Zusammenfassung des Urteils STBER.2013.43: Strafkammer
Die Chambre des recours des Kantonsgerichts behandelt einen Rechtsmittel gegen ein Urteil, in dem die Beklagte F.________ verurteilt wird, der Klägerin B.________ einen Betrag von 31'736 Franken zu zahlen. Die Gerichtskosten belaufen sich auf 4'250 Franken für die Klägerin und 4'500 Franken für die Beklagte. Es geht um einen langjährigen Streit über einen Immobilientauschvertrag aus dem Jahr 1994. Nach verschiedenen Gerichtsentscheiden und einem Revisionsverfahren fordert B.________ die Zahlung des Betrags von F.________ ein. Letztendlich wird das Rechtsmittel von F.________ abgelehnt, das Urteil bestätigt und die Gerichtskosten auf 617 Franken festgesetzt.
Kanton: | SO |
Fallnummer: | STBER.2013.43 |
Instanz: | Strafkammer |
Abteilung: | - |
Datum: | 27.11.2013 |
Rechtskraft: | - |
Leitsatz/Stichwort: | Sachbeschädigung und Widerhandlung gegen das EG zum StGB |
Schlagwörter : | Recht; Verfahren; Berufung; Hauptverhandlung; Rechtsmissbrauch; Verfahrens; Urteil; Beschuldigte; Rechte; Verteidigung; Anwalts; Instanz; Anwaltswahl; Bundesgericht; Prozessordnung; Rechtsmissbrauchs; Wohlers; Beschuldigten; Verfahrens; Gericht; Berufungsverfahren; Vorinstanz; Grundsatz; Vorhalte; Anwältin; Gebrauch; Kommentar; Verteidiger; Berufungsgericht |
Rechtsnorm: | Art. 129 StPO ; |
Referenz BGE: | - |
Kommentar: | Andreas Donatsch, Wolfgang Wohlers, Schweizer, Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, Zürich, 2010 Spühler, Basler Kommentar zur ZPO, Art. 321 ZPO ; Art. 311 ZPO, 2017 |
Aus den Erwägungen:
3. Das Bundesgericht hat sich im Urteil 6B_350/2013 zum Grundsatz der freien Anwaltswahl nach Art. 129 Abs. 1 Strafprozessordnung (StPO, SR 312.0) auch im Zusammenhang mit dem Festhalten am Hauptverhandlungstermin geäussert. ( )
4.a) Im Unterschied zum genannten Bundesgerichtsentscheid war der Berufungskläger bereits mit Verfügung vom 28. November 2012 (entgegengenommen am 5. Dezember 2012) zur Verhandlung vom 25. März 2013 vorgeladen worden. Es ging um relativ geringfügige Vorhalte (Sachbeschädigung, Trunkenheit, unanständiges Benehmen) und einen einfachen Sachverhalt. Er suchte erst kurz vor der Hauptverhandlung (am 19. März 2013) eine Anwältin auf, die am Verhandlungstermin unabkömmlich war und deshalb um eine Verschiebung ersuchte. Es ist daher nachfolgend zu prüfen, ob das Vorgehen des Berufungsklägers eine Verschleppungsabsicht dokumentiere und die Berufung auf die freie Anwaltswahl allenfalls unter das Verbot des Rechtsmissbrauchs falle.
b) Der offenbare Missbrauch eines Rechts findet keinen Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 2 Zivilgesetzbuch [ZGB, SR 210]). Die Geltung eines Rechtsmissbrauchsverbots erstreckt sich auf die gesamte Rechtsordnung mit Einschluss des öffentlichen Rechts und des Prozessrechts (Urteil des Bundesgerichts 6B_913/2009 E. 4.1). Rechtsmissbrauch liegt vor, wenn ein Rechtsinstitut zweckwidrig zur Verwirklichung von Interessen verwendet wird, die dieses Rechtsinstitut nicht schützen will. Ob eine Berechtigung missbräuchlich ausgeübt werde, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab. Offenbarer Rechtsmissbrauch darf nur mit Zurückhaltung angenommen werden.
In der Strafprozessordnung ist in Art. 3 Abs. 2 lit. b StPO das Rechtsmissbrauchsverbot als Grundsatz des Strafverfahrensrechts normiert. Er richtet sich auch an die privaten Verfahrensbeteiligten. Sie dürfen von ihren Verfahrensrechten nicht rechtsmissbräuchlich Gebrauch machen (Wolfgang Wohlers in: Andreas Donatsch et al. [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, Zürich 2010, Art. 3 StPO N 12 und 13). Gemäss N 14 des genannten Kommentars liegt Rechtsmissbrauch dann vor, wenn die Art und Weise, in der ein Recht ausgeübt wird, und die Interessen, die es schützen soll, offensichtlich auseinanderklaffen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn prozessuale Rechte zu verfahrensfremden Zwecken genutzt werden (Wohlers, a.a.O., Art. 3 StPO N 15). Rechtsmissbrauch kann auch dann vorliegen, wenn prozessuale Rechte mit dem Ziel wahrgenommen werden, den Gang des Verfahrens durch Gebrauch von Rechten zu blockieren. Es reicht allerdings nicht aus, dass das Vorliegen von Rechtsmissbrauch lediglich vermutet wird (Wohlers, a.a.O., Art. 3 StPO N 16). In der Rechtsprechung wird weiter als rechtsmissbräuchlich angesehen, wenn ein Verfahrensbeteiligter zunächst auf ein Recht verzichtet und dann hinterher geltend macht, er sei in seinen Rechten beeinträchtigt worden (Wohlers, a.a.O., Art. 3 StPO N 17).
c) Vorliegend war B. bereits im Rahmen der Einvernahme vom 12. August 2012 über die Vorhalte, die ihm gemacht werden, und sein Recht, einen Verteidiger nach freier Wahl beizuziehen, informiert worden. Es wurde ihm in der Folge auch am 27. Oktober 2012 der Strafbefehl zugestellt, gegen den er mit Schreiben vom 4. November 2012 Einsprache erhob. Am 19. November 2012 wurde ihm die Überweisung an den Gerichtspräsidenten zugestellt. Am 28. November 2012 wurde er vom Gerichtspräsidenten auf den 25. März 2013 zur Hauptverhandlung vorgeladen. Er hat also über eine lange Zeit von seinem Recht, einen Verteidiger beizuziehen, keinen Gebrauch gemacht und erst kurz vor der Hauptverhandlung eine Anwältin mit seiner Vertretung beauftragt. Dieses Verhalten erscheint vor dem Hintergrund, dass insbesondere Verfahren in Bagatellstrafsachen zügig erledigt werden sollen, durchaus als stossend. Auf der anderen Seite betont Art. 129 StPO, dass die beschuldigte Person in jedem Verfahren (also auch in Bagatellstrafverfahren) und auf jeder Verfahrensstufe einen Rechtsbeistand mit seiner Verteidigung beauftragen kann. Das Bundesgericht spricht im vorgenannten Entscheid in Bezug auf Art. 129 Abs. 1 StPO von einem fundamentalen Grundsatz eines rechtsstaatlichen Verfahrens.
Es gibt daneben auch nicht genügend Anhaltspunkte für eine rechtsmissbräuchliche Anrufung dieser Rechte durch den Beschuldigten. Es kann vorab aus dem langen Zuwarten während des Strafverfahrens nicht schon auf einen Verzicht auf sein Recht auf den Beizug eines Anwalts geschlossen werden, kann er dies doch eben in jedem Stadium des Strafverfahrens tun. Es kann auch nicht wie das in anderen Fällen oft gesehen wird mit grosser Sicherheit auf eine Verzögerungsabsicht geschlossen werden, weil die Verjährung einzelner Vorhalte kurz bevor gestanden hätte; die vorgehaltenen Taten waren am 12. August 2012 begangen worden. Der Beschuldigte, der an der Hauptverhandlung ohne seine Anwältin nichts sagen wollte, wurde auch nicht zu den Gründen für den kurzfristigen Beizug einer Verteidigerin befragt. Über seine Gründe könnte also nur spekuliert und eine Verzögerungsabsicht allenfalls vermutet werden. Das genügt für die Annahme eines Rechtsmissbrauchs nicht.
5. Damit ist festzustellen, dass mit der Ablehnung des Verschiebungsbegehrens dem Beschuldigten das Recht auf Verteidigung im Sinne von Art. 129 StPO verweigert wurde. Nach Art. 409 Abs. 1 StPO hebt das Berufungsgericht das angefochtene Urteil auf und weist die Sache zur Durchführung einer neuen Hauptverhandlung und zum neuen Entscheid an das erstinstanzliche Gericht zurück, wenn das erstinstanzliche Verfahren Mängel aufweist, die im Berufungsverfahren nicht geheilt werden können. Das Berufungsgericht bestimmt, welche Verfahrenshandlungen zu wiederholen nachzuholen sind (Abs. 2). Im Vordergrund stehen wesentliche Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens, durch die in schwerwiegender Weise in die Rechte der beschuldigten Person anderer Parteien eingegriffen wird, die im Berufungsverfahren ohne den Verlust einer Instanz nicht mehr behoben werden können. In Frage kommen dabei etwa die nicht richtige Besetzung des Gerichts, fehlende Zuständigkeit, unterbliebene korrekte Vorladung, Verweigerung von Teilnahmerechten, nicht gehörige Verteidigung etc. In all diesen Fällen hätte die Durchführung der in der ersten Instanz unterbliebenen Vorkehren den Verlust einer Instanz zur Folge. Ein solches Verfahren wäre nicht mehr «fair» im Sinne von Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK, SR 0.101; Luzius Eugster in: Marcel Alexander Niggli et al. [Hrsg.]: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, Basel 2011, Art. 409 StPO N 1).
Vorliegend war der Beschuldigte infolge des oben dargelegten Verfahrensmangels vor erster Instanz nicht verteidigt. Die mit einer Verteidigung typischerweise verbundene kritische Hinterfragung des Strafverfahrens unterblieb. Zu denken ist an allfällige Beweisergänzungsbegehren und insbesondere auch an konfrontative Fragen an die Zeugen und Auskunftspersonen im Rahmen der Befragungen an der Hauptverhandlung. Dieser Mangel kann im Berufungsverfahren nicht korrigiert werden. Es reicht nicht, wenn nun im Berufungsverfahren dem Beschuldigten die gehörige Verteidigung ermöglicht wird. Würde das Berufungsgericht ohne Rückweisung in der Sache entscheiden, würde dem Beschuldigten eine Instanz (mit gehöriger Verteidigung) entzogen.
Das angefochtene Urteil wird somit aufgehoben und die Sache zur Durchführung einer neuen Hauptverhandlung, diesmal ohne Beschränkung der freien Anwaltswahl, und zur Fällung eines neuen Urteils an das erstinstanzliche Gericht zurückgewiesen.
Obergericht Strafkammer, Urteil vom 27. November 2013 (STBER.2013.43)
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