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Urteil Strafkammer (SO)

Zusammenfassung des Urteils STKAS.2001.17: Strafkammer

Nachdem ein erstinstanzliches Urteil aufgehoben wurde, entschied das Obergericht selbst über den Fall. Der Beschuldigte wurde beschuldigt, am 23. Mai 2000 beim Überholen von Radfahrern vor einer unübersichtlichen Einmündung zu wenig rechts gefahren zu sein und dadurch eine Kollision verursacht zu haben. Das Gericht stellte fest, dass der Beschuldigte gegen Verkehrsregeln verstossen hat und sprach ihn schuldig, da er sein Vortrittsrecht nicht korrekt eingeschätzt hatte. Der Richter entschied, dass das Überholen an unübersichtlichen Verzweigungen nicht erlaubt ist, wenn der Lenker sein Vortrittsrecht nur aus dem Rechtsvortritt ableitet. Der Beschuldigte wurde daher wegen einer einfachen Verkehrsregelverletzung schuldig gesprochen.

Urteilsdetails des Kantongerichts STKAS.2001.17

Kanton:SO
Fallnummer:STKAS.2001.17
Instanz:Strafkammer
Abteilung:-
Strafkammer Entscheid STKAS.2001.17 vom 21.05.2003 (SO)
Datum:21.05.2003
Rechtskraft:-
Leitsatz/Stichwort:Strassenverkehrsgesetz
Schlagwörter : Vortritt; Strasse; Vortrittsrecht; Verzweigung; Verkehr; Strassen; Fahrzeug; Überholen; Beschuldigte; Rechtsvortritt; Signal; Lenker; Verzweigungen; Einmündung; Gericht; Aufmerksamkeit; Anklage; Fahrzeuge; X-weg; Beschuldigten; Sachverhalt; Vorhalt; Hauptstrasse; Signalisation; Y-strasse; Urteil
Rechtsnorm:Art. 11 VRV ;Art. 14 VRV ;Art. 15 VRV ;Art. 3 VRV ;Art. 31 SVG ;Art. 35 SVG ;Art. 36 SVG ;
Referenz BGE:116 IV 230; 116 Ia 458; 117 IV 501; 117 IV 502; 120 IV 354; 120 IV 355; 120 IV 65; 126 I 19; 126 I 24;
Kommentar:
-

Entscheid des Kantongerichts STKAS.2001.17

Urteil des Gerichtspräsidenten auf. Nach der Kassation eines erstinstanzlichen Urteils entscheidet das Obergericht in der Sache selbst: Die Schlussverfügung wirft dem Beschuldigten vor, er habe am 23. Mai 2000 mit seinem Personenwagen mit Anhänger vor einer Strasseneinmündung zwei Radfahrer überholt, obschon diese Einmündung unübersichtlich sei. Dadurch sei der Beschuldigte zu wenig rechts gefahren (die Bremsspur habe 1,9 m vom rechten Fahrbahnrand entfernt begonnen) und habe deshalb sowie wegen Mangels an Aufmerksamkeit mit einem nach rechts einbiegenden Personenwagen eine Kollision verursacht.

Aus den Erwägungen:

5. a) Der Lenker muss gemäss Art. 31 Abs. 1 SVG (Strassenverkehrsgesetz, SR 741.01) sein Fahrzeug ständig so beherrschen, dass er seinen Vorsichtspflichten nachkommen kann. Er muss mit anderen Worten jederzeit in der Lage sein, in der jeweils erforderlichen Weise auf das Fahrzeug einzuwirken und auf jede Gefahr ohne Zeitverlust zweckmässig zu reagieren (BGE 120 IV 65 E. 2). Dazu gehört nach Art. 3 Abs. 1 VRV (Verkehrsregelverordnung, SR 741.11), dass der Lenker seine Aufmerksamkeit der Strasse und dem Verkehr zuwendet. Das Mass der Aufmerksamkeit richtet sich nach den gesamten Umständen, namentlich der Verkehrsdichte, den örtlichen Verhältnissen, der Zeit, der Sicht und den voraussehbaren Gefahrenquellen (BGE 116 IV 230 E. 2, 120 IV 65 E. 2).

b) Nach dem Akkusationsprinzip bestimmt die Anklage den Gegenstand des Strafverfahrens (Niklaus Schmid: Strafprozessrecht, Zürich 1997, N 145; Robert Hauser / Erhard Schweri: Schweizerisches Strafprozessrecht, Basel 1997, § 50 N 6/8; BGE 126 I 19 E. 2a). Der Anklageschrift kommt sowohl eine Umgrenzungsals auch eine Informationsfunktion zu (BGE 120 IV 354). Einerseits darf das Gericht seinem Schuldspruch nur einen Lebensvorgang zu Grunde legen, der von der Anklage erfasst ist (Schmid, a.a.O., N 148; Hauser/Schweri, a.a.O.). Andererseits ist der Beschuldigte im Interesse einer wirksamen Verteidigung davor zu bewahren, vor Gericht gar erst im ausgefällten Urteil überraschend mit Vorhalten konfrontiert zu werden, von denen er bis dahin keine Kenntnis hatte (Schmid, a.a.O., N 148; Hauser/Schweri, a.a.O., N 7). Dem Betroffenen ist das rechtliche Gehörs zu gewähren, bevor ein ihn belastender Entscheid ergeht (BGE 116 Ia 458). Im Kanton Solothurn wird die Anklageschrift, sofern nicht der Staatsanwalt Anklage erhebt, durch die Schlussverfügung des Untersuchungsrichters verkörpert, mit welcher er den Fall dem Gericht zur Beurteilung überweist. Diese Verfügung hat gemäss § 97 Abs. 2 StPO (Strafprozessordnung, BGS 321.1) eine Umschreibung des Sachverhaltes zu enthalten. Dieser Sachverhalt muss so präzis sein, dass die Vorhalte genügend konkretisiert sind (BGE 126 I 19), d.h. es ist anzugeben, welche Vorgänge den einzelnen Merkmalen des betreffenden Straftatbestandes entsprechen (BGE 120 IV 355). Es genügt nicht, wenn sich der Vorhalt lediglich aus den Akten ergibt (SOG 1996, Nr. 22). Eine Ausdehnung des Verfahrens durch das Gericht auf abweichende Sachverhalte ist nach § 115 Abs. 2 StPO lediglich vor erster Instanz möglich, und auch dies nur bei ausdrücklichem Einverständnis des Beschuldigten.

Die Schlussverfügung erwähnt zwar den Tatbestand der mangelnden Aufmerksamkeit, doch lässt sich ihr nicht entnehmen, welches Verhalten des Beschuldigten diesem Vorhalt zu Grunde liegen soll. So wird insbesondere nirgends gesagt, der Beschuldigte habe es unterlassen, einen Blick in Richtung der Einmündung zu werfen, wie dies der Gerichtspräsident anzunehmen scheint. Die blosse Nennung von Art. 3 Abs. 1 VRV und Art. 31 Abs. 1 i.V.m. 90 Ziff. 1 SVG in der Schlussverfügung, ohne dass dazu ein konkreter Sachverhalt fixiert würde, genügt nicht. Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass Art. 90 Ziff. 1 SVG eine Blankettstrafnorm darstellt, welche nur bei Verletzung einer bestimmten Verkehrsregel Anwendung findet. Verschiedene Verkehrsverstösse sind jedoch in der Regel keine gleichartigen Erscheinungsformen derselben Tat (BGE 126 I 24). Das Überholen im Bereich einer Verzweigung resp. das ungenügende Rechtsfahren einerseits und der Mangel an Aufmerksamkeit andererseits können zwar zum gleichen Ergebnis, einer Kollision, führen, sind jedoch unterschiedliche Verhaltensweisen; es geht mit anderen Worten nicht um eine abweichende rechtliche Beurteilung des gleichen Sachverhaltes. Da der Gerichtspräsident das Verfahren auch nie formell ausgedehnt hat, lässt sich ein Schuldspruch wegen mangelnder Aufmerksamkeit nicht auf die vorliegende Anklage stützen; hinzu kommt, dass sich aus dem Beweisergebnis ohnehin keine Hinweise auf ein entsprechendes Fehlverhalten des Beschuldigten ergeben. Dieser ist daher insoweit freizusprechen.

6. a) Gemäss Art. 35 Abs. 4 SVG ist das Überholen auf einer Strassenverzweigung nur dann gestattet, wenn diese übersichtlich ist und das Vortrittsrecht anderer Verkehrsteilnehmer nicht beeinträchtigt wird. Laut Art. 11 Abs. 4 VRV wiederum darf der Fahrzeugführer im Bereich einer Strassenverzweigung, bei welcher er die einmündenden Strassen nicht überblicken kann, nur dann überholen, wenn er sich auf einer Strasse mit Vortrittsrecht befindet der Verkehr durch die Polizei resp. Lichtsignale geregelt ist. Im Übrigen hat nach Art. 36 Abs. 2 SVG auf Strassenverzweigungen grundsätzlich das von rechts kommende Fahrzeug Vortritt. Fahrzeuge auf einer gekennzeichneten Hauptstrasse haben jedoch auch dann Vortritt, wenn sie von links kommen. Vorbehalten bleibt die Regelung durch Signale die Polizei.

Art. 1 Abs. 8 Satz 1 VRV definiert Verzweigungen als Kreuzungen, Gabelungen Einmündungen von Fahrbahnen. Art. 1 Abs. 8 Satz 2 VRV listet allerdings in nicht abschliessender Weise eine Reihe von Ausnahmen zu diesem Grundsatz auf. Demnach stellt namentlich das Zusammentreffen von Radoder Feldwegen sowie von Garage-, Parkplatz-, Fabrikund Hofausfahrten mit der Fahrbahn keine Verzweigung dar, mit der Folge, dass die Regeln zum Überholen auf Verzweigungen sowie zum Rechtsvortritt hier nicht gelten; wer aus einem Radoder Feldweg, einer Ausfahrt einem Parkplatz auf eine Strasse fährt, muss vielmehr deren Benützern gemäss Art. 15 Abs. 3 VRV den Vortritt gewähren. Der Sinn der Ausnahmeregelung von Art. 1 Abs. 8 Satz 2 VRV besteht darin, dass der Verkehr auf Durchgangsstrassen, welche Ortschaften grössere Ortsteile verbinden, nicht durch Verzweigungen behindert werden soll, die für den Motorfahrzeugverkehr praktisch keine nur eine geringe Bedeutung haben (Pra 2001, Nr. 106). Liegt keine der ausdrücklich genannten Ausnahmen vor, so ist zu berücksichtigen, welche Bedeutung ein Weg für den allgemeinen Fahrverkehr hat, insbesondere im Vergleich zu der Strasse, mit der er zusammentrifft. Die Anwendung von Art. 1 Abs. 8 Satz 2 VRV rechtfertigt sich mit anderen Worten nur dann, wenn eine Durchgangstrasse mit einer Seitenoder Nebenstrasse ohne Durchgangsverkehr und ohne nennenswerte Verkehrsbedeutung zusammentrifft; lediglich unterschiedliche Verkehrsverhältnisse genügen nicht (a.a.O., Erw. 2b). So sind Strässchen, die nur bestimmten Personen zugänglich sind wie bei Sackgassen nur wenige Häuser erschliessen, von so untergeordneter Bedeutung, dass bei ihrer Einmündung in eine Durchgangsstrasse keine Verzweigung vorliegt. Im Interesse der Verkehrssicherheit müssen die Ausnahmen nach Art. 1 Abs. 8 Satz 2 VRV aber auf Fälle beschränkt bleiben, die auch ohne Signalisation, selbst für Ortsunkundige und bei erschwerten Sichtverhältnissen, zweifelsfrei erkennbar sind (a.a.O., Erw. 2a/bb). Bedeutsam sind damit die Grösse, bauliche Ausgestaltung und offensichtliche Zweckbestimmung der zusammentreffenden Strassen (Klaus Hütte: Das Vortrittsrecht, in: Strassenverkehrsrechts-Tagung, Freiburg 1986, S. 18).

Beim X.-weg handelt es sich um keinen Feldweg, ist er doch geteert (BGE 117 IV 501). Mit 3,05 m ist er zwar etwas weniger breit als die Y.-strasse, doch keineswegs so schmal, dass man ihn schon von daher als eindeutig untergeordnet betrachten könnte; im Übrigen ist auch die Y.-strasse nicht derart breit, dass sie eine Mittellinie aufweisen würde. Andererseits stellt der X.-weg kein reines Zubringersträsschen dar, geschweige denn eine blosse Ausfahrt: Wie festgestellt, gabelt er sich nicht weit von der Einmündung in zwei Wege; der eine gestattet die Durchfahrt zur T.-strasse, d.h. der nächsten Hauptstrasse, der andere führt in Richtung B. und steht dem Landwirtschaftsverkehr offen. Somit lässt sich nicht sagen, auf dem X.-weg könne kein Verkehr entstehen (vgl. BGE 117 IV 502); er wird denn auch oft von Velofahrern benützt. Das äussere Erscheinungsbild verbietet daher den Schluss, der X.-weg spiele praktisch keine Rolle für den Verkehr. Bei der Einmündung in die Y.-strasse handelt es sich daher schon aus diesem Grund um eine Verzweigung im Sinne von Art. 1 Abs. 8 Satz 1 VRV; ob die Y.-strasse eine Durchgangsstrasse bloss eine Quartierstrasse darstellt, kann folglich offen bleiben (Pra 2001, Nr. 106).

b) Die vorliegende Verzweigung ist unübersichtlich, denn eine Hecke verwehrt von der Y.-strasse aus den ungehinderten Blick in den X.-weg. Ein Überholen in diesem Bereich war somit nur dann zulässig, wenn sich der Beschuldigte auf einer Strasse mit Vortrittsrecht gemäss Art. 11 Abs. 4 VRV befand. Mit dieser Formulierung könnte einerseits ein absolutes Vortrittsrecht gemeint sein, das allen Verkehrsteilnehmern auf der fraglichen Strasse gegenüber einbiegenden Fahrzeugen zukommt, z.B. bei einer Hauptstrasse im Verhältnis zu einer Nebenstrasse. Bei gleichwertigen Strassen wiederum kann die eine durch Signalisation zur Strasse mit Vortritt werden, z.B. wenn die andere Strasse bei der Einmündung mit den Signalen Stop (3.01) Kein Vortritt (3.02) versehen ist (René Schaffhauser: Grundriss des schweizerischen Strassenverkehrsrechts, Bern 2002, N 853 f.). Andererseits könnte es sich in Art. 11 Abs. 4 VRV auch um ein relatives Vortrittsrecht handeln, das einem bestimmten Verkehrsteilnehmer auf der Strasse zukommt. Dies ist namentlich dann der Fall, wenn jemand gegenüber einer von links einmündenden Strasse mangels anderer Signalisation den Rechtsvortritt geniesst.

Betrachtet man den Wortlaut des Gesetzes, so deutet die Formulierung Strasse mit Vortrittsrecht eher darauf hin, dass nur ein absolutes Vortrittsrecht im oben beschriebenen Sinn gemeint ist. Hätte der Gesetzgeber auch das relative Vortrittsrecht erfassen wollen, so hätte er einfach vorsehen können, dass der Fahrzeugführer auf einer unübersichtlichen Verzweigung überholen darf, wenn ihm gegenüber den einmündenden Strassen der Vortritt zusteht. Diese Überlegung deckt sich damit, dass das Strassenverkehrsgesetz an anderer Stelle das relative Vortrittsrecht des einzelnen Verkehrsteilnehmers dadurch umschreibt, dass es den Vortritt dem Fahrzeug zuweist. So haben nach Art. 36 Abs. 2 SVG die auf Verzweigungen von rechts kommenden Fahrzeuge den Vortritt, während gemäss Art. 36 Abs. 3 SVG beim Linksabbiegen den entgegenkommenden Fahrzeugen der Vortritt zu lassen ist. Demgegenüber regelt Art. 15 Abs. 2 VRV den Fall, dass zwei mehr Strassen mit dem Signal Stop Kein Vortritt am gleichen Ort in eine Strasse mit Vortrittsrecht münden. Das Gesetz spricht demnach hier, wo der Vortritt auf einer besonderen Signalisation beruht, ausdrücklich vom Vortrittsrecht der Strasse und nicht der Fahrzeuge auf dieser Strasse. Dies deutet darauf hin, dass die gleichlautende Wendung Strasse mit Vortrittsrecht in Art. 11 Abs. 4 VRV auch so zu verstehen ist und sich nur auf Fälle mit absolutem Vortrittsrecht bezieht.

Systematisch betrachtet ist Art. 11 Abs. 4 VRV eine Ausführungsbestimmung zu Art. 35 Abs. 4 SVG, der das Überholen auf unübersichtlichen Verzweigungen verbietet. Art. 11 Abs. 4 VRV sieht indes eine Ausnahme von diesem Grundsatz vor, indem im Falle eines Vortrittsrechts des Überholenden keine Übersichtlichkeit erforderlich ist. Um Art. 35 Abs. 4 SVG nicht obsolet zu machen, ist Art. 11 Abs. 4 VRV eng zu interpretieren, was nahe legt, die relativ häufigen Fälle des Rechtsvortritts auszuschliessen. Dies würde denn auch der Verkehrssicherheit dienen und damit Sinn und Zweck des Gesetzes entsprechen: Ein Überholmanöver birgt stets ein erhöhtes Risiko, welches sich auf einer Verzweigung wegen des Querverkehrs noch beträchtlich vergrössert (s. PKG 1975 Nr. 33); um so näher liegt es, ein Überholen auf unübersichtlichen Verzweigungen möglichst weit einzuschränken. Andere Bestimmungen des Gesetzes weisen ebenfalls in diese Richtung. So sieht Art. 14 Abs. 5 VRV vor, dass die Lenker besonders vorsichtig fahren und sich über den Vortritt verständigen müssen, wenn eine nicht geregelte Situation vorliegt. Dies ist namentlich dann der Fall, wenn auf einer Verzweigung ohne Signalisation, funktionierende Ampel Verkehrsregelung durch die Polizei zugleich aus allen Richtungen Fahrzeuge eintreffen, denn jeder der Lenker könnte zwar gegenüber einem der anderen den Rechtsvortritt beanspruchen, aber jeder von ihnen ist zugleich verpflichtet, einem der anderen den Rechtsvortritt zu gewähren. Ein Lenker, der in dieser Situation überholt, kann der Pflicht zur besonderen Vorsicht und Verständigung mit den anderen Lenkern nicht nachkommen. Art. 35 Abs. 2 SVG wiederum bestimmt, dass beim Überholen der benötigte Raum frei und übersichtlich sein muss. Frei ist der Raum aber nicht schon dann, wenn keine Hindernisse vorhanden sind, sondern nur, wenn auch nicht mit dem Auftauchen von Hindernissen gerechnet werden muss, bevor das Manöver abgeschlossen ist (Schaffhauser, a.a.O., N 722). Vor diesem Hintergrund kann das Überholen auf unübersichtlichen Verzweigungen nur dann erlaubt sein, wenn der Lenker davon ausgehen darf, dass er nicht in eine Lage nach Art. 14 Abs. 5 VRV gerät, in der eine Verständigung über das Vortrittsrecht erforderlich ist. Dies ist aber nur bei einem absoluten Vortrittsrecht gegenüber den einmündenden Strassen gewährleistet, nicht jedoch bei blossem Rechtsvortritt. Auch von daher ist eine restriktive Auslegung von Art. 11 Abs. 4 VRV unter Ausschluss des relativen Vortrittsrechts angezeigt.

Die bis am 30. April 1989 geltende Fassung von Art. 11 Abs. 4 VRV verwendete statt Strasse mit Vortrittsrecht den Begriff Hauptstrasse. In den Materialien finden sich keine Hinweise für die Gründe dieser Änderung, welche vom Wortlaut her als eine Ausweitung auf weitere Vortrittsfälle erscheint. Allerdings wurde bereits Art. 11 Abs. 4 a.F. VRV ausdehnend interpretiert. So meinte Schaffhauser (Grundriss des schweizerischen Strassenverkehrsrechts, Bern 1984, N 552), dass die Beschränkung auf Hauptstrassen zu eng und es unerheblich sei, aus welchem Grund die Benützer einer einmündenden Strasse keinen Vortritt haben, sofern es sich nicht um eine Verzweigung mit reinem Rechtsvortritt handle; daran hielt Schaffhauser auch nach der Revision fest (Grundriss des schweizerischen Strassenverkehrsrechts, Bern 2002, N 718). Das Obergericht des Kantons Zürich wiederum entschied am 22. Dezember 1975, dass das Überholen auf einer Verzweigung zweier Nebenstrassen erlaubt sei, wenn der Vortritt der nicht einsehbaren Querstrasse durch ein Signal aufgehoben sei (SJZ 73 Nr. 14), mit anderen Worten ein absolutes Vortrittsrecht besteht. Somit ist naheliegend, dass der Gesetzgeber Art. 11 Abs. 4 VRV mit der Revision an diese Auslegung anpassen wollte.

Zusammenfassend ist davon auszugehen, dass Art. 11 Abs. 4 VRV das Überholen auf unübersichtlichen Verzweigungen nicht gestattet, wenn der überholende Lenker sein Vortrittsrecht gegenüber der einmündenden Strasse nur aus dem Rechtsvortritt ableitet.

c) Nach dem Beweisergebnis steht fest, dass das Überholmanöver des Beschuldigten noch im Gang war, als er zur Verzweigung gelangte. Da diese unübersichtlich war und der Beschuldigte sich gegenüber dem X.-weg nur auf den Rechtsvortritt berufen konnte, verstiess er durch sein Verhalten gegen Art. 35 Abs. 4 SVG und Art. 11 Abs. 4 VRV. Der Beschuldigte wusste zudem, dass er auf eine Verzweigung zufuhr, und es war auch absehbar, dass er nicht mehr vorher überholen konnte. Indem er trotz dieser Kenntnis den Überholvorgang einleitete, machte er sich der einfachen Verkehrsregelverletzung nach Art. 90 Ziff. 1 SVG schuldig, begangen durch Überholen auf einer Strassenverzweigung. Der Vorhalt des ungenügenden Rechtsfahrens ist dadurch konsumiert.

Obergericht Strafkammer; Urteil vom 21. Mai 2003 (STKAS.2001.17)



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