Zusammenfassung des Urteils Nr. 63/2006/30: Obergericht
Der Beschuldigte A. wurde wegen mehrfacher versuchter schwerer Körperverletzung, Sachbeschädigung und Hausfriedensbruch schuldig gesprochen. Er erhielt eine Freiheitsstrafe von 30 Monaten, wovon 2 Tage bereits durch Haft erstanden sind. Zudem wurde eine stationäre therapeutische Massnahme angeordnet. Er muss Schadensersatz und Genugtuung an die Privatkläger B. und C. zahlen. Die Gerichtskosten belaufen sich auf CHF 4'200.00, zusätzlich zu weiteren Kosten für das Vorverfahren und Auslagen. Die Kosten der amtlichen Verteidigung belaufen sich auf CHF 12'564.00 und werden von der Gerichtskasse übernommen. Die Privatkläger 4-7 wurden auf den Weg des Zivilprozesses verwiesen.
Kanton: | SH |
Fallnummer: | Nr. 63/2006/30 |
Instanz: | Obergericht |
Abteilung: | - |
Datum: | 10.08.2007 |
Rechtskraft: | - |
Leitsatz/Stichwort: | Art. 5 Abs. 1 BV; Art. 3 Abs. 1, Art. 10 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 sowie Art. 72 Abs. 1 AHVG; Art. 28 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 29 Abs. 1 und Abs. 2 sowie Art. 176 AHVV. AHV-Beitragspflicht nichterwerbstätiger Personen bei unterjähriger Beitragsdauer; Unverbindlichkeit von Verwaltungsweisungen |
Schlagwörter : | Beiträge; Beitragspflicht; Beitragsjahr; Nichterwerbstätige; Renteneinkommen; Kalenderjahr; Vermögens; Person; Bundesrat; Verwaltung; Verwaltungsweisungen; AHV-Ausgleichskasse; Renteneinkommens; Weisungen; Regelung; Personen; Rentenalter; Bestimmungen; Bundesgesetzes; Bemessung; Nichterwerbstätigen; Vollzug; Verhältnisse |
Rechtsnorm: | Art. 10 AHVG ;Art. 28 AHVG ;Art. 5 BV ;Art. 72 AHVG ; |
Referenz BGE: | 126 V 421; |
Kommentar: | - |
Veröffentlichung im Amtsbericht
Art. 5 Abs. 1 BV; Art. 3 Abs. 1, Art. 10 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 sowieArt. 72 Abs. 1 AHVG; Art. 28 Abs. 1 und Abs. 2, Art. 29 Abs. 1 und Abs. 2 sowie Art. 176 AHVV. AHV-Beitragspflicht nichterwerbstätiger Personen bei unterjähriger Beitragsdauer; Unverbindlichkeit von Verwaltungsweisungen (OGE 63/2006/30 vom 10. August 2007)Bei unterjähriger Beitragspflicht (Eintritt ins Rentenalter, Tod und sonstiger Beendigung der Versicherteneigenschaft) sind die AHV/IV/EO-Beiträge nichterwerbstätiger Versicherter ausgehend vom Jahrsbeitrag pro rata zu bemessen (E. 2b und c).
Die Verwaltungsweisungen des Bundesamts für Sozialversicherung (BSV) sind insoweit nicht mit den gesetzlichen Bestimmungen vereinbar, als sie bei unterjähriger Beitragspflicht den Zeitabschnitt als Beitragsjahr bezeichnen, während dem eine versicherte nichterwerbstätige Person beitragspflichtig ist (E. 2b cc).
B. erreichte im Juni 2004 das AHV-Rentenalter. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie als Nichterwerbstätige AHV/IV/EO-Beiträge zu entrichten. Das herangezogene Renteneinkommen betrug Fr. 33'410.pro Jahr und das von der Steuerverwaltung gemeldete Vermögen Fr. 10'964'288.- (Stand per 31. Dezember 2004). Die AHV-Ausgleichskasse setzte die Beiträge zunächst ausgehend vom Maximalbetrag pro Jahr pro rata für sechs Monate fest. Auf Anweisung des BSV forderte die AHV-Ausgleichskasse von B. die Bezahlung des für ein Kalenderjahr zu entrichtenden Höchstbetrags, womit sich die Beitragsforderung entsprechend verdoppelte. Nachdem die AHV-Ausgleichskasse die dagegen erhobene Einsprache abgewiesen hatte, liess die Versicherte beim Obergericht Beschwerde einreichen. Das Gericht hiess die Beschwerde gut.
Aus den Erwägungen:
2.- ...
Nach Art. 3 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Altersund Hinterlassenenversicherung vom 20. Dezember 1946 (AHVG, SR 831.10) sind Versicherte beitragspflichtig, solange sie eine Erwerbstätigkeit ausüben. Für
Nichterwerbstätige beginnt die Beitragspflicht am 1. Januar nach Vollendung des 20. Altersjahrs und dauert bis zum Ende des Monats, in welchem das AHV-Rentenalter erreicht wird. ...
Nichterwerbstätige bezahlen je nach ihren sozialen Verhältnissen einen AHV-Beitrag von Fr. 370.bis Fr. 8'400.pro Jahr (Art. 10 Abs. 1 Satz 1 AHVG). Daneben sind im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung vom 19. Juni 1959 (IVG, SR 831.20) und Art. 27 Abs. 2 des Bundesgesetzes über den Erwerbsersatz für Dienstleistende und bei Mutterschaft vom 25. September 1952 (Erwerbsersatzgesetz, EOG, SR 834.1) Beiträge an die Invalidenversicherung und die Erwerbsersatzordnung zu entrichten. Gemäss Art. 10 Abs. 3 Satz 1 AHVG hat der Bundesrat nähere Vorschriften über den Kreis der Personen, die als Nichterwerbstätige gelten, und über die Bemessung der Beiträge zu erlassen.
Die Beiträge der Nichterwerbstätigen, für die nicht der jährliche Mindestbeitrag vorgesehen ist, bemessen sich aufgrund ihres Vermögens und dem mit dem Faktor 20 multiplizierten jährlichen Renteneinkommens (Art. 28 Abs. 1 und 2 der Verordnung über die Altersund Hinterlassenenversicherung vom
31. Oktober 1947 [AHVV, SR 831.101]). Der maximale AHV/IV/EO-Beitrag von Fr. 10'100.ist bei einem Vermögen (einschliesslich kapitalisierten Renteneinkommens) ab Fr. 4'000'000.geschuldet.
Die Beiträge werden gemäss Art. 29 AHVV für jedes Kalenderjahr festgesetzt, wobei das Kalenderjahr als Beitragsjahr gilt (Abs. 1). Die Beiträge bemessen sich aufgrund des im Beitragsjahr tatsächlich erzielten Renteneinkommens und des Vermögens am 31. Dezember (Abs. 2).
Nach Art. 76 Abs. 1 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000 (ATSG, SR 830.1) überwacht der Bundesrat die Durchführung der Sozialversicherungen und erstattet darüber Bericht. Zur Wahrnehmung seiner Aufsichtsfunktion kann der Bundesrat das zuständige Bundesamt beauftragen, den mit der Durchführung der Versicherung betrauten Stellen für den einheitlichen Vollzug Weisungen zu erteilen (Art. 72 Abs. 1 AHVG). Laut Art. 176 AHVV kann der Bundesrat das Departement zur Wahrnehmung der Aufsichtsaufgaben beauftragen und bestimmte Aufgaben dem BSV zur selbständigen Erledigung übertragen (Abs. 1). Das BSV kann den mit der Durchführung der Versicherung betrauten Stellen für den einheitlichen Vollzug im Allgemeinen und im Einzelfall Weisungen erteilen (Abs. 2).
Für Personen, die ins Rentenalter eintreten und danach nur während einem Teil des Kalenderjahrs beitragspflichtig sind (sogenannte unterjährige Beitragspflicht) sieht Rz. 2108 der Wegleitung über die Beiträge der Selbständigerwerbenden und Nichterwerbstätigen in der AHV, IV und EO in der ab 1.
Januar 2004 geltenden Fassung (WSN) vor, dass als Beitragsjahr nicht das Kalenderjahr, sondern derjenige Zeitabschnitt im Kalenderjahr gilt, während dessen die versicherte Person beitragspflichtig ist (sogenanntes unterjähriges Beitragsjahr). Die für das unterjährige Beitragsjahr zu leistenden Beiträge bemessen sich danach ausschliesslich nach Massgabe der wirtschaftlichen Verhältnisse (Vermögen, Renteneinkommen) während des unterjährigen Beitragsjahrs. Für die Beitragsbemessung nicht zu berücksichtigen sind die Verhältnisse während der Monate, in denen der Versicherte nicht der Beitragspflicht untersteht (Rz. 2109 WSN).
...
aa) Die AHV-Ausgleichskasse stützte sich bei der Berechnung der von der Beschwerdeführerin für die Periode vom 1. Januar bis 30. Juni 2004 zu entrichtenden persönlichen Beiträge auf die in der WSN getroffenen Regelungen ab. Mit Bezug auf die Berechnung der persönlichen Beiträge ist dabei für den vorliegenden Fall der Umstand von ausschlaggebender Bedeutung, dass die Periode vom 1. Januar bis 30. Juni 2004 als Beitragsjahr gilt und auf die wirtschaftlichen Verhältnisse dieser Periode abgestellt werden soll. Die AHV-Ausgleichskasse errechnete danach ein kapitalisiertes Renteneinkommen von Fr. 334'100.- (20 x Fr. 16'705.-) sowie ein Vermögen von Fr. 5'482'144.- (½ x Fr. 10'964'288.-) und forderte von der Beschwerdeführerin infolgedessen für die sechsmonatige Beitragsdauer den Maximalbeitrag von Fr. 10'100.-.
bb) ...
cc) Die Weisungen des BSV stellen Vorschriften bzw. Dienstanweisungen dar, welche die Aufsichtsbehörde den mit dem Vollzug der Versicherung beauftragten Organen erteilt. Die darin erfolgten Anweisungen stellen kein objektives Recht, sondern vielmehr generell-abstrakte Meinungsäusserungen der sachlich zuständigen Aufsichtsbehörde dar, mit welchen der gleichmässige Vollzug des AHV-Rechts sichergestellt werden soll (BGE 130 V 42
E. 2.3). Da es sich bei Verwaltungsweisungen um keine verbindlichen Rechtsnormen handelt, sind sie grundsätzlich nur für die Durchführungsorgane, nicht aber für die Gerichtsinstanzen verbindlich. Immerhin soll der Richter diese bei seiner Entscheidung mitberücksichtigen, sofern sie eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulassen. Anderseits weicht er aber insoweit von Weisungen ab, als sie mit den anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen nicht vereinbar sind (BGE 126 V 421 E. 5a).
Wie gezeigt, legte der Bundesrat fest, dass das Beitragsjahr mit dem Kalenderjahr übereinstimmt und die Beiträge aufgrund des im Beitragsjahr erzielten Einkommens und des am 31. Dezember vorhandenen Vermögens zu
bemessen sind. Eine Delegation an das zuständige Departement das BSV für eine weitergehende Bestimmung der Bemessungsgrundlagen ist in der AHVV nicht vorgesehen. Soweit mit der WSN das Beitragsjahr auch auf einen innerhalb eines Kalenderjahrs liegenden Zeitabschnitt bezogen wird, besteht somit eine für die Verwaltung verbindliche - Anweisung, die über die vom Bundesrat in Art. 29 Abs. 1 AHVV getroffene Regelung hinausgeht bzw. dieser sogar widerspricht. Allein schon aus diesem Grund sind die in den Rzn. 2107 ff. WSN enthaltenen Verwaltungsweisungen widerrechtlich.
Bei der getroffenen Annahme eines unterjährigen Beitragsjahrs stellt sich im Weiteren die Frage, auf welches Renteneinkommen und Vermögen abzustellen ist. Die Bemessung des Renteneinkommens erweist sich dabei als unproblematisch, da das bis zum Ende der Beitragspflicht erzielte Einkommen kapitalisiert werden kann und weiteres Vermögen ausgenommen zum gleichen Ergebnis führt, wie wenn das auf ein Jahr umgerechnete Renteneinkommen pro rata angerechnet wird. Hinsichtlich des massgebenden Vermögens ist gemäss den Verwaltungsweisungen ausgehend vom Vermögensstand per 31. Dezember eine anteilsmässige Anrechnung vorzunehmen. Diese Bemessungsart kann im Allgemeinen dazu führen, dass Nichterwerbstätige mit grösserem Vermögen bei einer unterjährigen Beitragspflicht nicht anteilsmässig, sondern allenfalls bis zum maximalen Beitragssatz von Fr. 10'100.persönliche AHV/IV/EO-Beiträge zu entrichten haben. Eine solche Regelung widerspricht Art. 10 Abs. 1 AHVG und Art. 29 Abs. 1 AHVV, wonach sich der maximale Beitrag auf ein Kalenderjahr bezieht und dieses dem Beitragsjahr gleichgesetzt ist. Daran ändert auch der Umstand nichts, dass der betreffenden Person im Gegenzug auf dem individuellen Konto das für Nichterwerbstätige maximal mögliche Einkommen von Fr. 100'000.eingetragen wird.
Des Weiteren ist zu fragen, ob gestützt auf den Vermögensstand eines bestimmten Stichtags (hier: 31. Dezember) eine pro rata Berechnung des Vermögens überhaupt möglich bzw. sinnvoll ist. Gemäss Art. 28 Abs. 1 AHVG ist bei einem Vermögen (inklusive kapitalisierten Renteneinkommens) von Fr. 300'000.bis Fr. Fr. 1'750'000.zum Jahresbeitrag von Fr. 420.für jede weiteren Fr. 50'000.ein Zuschlag von Fr. 84.zu entrichten. Bei einem entsprechenden Vermögen zwischen Fr. 1'750'000.- und Fr. 4'000'000.beträgt der Zuschlag zum Grundbetrag von Fr. 2'856.indessen jeweils Fr. 126.-. Dies führt namentlich bei Nichterwerbstätigen mit einem Vermögen von mindestens Fr. 1'750'000.- (per 31. Dezember) dazu, dass bei der pro rata Festsetzung des Vermögens lediglich ein Zuschlag von Fr. 84.anstatt Fr. 126.erhoben wird. Danach ist denkbar, dass sie weniger Beiträge zu bezahlen haben als bei einer anteilsmässigen Berechnung ausgehend vom Jahresbeitrag. Wie sich im vorliegenden Fall zeigt, kann die Regelung der WSN gleichzeitig aber
auch dazu führen, dass sehr vermögende Beitragspflichtige wesentlich höhere Beiträge zu entrichten haben, als wenn der Jahresbeitrag anteilsmässig auf die Beitragsperiode umgelegt wird. Damit erliess das BSV eine dem Bundesrat dem Departement vorbehaltene Ausführungsbestimmung, die einen wesentlichen Einfluss auf die Beitragspflicht der Nichterwerbstätigen bei einer unterjährigen Beitragsdauer hat. Es ist zu berücksichtigen, dass es sich bei den AHV-Beiträgen um abgabenähnliche Forderungen handelt, deren Erhebung einen schwerwiegenden Eingriff in die Individualrechte bedeutet. Gemäss dem in Art. 5 Abs. 1 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV, SR 101) festgelegten Gesetzmässigkeitsprinzip müssen die wesentlichen Merkmale der Abgabenpflicht in einer rechtssatzmässigen Form vorliegen. Den rechtsanwendenden Behörden darf kein übermässiger Spielraum verbleiben, und die möglichen Beitragspflichten müssen für die betroffenen Personen voraussehbar und rechtsgleich sein (vgl. BGE 1P.586/2004 vom 28. Juni 2005, E. 4.1 mit Hinweisen). Da die Verwaltungsweisungen des BSV keine gesetzmässige Grundlage darstellen sowie die hierauf begründete Beitragserhebung bei unterjähriger Beitragspflicht nicht ohne weiteres voraussehbar ist und eine rechtsgleiche Behandlung der Beitragspflichtigen zumindest in Frage gestellt werden muss, ist auch Rz. 2109 WSN als rechtswidrig zu qualifizieren.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die in den Rzn. 2108 f. WSN enthalten Regelungen mit den gesetzlichen Bestimmungen des AHV-Rechts nicht zu vereinbaren sind. Danach ist das Obergericht nicht an diese vom BSV erlassenen Weisungen gebunden. Aufgrund der fehlenden gesetzlichen Ausführungsbestimmung ist weiterhin an der bis 31. Dezember 2003 geltenden Praxis festzuhalten, wonach die Beiträge bei unterjähriger Beitragspflicht pro rata ausgehend vom Jahresbeitrag zu bemessen sind.
Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.
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