Zusammenfassung des Urteils Nr. 63/2015/37: Obergericht
Ein deutscher Staatsangehöriger, der in der Schweiz als Grenzgänger bei einer Firma angestellt war, erhielt aufgrund einer schweren Erkrankung eine Invalidenrente. Nachdem ihm verschiedene Hilfsmittel zugesprochen wurden, lehnte die IV-Stelle weitere Kostenübernahmen ab. Der Beschwerdeführer erhob Beschwerde, die jedoch vom Obergericht des Kantons Schaffhausen abgewiesen wurde. Aufgrund von Regelungen im Freizügigkeitsabkommen und schweizerischem Recht endete sein Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen mit dem Bezug der Invalidenrente. Die Beschwerde wurde als unbegründet abgewiesen.
Kanton: | SH |
Fallnummer: | Nr. 63/2015/37 |
Instanz: | Obergericht |
Abteilung: | - |
Datum: | 05.09.2017 |
Rechtskraft: | - |
Leitsatz/Stichwort: | Leistungen der Invalidenversicherung; Wegfall des Nachversicherungsschutzes bei Grenzgängern nach Zusprache einer schweizerischen Invalidenrente - Art. 8 IVG; Ziff. 8 lit. i Abschnitt A Anhang II FZA. Der Nachversicherungsanspruch von Grenzgängern erlischt mit Zusprache einer schweizerischen Invalidenrente (keine Besitzstandsgarantie). Gleichzeitig endet auch der Anspruch auf Übernahme von Kosten in Zusammenhang mit weiterhin zum Gebrauch überlassenen Hilfsmitteln. |
Schlagwörter : | Anspruch; Invalide; Schweiz; Hilfsmittel; Eingliederung; Invalidenrente; Erwerb; Leistung; Recht; Rollstuhl; Eingliederungsmassnahmen; Arbeit; Bezug; Grenzgänger; Erwerbstätigkeit; Anspruchs; Rente; Weisungen; IV-Stelle; Invalidenversicherung; Person; Versicherungsanspruch; Besitzstandsgarantie; Gebrauch; Verfügung; KSBIL; ültig |
Rechtsnorm: | - |
Referenz BGE: | 126 V 421; 129 V 67; 130 V 163; 130 V 253; 132 V 121; 133 V 257; 137 V 162; |
Kommentar: | Bühler, Frank, Kommentar zur aargauischen Zivilprozessordnung, 1998 |
Der Nachversicherungsanspruch von Grenzgängern erlischt mit Zusprache einer schweizerischen Invalidenrente (keine Besitzstandsgarantie). Gleichzeitig endet auch der Anspruch auf Übernahme von Kosten in Zusammenhang mit weiterhin zum Gebrauch überlassenen Hilfsmitteln.
OGE 63/2015/37 vom 5. September 2017 Keine Veröffentlichung im Amtsbericht
SachverhaltX ist deutscher Staatsangehöriger und lebt in Deutschland. Er war in der Schweiz als Grenzgänger in leitender Funktion bei der Firma Y angestellt. Aufgrund einer schweren Erkrankung musste sein Arbeitspensum von zuerst 100 % auf 50 % und sodann von 50 % auf 0 % reduziert werden. Die IV-Stelle für Versicherte im Ausland (IVSTA) sprach ihm eine halbe Invalidenrente ab 1. Januar 2009 und auf entsprechendes Revisionsgesuch hin eine ganze Invalidenrente ab 1. Februar 2010 zu. In der Folge wurden ihm diverse Hilfsmittel zugesprochen (z.B. Beiträge für einen Hausumbau, Treppenlift, Rollstuhl, Anpassungen am Personenwagen).
Erneute Gesuche von X vom 8. November 2014 und 24. Juni 2015 um Kostengutsprache für Umsetzhilfen für sein Fahrzeug sowie für einen neuen Rollstuhl wies die IV-Stelle Schaffhausen ab. Gleichzeitig hielt sie fest, die bereits abgegebenen Hilfsmittel würden ihm zum weiteren Gebrauch überlassen, jedoch gingen allfällige Reparatur-, Betriebsund Unterhaltskosten sowie Serviceabonnemente zu seinen Lasten. Gegen diese Verfügung erhob X Beschwerde ans Obergericht des Kantons Schaffhausen, welches die Beschwerde abwies.
Aus den ErwägungenDa der Beschwerdeführer deutscher Staatsangehöriger ist und in Deutschland wohnt, sind das am 1. Juni 2002 in Kraft getretene Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihrer Mitgliedsstaaten andererseits über die Freizügigkeit (FZA, SR 0.142.112.681) sowie die Verordnungen gemäss Anhang II des FZA anwendbar. Gemäss Art. 8 lit. a FZA werden die Systeme der sozialen Sicherheit koordiniert, um insbesondere die Gleichbehandlung aller Angehörigen der Vertragsstaaten zu gewährleisten. Soweit wie vorliegend weder das FZA und die
gestützt darauf anwendbaren gemeinschaftsrechtlichen Rechtsakte abweichende Bestimmungen vorsehen noch allgemeine Rechtsgrundsätze dagegen sprechen, richtet sich die Ausgestaltung des Verfahrens und die Prüfung des Leistungsanspruchs alleine nach der schweizerischen Rechtsordnung (vgl. BGE 130 V 253
E. 2.4 S. 257 und Urteil des BVGer C-3985/2012 vom 25. Februar 2013 E. 2.1). Demnach bestimmt sich der Anspruch des Beschwerdeführers auf Eingliederungsmassnahmen ausschliesslich aufgrund der schweizerischen Rechtsvorschriften.
Gemäss Art. 8 Abs. 1 IVG haben Invalide von einer Invalidität bedrohte Versicherte Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen, soweit diese notwendig und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, wieder herzustellen, zu erhalten zu verbessern (lit. a), und die Voraussetzungen für den Anspruch auf die einzelnen Massnahmen erfüllt sind (lit. b). Nach Massgabe der Artikel 13 und 21 besteht der Anspruch auf Leistungen unabhängig von der Möglichkeit einer Eingliederung ins Erwerbsleben in den Aufgabenbereich (Abs. 2).
Mit der am 1. April 2012 in Kraft getretenen dritten Aktualisierung von Anhang II FZA wurden die Koordinationsregeln modernisiert (vgl. IV-Rundschreiben des Bundesamtes für Sozialversicherungen Nr. 309 vom 15. Februar 2012).
Nach Ziff. 8 lit. i Abschnitt A Anhang II FZA gilt ein Arbeitnehmer Selbstständiger, der den schweizerischen Rechtsvorschriften über die Invalidenversicherung nicht mehr unterliegt, weil er seine existenzsichernde Erwerbstätigkeit in der Schweiz infolge Unfalls Krankheit aufgeben musste, als in dieser Versicherung versichert für den Erwerb des Anspruchs auf Eingliederungsmassnahmen bis zur Zahlung einer Invalidenrente und während der Durchführung dieser Massnahmen, sofern er keine anderweitige Erwerbstätigkeit ausserhalb der Schweiz aufnimmt. Die im Anhang II FZA hinsichtlich Eingliederungsmassnahmen vorgesehene Verlängerung der Versicherung endet insbesondere spätestens in dem Zeitpunkt, in welchem der Fall durch Zusprechung einer Rente definitiv abgeschlossen wird, die Eingliederung erfolgreich durchgeführt wurde, eine Erwerbstätigkeit ausserhalb der Schweiz aufgenommen wird Arbeitslosengelder im Wohnland bezogen werden.
Die Änderung im Koordinationsrecht fand auch Eingang in die ab 1. April 2012 gültige Fassung des Kreisschreibens über das Verfahren zur Leistungsfestsetzung in der AHV/IV (KSBIL), gültig ab 1. Juni 2002, Stand 1. April 2012. Gemäss den Randziffern 1011.2 und 1011.3 gelten schweizerische Staatsangehörige Personen mit der Staatsangehörigkeit eines EU-Landes, die in der Schweiz ohne Wohnsitz zu haben eine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmende Selbständigerwerbende ausgeübt haben und den schweizerischen Rechtsvorschriften über die
Invalidenversicherung nicht mehr unterliegen, weil sie ihre existenzsichernde Erwerbstätigkeit in der Schweiz in Folge Unfalls Krankheit aufgeben mussten, in Bezug auf den Anspruch von Eingliederungsmassnahmen als versichert. Dies gilt auch während der Durchführung dieser Massnahmen, sofern sie keine anderweitige Erwerbstätigkeit ausserhalb der Schweiz aufnehmen. Der Nachversicherungsschutz endet hingegen beim Bezug einer Invalidenrente (ganze Rente Bruchteilsrente), bei abgeschlossener erstmaliger Eingliederung beim Bezug einer Leistung der Arbeitslosenversicherung des Wohnlandes.
Somit hat beispielsweise ein Grenzgänger Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen, wenn er seine Arbeit in der Schweiz wegen Krankheit Unfall aufgeben musste. Nicht erforderlich ist dabei, dass der Grenzgänger bis zum Leistungsanspruch weiterhin Beiträge in der Schweiz entrichtet.
Es steht fest und es ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer seit 1. Januar 2009 Anspruch auf eine IV-Rente hat, wobei er ab 1. Januar 2009 eine halbe und seit 1. Februar 2010 eine ganze Rente bezieht. Unbestritten ist weiter, dass der Beschwerdeführer in der Schweiz als Grenzgänger gearbeitet und dabei Beiträge an die AHV/IV geleistet hat, bevor er seine Arbeit in der Schweiz aus gesundheitlichen Gründen aufgeben musste. Streitig und zu prüfen ist, ob der Beschwerdeführer weiterhin Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen respektive Hilfsmittel hat.
Die IV-Stelle begründete ihre ablehnende Verfügung mit den seit April 2012 gültigen neuen Weisungen gemäss KSBIL (Rz. 1011.2, vgl. vorangehende E. 2.4). Weil der Beschwerdeführer eine Invalidenrente beziehe, seien die Anspruchsvoraussetzungen für Hilfsmittel nicht mehr erfüllt, weshalb keine Kosten für weitere Hilfsmittel übernommen werden könnten und das Leistungsbegehren für Umsetzhilfen (am Fahrzeug) und einen neuen Rollstuhl abgewiesen werde. Die in Zusammenhang mit den zum weiteren Gebrauch überlassenen Hilfsmitteln anfallenden Kosten habe er gemäss Rz. 1031 des Kreisschreibens über die Abgabe von Hilfsmittel durch die Invalidenversicherung (KHMI, gültig ab 1. Januar 2013; Stand
1. Januar 2015) selbst zu tragen.
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Kreisschreiben sind in genereller Hinsicht Weisungen, welche die administrativen Aufsichtsbehörden den verfügenden Durchführungsstellen erteilen, jedoch keine Rechtsnormen. Sie sind für die Verwaltung, nicht aber für das Gericht verbindlich. Die Weisungen sind eine im Interesse der gleichmässigen Gesetzesanwendung abgegebene Meinungsäusserung der sachlich zuständigen Aufsichtsbehörde. Das Gericht soll sie bei seiner Entscheidung mitberücksichtigen, sofern sie
eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulassen. Es weicht nicht ohne triftigen Grund von Verwaltungsweisungen ab, wenn diese eine überzeugende Konkretisierung der rechtlichen Vorgaben darstellen. Insofern wird dem Bestreben der Verwaltung, durch interne Weisungen eine rechtsgleiche Gesetzesanwendung zu gewährleisten, Rechnung getragen (BGE 133 V 257 E. 3.2 S. 258 f., BGE 132 V 121 E. 4.4
S. 125). Das Gericht weicht dann von Weisungen ab, wenn sie nicht gesetzmässig sind bzw. in Ermangelung gesetzlicher Vorschriften mit den allgemeinen Grundsätzen des Bundesrechts nicht im Einklang stehen (BGE 132 V 121 E. 4.4 S. 125, BGE 130 V 163 E. 4.3.1 S. 172, BGE 126 V 421 E. 5a S. 427). Als blosse Ausle-
gungshilfe bieten Verwaltungsweisungen keine Grundlage, um zusätzliche einschränkende materiellrechtliche Anspruchserfordernisse aufzustellen, die im Gesetz nicht enthalten sind (BGE 132 V 121 E. 4.4 S. 125, BGE 129 V 67 E. 1.1.1
S. 68, BGE 126 V 421 E. 5a S. 427). Vorliegend entspricht das Kreisschreiben der im Anhang II Abschnitt A lit. i Ziff. 8 FZA enthaltenen Regelung (vorangehende
E. 2.3). In Ermangelung eines triftigen Grundes bleibt somit kein Raum, um von Rz. 1011.2 KSBIL abzuweichen.
Der Beschwerdeführer hat seinen Wohnsitz unbestrittenermassen in Deutschland und bezieht eine Invalidenrente aus der Schweiz. In Anwendung der vorstehend erwähnten Normen und Weisungen sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung hat er als Bezüger einer Invalidenrente keinen Anspruch mehr auf berufliche Eingliederungsmassnahmen der IV, nachdem der schweizerische Nachversicherungsschutz beim Bezug einer Leistung der Invalidenversicherung geendet hat.
Der Beschwerdeführer beruft sich weiter sinngemäss auf eine Besitzstandsgarantie. Die IV-Stelle führt aus, eine solche sei im KSBIL nicht enthalten.
Eine Besitzstandsgarantie setzt im Sozialversicherungsrecht eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage voraus (BGE 137 V 162 E. 3.2 S. 166). Daran fehlt es hier. Wie dargelegt, wurde per 1. April 2012 das Erlöschen des Nachversicherungsanspruchs beim Bezug einer IV-Rente geregelt. Es ist nicht ersichtlich, dass es Absicht des Gesetzgebers gewesen wäre, Personen, die zuvor Anspruch auf Hilfsmittel gehabt hatten und deren Nachversicherungsanspruch nunmehr zufolge Bezugs einer IV-Rente erloschen ist, noch möglicherweise während Jahren einen Anspruch auf nicht mehr länger vorgesehene Leistungen einzuräumen. Die Abweisung des Gesuchs um Kostengutsprache für Umsetzhilfen bzw. einen neuen Rollstuhl erweist sich somit auch unter dem Gesichtspunkt der Besitzstandsgarantie als rechtens.
Weiter ist zu prüfen, ob allfällige Reparatur-, Betriebsund Unterhaltskosten sowie die Serviceabonnemente für die leihweise abgegebenen Hilfsmittel vom Beschwerdeführer zu tragen sind, wie dies in der angefochtenen Verfügung festgehalten wurde.
Dem Beschwerdeführer wurden ein Treppenlift, ein Rollstuhl sowie ein Rollstuhlbike leihweise abgegeben. Sodann erfolgten Änderungen am Fahrzeug sowie am Haus. Gemäss Rz. 1031 KHMI können beim Wegfall der Anspruchsvoraussetzungen wegen Erwerbsoder Arbeitsunfähigkeit Aufgabe der Schulung, Ausbildung der Tätigkeit im Haushalt für die mit * bezeichneten Hilfsmittel diese der versicherten Person zum weiteren Gebrauch überlassen werden. In diesem Fall hat in der Folge die versicherte Person allfällige Reparaturkosten, Betriebsund Unterhaltskosten sowie Serviceabonnemente selbst zu tragen. Nach der hier massgebenden Fassung des KHMI (Stand 1. Januar 2015) gilt diese Regelung sinngemäss auch für alle Hilfsmittel, wenn die Anspruchsvoraussetzungen wegen Verlegung des Wohnsitzes ins Ausland wegfallen. Nichts anderes kann gelten, wenn der Nachversicherungsanspruch wegen des Bezugs einer Invalidenrente endet, da damit gleichermassen wie bei einem Wegzug ebenfalls die Anspruchsvoraussetzungen dahin fallen. Zu Recht hat die IV-Stelle daher in der angefochtenen Verfügung festgehalten, dass allfällige Kosten im Zusammenhang mit den abgegebenen Hilfsmitteln (Treppenlift, Rollstuhl, Rollstuhlbike und Gasring) vom Beschwerdeführer selber zu tragen sind.
Zusammenfassend erweist sich die Beschwerde demzufolge als unbegründet; sie ist abzuweisen.
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