Zusammenfassung des Urteils Nr. 96/2014/2: Obergericht
Die Zuständigkeit zur Weiterführung von Kindesschutzmassnahmen richtet sich nach dem Wohnsitz des Kindes, nicht nach dem Aufenthaltsort. In einem Fall, in dem die Mutter von Schaffhausen nach Zürich und dann nach St. Gallen zog, entstand ein negativer Kompetenzkonflikt zwischen den Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden. Die KESB Schaffhausen hielt sich nach dem Wegzug der Mutter nicht mehr für zuständig und übertrug die Frage der Zuständigkeit dem Obergericht. Das Gericht entschied, dass die KESB Schaffhausen nicht mehr zuständig ist und die Zuständigkeit an die KESB St. Gallen übertragen werden soll.
Kanton: | SH |
Fallnummer: | Nr. 96/2014/2 |
Instanz: | Obergericht |
Abteilung: | - |
Datum: | 11.04.2014 |
Rechtskraft: | - |
Leitsatz/Stichwort: | Art. 25 Abs. 1, Art. 315, Art. 442 Abs. 5 und Art. 444 ZGB Zuständigkeit zur Weiterführung von Kindesschutzmassnahmen nach Wohnsitzwechsel |
Schlagwörter : | ändig; Wohnsitz; Kindes; Schaffhausen; Beistand; Beistandschaft; Zuständigkeit; Kanton; Aufenthalt; Kindesschutzmassnahme; Kindesschutzmassnahmen; Kinder; Erwachsenenschutz; Mutter; Behörde; Vormundschaftsbehörde; Sorge; Beistandschaften; Erwachsenenschutzrecht; Pflegefamilie; Eltern; Massnahme; Stadt; Wohnsitzzuständigkeit; Übertragung; Kindeswohl; Weiterführung; Kompetenzkonflikt; Inhaberin |
Rechtsnorm: | Art. 25 ZGB ;Art. 314 ZGB ;Art. 315 ZGB ;Art. 442 ZGB ;Art. 444 ZGB ; |
Referenz BGE: | 129 I 419; |
Kommentar: | - |
Veröffentlichung im Amtsbericht
Bei einem interkantonalen negativen Kompetenzkonflikt richtet sich die Zuständigkeit zur Weiterführung einer bereits angeordneten Kindesschutzmassnahme auch unter dem neuen Kindesund Erwachsenenschutzrecht grundsätzlich nach dem Wohnsitz, nicht nach dem Aufenthalt des Kindes.
Im Juni 2000 errichtete die Vormundschaftsbehörde der Stadt Schaffhausen für B. (geboren im März 2000) eine Beistandschaft. Nachdem deren Mutter und alleinige Inhaberin der elterlichen Sorge A. nach Zürich gezogen war, wurde die Beistandschaft 2002 von der Vormundschaftsbehörde der Stadt Zürich übernommen. B. hielt sich damals in einer Pflegefamilie in Zürich auf. Seit 2007 lebt sie in einem Heilpädagogischen Institut im Kanton Zürich. Die Wochenenden und die Ferien verbringt sie in Kontaktfamilien, zurzeit ebenfalls im Kanton Zürich. Im August 2010 zog A. nach Schaffhausen. Im Juli 2011 gebar sie den Sohn C. Bereits zuvor hatte die Vormundschaftsbehörde der Stadt Schaffhausen für das noch ungeborene Kind eine Beistandschaft errichtet. Im Juli 2011 trat die Vormundschaftsbehörde der Stadt Zürich die Beistandschaft über B. an die Vormundschaftsbehörde der Stadt Schaffhausen ab. Deren Präsidentin entzog im März 2012 A., der alleinigen Inhaberin der elterlichen Sorge, die elterliche Obhut über den Sohn C.; sie ordnete dessen vorübergehende Unterbringung in einer Pflegefamilie in X. (Kanton Schaffhausen) an. Die Vormundschaftsbehörde bestätigte dies im November 2012.
Im November 2013 zog A. nach Y. (Kanton St. Gallen). Die Kindesund Erwachsenenschutzbehörde (KESB) des Kantons Schaffhausen wandte sich hierauf an die KESB Y. mit dem Ersuchen um Übernahme der Kindesschutzmassnahmen für B. und C. Nachdem die KESB Y. die Übernahme der Massnahmen abgelehnt hatte, unterbreitete die KESB Schaffhausen dem Obergericht die Frage der Zuständigkeit zur Beurteilung.
Aus den Erwägungen:
.- Gemäss Art. 444 ZGB1 prüft die Erwachsenenschutzbehörde ihre Zuständigkeit von Amtes wegen (Abs. 1). Hält sie sich nicht für zuständig, so überweist sie die Sache unverzüglich der Behörde, die sie als zuständig erachtet (Abs. 2). Zweifelt sie an ihrer Zuständigkeit, so pflegt sie einen Meinungsaustausch mit der Behörde, deren Zuständigkeit in Frage kommt (Abs. 3). Kann im Meinungsaustausch keine Einigung erzielt werden, so unterbreitet die zuerst befasste Behörde die Frage ihrer Zuständigkeit der gerichtlichen Beschwerdeinstanz (Abs. 4). Diese Bestimmung gilt auch im Verfahren vor der Kindesschutzbehörde.2
Im vorliegenden Fall erachtet sich die KESB Schaffhausen, welche die fraglichen Beistandschaften bisher geführt hat, nach dem Wegzug der Mutter und Inhaberin der elterlichen Sorge aus dem Kanton Schaffhausen nicht mehr für zuständig. Sie hat den gesetzlich vorgesehenen Meinungsaustausch mit der nach ihrer Auffassung neu zuständigen KESB Y. durchgeführt. Eine Einigung wurde dabei nicht erzielt; somit liegt ein negativer Kompetenzkonflikt vor. Die KESB Schaffhausen hat daher die Frage ihrer Zuständigkeit dem Obergericht unterbreitet in dessen Eigenschaft als zuständiger Beschwerdeinstanz (Art. 41 Abs. 1 JG3).
Auf das nicht an eine Frist gebundene Beurteilungsgesuch ist einzutreten.
.a) Die Kindesschutzmassnahmen werden gemäss Art. 315 ZGB von der Kindesschutzbehörde am Wohnsitz des Kindes angeordnet (Abs. 1). Lebt das Kind bei Pflegeeltern sonst ausserhalb der häuslichen Gemeinschaft der Eltern liegt Gefahr im Verzug, so sind auch die Behörden am Ort zuständig, wo sich das Kind aufhält (Abs. 2). Wechselt das Kind seinen Wohnsitz bzw. Aufenthalt, so ist der Vollzug einer rechtskräftig angeordneten Massnahme der Behörde am neuen Wohnsitz bzw. Aufenthalt zu übertragen.4
Als Wohnsitz des Kindes unter elterlicher Sorge gilt der Wohnsitz der Eltern oder, wenn die Eltern keinen gemeinsamen Wohnsitz haben, der Wohnsitz des Elternteils, unter dessen Obhut das Kind steht; in den übrigen Fällen gilt sein Aufenthaltsort als Wohnsitz (Art. 25 Abs. 1 ZGB). Steht die elterliche Sorge bloss einem Elternteil zu, so befindet sich der Wohnsitz des
Fassung vom 19. Dezember 2008, in Kraft seit 1. Januar 2013.
Vgl. Art. 440 Abs. 3 i.V.m. Art. 314 Abs. 1 ZGB; Auer/Marti, Basler Kommentar, Erwachse-
nenschutz, Basel 2012, Art. 444 N. 2, S. 558.
Justizgesetz vom 9. November 2009 (JG, SHR 173.200), Fassung vom 21. November 2011.
Peter Breitschmid, Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch I, 4. A., Basel 2010, Art. 315-315b
18, S. 1662, mit Hinweisen.
Kindes an dessen Wohnsitz. Dabei ist unerheblich, wo sich das Kind tatsächlich aufhält und ob es sich unter der Obhut der Inhaberin der elterlichen Sorge befindet.5
Die elterliche Sorge über die verbeiständeten Kinder steht hier allein der Mutter zu. Diese hat ihren Wohnsitz von Schaffhausen, wo die Beistandschaften für ihre Kinder derzeit geführt werden, unbestrittenermassen nach Y. verlegt. Damit befindet sich auch der gesetzliche Wohnsitz der Kinder neu in Y.
Wird der Wohnsitz des sorgeberechtigten Elternteils als massgeblicher Anknüpfungspunkt für den Vollzug der Beistandschaften über die Kinder betrachtet, so wäre dieser Vollzug ohne weiteres von der KESB Y. zu übernehmen. Diese hat denn auch gestützt auf Art. 442 Abs. 5 ZGB die Beistandschaft für die Mutter persönlich zur Weiterführung übernommen.
Für die Anordnung von Kindesschutzmassnahmen sind die Wohnsitzzuständigkeit und die Aufenthaltszuständigkeit rechtlich grundsätzlich gleichwertig. Anders als im Erwachsenenschutzrecht (vgl. Art. 442 Abs. 2 ZGB) ist im Kindesschutzrecht die Aufenthaltszuständigkeit nicht auf Fälle beschränkt, in denen Gefahr im Verzug ist. Nach überwiegender Lehre und Praxis gebührt der Vorrang für die Anordnung von Kindesschutzmassnahmen im Einzelfall der Behörde, die mit den Verhältnissen besser vertraut ist bzw. den näheren Bezug zum Fall hat und den Schutz der betroffenen Person besser wahrnehmen kann.6
Das Bundesgericht hat allerdings in Frage gestellt, ob angesichts der Gliederung von Art. 315 ZGB worin in Abs. 3 vorgeschrieben wird, dass die Aufsichtsbehörde die Wohnsitzbehörde über allfällige von ihr getroffene Massnahmen zu informieren hat (ohne entsprechende Pflicht auch bei der umgekehrten Konstellation) - die beiden Zuständigkeiten tatsächlich rechtlich gleichwertig seien. Es ist zum Schluss gelangt, jedenfalls bei der Übertragung einmal angeordneter Kindesschutzmassnahmen sei vom Vorrang der Wohnsitzzuständigkeit auszugehen; dies mit Blick darauf, dass bei negativen Kompetenzkonflikten eine möglichst einfache und klare Regelung unabdingbar sei, um im Einzelfall unergiebige Streitigkeiten über die Übernahme von Kindesschutzmassnahmen zu vermeiden.7
Daniel Staehelin, Basler Kommentar, Zivilgesetzbuch I, 4. A., Basel 2010, Art. 25 N. 4,
S. 236, mit Hinweisen.
Diana Wider in: Büchler/Häfeli/Leuba/Stettler (Hrsg.), FamKomm Erwachsenenschutz, Bern 2013, Art. 442 N. 16, S. 859 f., mit Hinweisen.
7 BGE 129 I 419 S. 423 f. E. 2.3.
Art. 315 ZGB regelt die örtliche Zuständigkeit zur Anordnung von Kindesschutzmassnahmen. Diese Bestimmung ist daher nicht direkt, sondern nur sinngemäss auf die gesetzlich nicht geregelte Übertragung bereits angeordneter Kindesschutzmassnahmen anwendbar. Im Erwachsenenschutzrecht ist zwar heute ausdrücklich vorgeschrieben, dass beim Wechsel des Wohnsitzes der schutzbedürftigen Person die Behörde am neuen Ort eine bestehende Massnahme ohne Verzug übernimmt, sofern keine wichtigen Gründe dagegen sprechen (Art. 442 Abs. 5 ZGB). Angesichts der unterschiedlichen Regelung der Aufenthaltszuständigkeit im Kindesund Erwachsenenschutzrecht kann aber diese Beschränkung auf die Wohnsitzzuständigkeit ebenfalls nicht direkt, sondern nur analog für die Übernahme von Kindesschutzmassnahmen gelten. Dafür besteht somit weiterhin keine klare, direkt anwendbare gesetzliche Regelung.
In dieser Situation ist auch nach Einführung des neuen Kindesund Erwachsenenschutzrechts die Übertragung von Kindesschutzmassnahmen im Sinn der bisherigen bundesgerichtlichen Rechtsprechung nach möglichst einfachen und klaren Regeln vorzunehmen. Das spricht für den Vorrang der Wohnsitzzuständigkeit. Ob dieser Vorrang bei einem negativen Kompetenzkonflikt absolut sei, kann jedoch offengelassen werden. Jedenfalls dann, wenn die Zuständigkeit schon bisher am Wohnsitz angeknüpft war, ist diese Zuständigkeitsgrundlage nach einem Wohnsitzwechsel prinzipiell beizubehalten, ohne umfassende Prüfung, ob unter den gegebenen Umständen allenfalls ein Wechsel der Zuständigkeitsgrundlage angezeigt sein könnte. Das steht nach allgemeinem Grundsatz unter dem Vorbehalt, dass die Zuständigkeit am neuen Wohnsitz mit dem Kindeswohl vereinbar sei.8
Im vorliegenden Fall wurden die Beistandschaften bisher an dem vom Wohnsitz der Mutter abgeleiteten Wohnsitz der Kinder geführt. Bei der Tochter ist das besonders augenfällig, wurde doch die Beistandschaft seinerzeit von der Wohnsitzgemeinde Schaffhausen übernommen, obwohl der Aufenthalt des Kindes im Kanton Zürich beibehalten wurde. Aber auch die Beistandschaft für den Sohn wurde unter dem früheren Recht von der Vormundschaftsbehörde der Wohnsitzgemeinde weitergeführt, als das Kind in einer Pflegefamilie in einer andern Gemeinde untergebracht wurde. Aufgrund der Akten war das im Übrigen zunächst nur als Notfallplatzierung gedacht; für die endgültige Unterbringung wurde die Einweisung in eine Pflegefamilie im Kanton Bern, im Kanton St. Gallen im Kanton Appenzell Ausserrhoden geprüft.
Die Tochter hat heute weder Wohnsitz noch Aufenthalt im Kanton Schaffhausen. Für sie ist daher die KESB Schaffhausen auf jeden Fall nicht
8 Vgl. Kommentar von Cyril Hegnauer zu BGE 129 I 419, ZVW 2003, S. 465 ff.
mehr zuständig. Auch der angebliche Aufenthalt in einer Entlastungsfamilie in U. und einer Pflegefamilie in V. (neben dem weiterbestehenden Aufenthalt im Heilpädagogischen Institut Z.) vermag keinen Anknüpfungspunkt zum Kanton Schaffhausen zu begründen.
Der Sohn hat zwar seinen Aufenthalt in einer Pflegefamilie im Kanton Schaffhausen beibehalten. Es ist jedoch nicht ersichtlich, dass und inwieweit eine Übertragung der Beistandschaft an die für den neuen gesetzlichen Wohnsitz zuständige Behörde mit dem Kindeswohl unvereinbar wäre. Die direkte persönliche Betreuung der verbeiständeten Kinder, insbesondere des Sohns, obliegt jedenfalls nicht dem Beistand bzw. der Beiständin. Die derzeitige Beiständin ist sodann erst seit 1. September 2012 im Amt. Sie hat im Übrigen selber die Übertragung der Beistandschaften für die Kinder an die KESB Y. beantragt. Die KESB Schaffhausen hat ihre Aufgabe erst mit Inkrafttreten des neuen Kindesund Erwachsenenschutzrechts am 1. Januar 2013 übernommen. Die bessere Vertrautheit mit den Verhältnissen insbesondere des Sohns ist insoweit zu relativieren; sie hat jedenfalls nicht derart überragende Bedeutung, dass das Kindeswohl nur mit einer Weiterführung der Beistandschaft im Kanton Schaffhausen gewahrt wäre.
Würde bei den Kindern die Aufenthaltszuständigkeit als massgebend betrachtet, so wären für die drei Familienmitglieder drei verschiedene Kindesund Erwachsenenschutzbehörden zuständig: eine KESB im Kanton Zürich für die Tochter, die KESB Schaffhausen für den Sohn und die KESB Y. für die Mutter. Das wäre nicht sinnvoll. Der Sachzusammenhang spricht vielmehr klar für eine umfassende Zuständigkeit der KESB am Wohnsitz der Familie,
d.h. der KESB Y., auch wenn die Massnahmen für die betroffenen Personen formell unabhängig voneinander sind. Die KESB Y. hat jedenfalls dem Hinweis der KESB Schaffhausen nicht widersprochen, dass die Mutter das Besuchsrecht gegenüber den Kindern nicht regelmässig ausübe und sich auch hieraus wohl Handlungsbedarf ergeben werde, gemeint wohl zumindest im Sinn einer Absprache der Beteiligten zur Sicherstellung der dem Kindeswohl dienenden persönlichen Kontakte. Die Koordination der Massnahmen am gleichen Ort ist auch insoweit zweckmässig.
Nicht entscheidend ist schliesslich, dass die Mutter bei einer Anhörung durch die KESB Y. erklärt hat, sie sei damit einverstanden und es sei auch ihr Anliegen, dass die Beistandschaften für die Kinder weiterhin von der KESB Schaffhausen geführt würden.
Zusammenfassend besteht unter den gegebenen Umständen kein Grund, mit Blick auf das Kindeswohl von der vorrangigen Wohnsitzzuständigkeit abzuweichen.
Es ist daher festzustellen, dass die KESB Schaffhausen nicht mehr zuständig ist zum Vollzug der Beistandschaften über die in Frage stehenden Kinder. Die Sache ist im Sinn von Art. 444 Abs. 2 ZGB an die als zuständig erscheinende KESB Y. zu überweisen.
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