach wie vor pendent sind (Urk. 10/2). Entsprechend kann nicht als erstellt erachtet werden, dass das verwaltungsrechtliche Rückführungsverfahren abgeschlossen ist. Das nicht abgeschlossene Rückführungsverfahren steht einer Strafverfolgung entgegen. Dementsprechend ist das Verfahren gegen den Beschuldigten betreffend den Vorwurf der Missachtung der Einoder Ausgrenzung einzustellen.
Ausgangsgemäss - das Verfahren gegen den Beschuldigten ist einzustellen - sind die Kosten des Vorverfahrens und des erstinstanzlichen Gerichtsverfahrens auf die Gerichtskasse zu nehmen (Art. 426 Abs 1 StPO e contrario).
Der appellierende Beschuldigte obsiegt mit seinen Berufungsanträgen vollumfänglich, weshalb die Kosten des Berufungsverfahrens, auf die Gerichtskasse zu nehmen sind (Art. 428 Abs. 1 StPO).
Die amtliche Verteidigung ist gemäss ihrer Honorarnote für den ihr im Berufungsverfahren entstandenen Aufwand mit Fr. 2'020.- aus der Gerichtskasse zu entschädigen (vgl. Urk. 44).
Es wird beschlossen:
Es wird festgestellt, dass das Urteil des Bezirksgerichtes Dietikon, Einzelgericht in Strafsachen, vom 9. Januar 2019 bezüglich der Dispositivziffern 4 (Kostenfestsetzung) und 5 (Honorar amtliche Verteidigung) in Rechtskraft erwachsen ist.
Schriftliche Mitteilung mit nachfolgendem Urteil.
Es wird erkannt:
Das Verfahren gegen den Beschuldigten A.
betreffend Missachtung
der Einder Ausgrenzung im Sinne von Art. 119 Abs. 1 AuG wird eingestellt.
Die zweitinstanzliche Gerichtsgebühr fällt ausser Ansatz. Die weiteren Kosten betragen Fr. 2'020.- (amtliche Verteidigung).
Die Kosten der Untersuchung und des gerichtlichen Verfahrens beider Instanzen, einschliesslich diejenigen der amtlichen Verteidigung, werden auf die Gerichtskasse genommen.
Schriftliche Mitteilung in vollständiger Ausfertigung an
die amtliche Verteidigung im Doppel für sich und zuhanden des Beschuldigten;
die Staatsanwaltschaft Limmattal/Albis;
das Staatssekretariat für Migration, Postfach, 3003 Bern;
und nach unbenütztem Ablauf der Rechtsmittelfrist bzw. Erledigung allfälliger Rechtsmittel an
die Vorinstanz;
das Migrationsamt des Kantons Zürich;
die KOST Zürich mit dem Formular Löschung des DNA-Profils und Vernichtung des ED-Materials zwecks Löschung des DNA-Profils;
die Kantonspolizei Zürich, KDM-ZD, mit separatem Schreiben (§ 54a Abs. 1 PolG);
die Koordinationsstelle VOSTRA zur Entfernung der Daten gemäss Art. 12 Abs. 1 lit. d VOSTRA mittels Kopie von Urk. 41.
Rechtsmittel:
Gegen diesen Entscheid kann bundesrechtliche Beschwerde in Strafsachen erhoben werden.
Die Beschwerde ist innert 30 Tagen, von der Zustellung der vollständigen, begründeten Ausfertigung an gerechnet, bei der Strafrechtlichen Abteilung des Bundesgerichtes (1000 Lausanne 14) in der in Art. 42 des Bundesgerichtsgesetzes vorgeschriebenen Weise schriftlich einzureichen.
Die Beschwerdelegitimation und die weiteren Beschwerdevoraussetzungen richten sich nach den massgeblichen Bestimmungen des Bundesgerichtsgesetzes.
Obergericht des Kantons Zürich
II. Strafkammer
Zürich, 18. Oktober 2019
Der Präsident:
Oberrichter Dr. Bussmann
Der Gerichtsschreiber:
lic. iur. Samokec
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