Zusammenfassung des Urteils Nr. 51/2017/71: Obergericht
Die Schulleitung eines öffentlichen Gymnasiums informiert knapp über die Suspendierung eines Schülers, der für die Schülerorganisation kandidiert, aufgrund von Drogenbesitz. Die Polizei führt eine Kontrolle durch und findet Betäubungsmittel beim Schüler. Die Schulleitung suspendiert ihn und schliesst ihn von der Wahl aus. Der Rektor informiert das Lehrpersonal über die Situation. Der Schüler reicht eine Strafanzeige ein, die zur Eröffnung eines Strafverfahrens wegen Verletzung des Amtsgeheimnisses gegen die Schulleitung führt. Die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren ein, doch der Schüler legt Rekurs ein. Der Einzelrichter spricht alle Angeklagten frei, da sie im öffentlichen Interesse gehandelt haben. Es wird betont, dass die Schulleitung im Rahmen ihrer gesetzlichen Aufgaben handelte, um den Schulbetrieb aufrechtzuerhalten.
Kanton: | SH |
Fallnummer: | Nr. 51/2017/71 |
Instanz: | Obergericht |
Abteilung: | - |
Datum: | 16.11.2018 |
Rechtskraft: | - |
Leitsatz/Stichwort: | Erlass eines neuen Strafbefehls - Art. 3 Abs. 2 lit. a und Art. 355 Abs. 3 StPO. Der Erlass eines neuen Strafbefehls ist nur zulässig, wenn die Abnahme weiterer Beweise zu einer geänderten Sach- oder Rechtslage mit einem anderem Straf-mass oder einer anderen Sanktion bzw. einer anderen rechtlichen Qualifikation des Sachverhalts oder zur Entdeckung neuer Straftaten führt. In allen anderen Fällen ist die Frage der Ungültigkeit des ersten Strafbefehls im ordentlichen Verfahren zu klären. Wird unzulässigerweise dennoch ein zweiter Strafbefehl erlassen, wiegt dieser Verfahrensfehler nicht so schwer, dass der zweite Strafbefehl als nichtig zu qualifizieren wäre. Er ist vielmehr lediglich als anfechtbar anzusehen und wird da-her durch Nichtanfechtung innert Frist grundsätzlich rechtsgültig (E. 2.4.2). |
Schlagwörter : | Befehl; Befehls; Einsprache; Staatsanwaltschaft; Erlass; Verfahren; Kantonsgericht; Rechtsmittel; Frist; Sachverhalt; Beschuldigte; Rechtslage; Sanktion; Qualifikation; Untersuchung; Gericht; Verfahren; Nichtanfechtung; Begründung; Hinweis; Glauben; Person; Rechtsprechung; Beschuldigten |
Rechtsnorm: | Art. 355 StPO ;Art. 5 BV ; |
Referenz BGE: | 140 IV 188; 142 IV 158; |
Kommentar: | - |
Der Erlass eines neuen Strafbefehls ist nur zulässig, wenn die Abnahme weiterer Beweise zu einer geänderten Sachoder Rechtslage mit einem anderem Strafmass einer anderen Sanktion bzw. einer anderen rechtlichen Qualifikation des Sachverhalts zur Entdeckung neuer Straftaten führt. In allen anderen Fällen ist die Frage der Ungültigkeit des ersten Strafbefehls im ordentlichen Verfahren zu klären. Wird unzulässigerweise dennoch ein zweiter Strafbefehl erlassen, wiegt dieser Verfahrensfehler nicht so schwer, dass der zweite Strafbefehl als nichtig zu qualifizieren wäre. Er ist vielmehr lediglich als anfechtbar anzusehen und wird daher durch Nichtanfechtung innert Frist grundsätzlich rechtsgültig (E. 2.4.2).
OGE 51/2017/71 vom 16. November 2018
(Eine Beschwerde in Strafsachen gegen diesen Entscheid ist vor Bundesgericht noch hängig [Verfahren 6B_1321/2018])
Keine Veröffentlichung im Amtsbericht
SachverhaltMit Strafbefehl vom 30. Juni 2016 verurteilte die Staatsanwaltschaft X. wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln zu einer bedingten Geldstrafe und einer Busse. Dagegen erhob X. fristgerecht Einsprache.
Nach Ergänzung der Untersuchung erliess die Staatsanwaltschaft am 13. Juli 2017 einen neuen, inhaltlich im Wesentlichen identischen Strafbefehl (neu ergänzt mit einer Begründung), welcher denjenigen vom 30. Juni 2016 ersetzte. Gegen diesen Strafbefehl (zugestellt am 18. Juli 2017) erhob der Beschuldigte am 5. Oktober 2017 wiederum Einsprache. Die Staatsanwaltschaft überwies den Strafbefehl ans Kantonsgericht mit dem Hinweis, dieses habe bevor die Staatsanwaltschaft sich mit einem dort hängigen Fristwiederherstellungsgesuch befasse - über die Gültigkeit des Strafbefehls und die Rechtzeitigkeit der Einsprache zu befinden.
Das Kantonsgericht stellte die Gültigkeit des Strafbefehls vom 13. Juli 2017 fest. Auf die Einsprache von X. vom 5. Oktober 2017 trat es nicht ein. Eine hiergegen erhobene Beschwerde von X. wies das Obergericht ab.
Aus den ErwägungenDas Kantonsgericht kam zum Schluss, dass von einem gültigen zweiten Strafbefehl auszugehen sei, wogegen erst mit erheblicher Verspätung Einsprache erhoben worden sei. Im Übrigen habe zweifelsohne ein Prozessrechtsverhältnis
bestanden bzw. habe der Beschuldigte mit der Zustellung behördlicher Post rechnen müssen (unabhängig davon, ob diese immer noch von der Staatsanwaltschaft bereits vom Gericht komme) und es sei ihm auch ohne Weiteres zuzumuten gewesen, ein zweites Mal rechtzeitig Einsprache zu erheben, was er aber nicht getan habe. Daher sei von einer ungültig erfolgten Einsprache auszugehen, da sie verspätet sei. Die Akten seien zur Beurteilung des Fristwiederherstellungsgesuches an die Staatsanwaltschaft zu übermitteln.
Der Beschwerdeführer moniert, die Staatsanwaltschaft habe nach einer fast einjährigen Untersuchung und ohne Schlussvorhalt unvermittelt einen neuen Strafbefehl erlassen, im Wesentlichen ergänzt mit dem subjektiven Strafvorwurf und unter Auferlegung der zusätzlichen Untersuchungskosten. Dieses Vorgehen widerspreche einem redlichen Verhalten im Strafverfahren und verletze damit den Grundsatz von Treu und Glauben. Von der gesetzlichen Konzeption her dürfe ein neuer Strafbefehl nur ergehen, wenn eine geänderte Sachund/oder Rechtslage zur Folge habe, dass der Schuldspruch und/oder die Sanktion zu ändern seien. Sei der Vorwurf und damit der Strafbefehl wie vorliegend aber identisch, sei der Fall dem formellen Richter zu überweisen. Die im nachträglichen Beweisverfahren nach der Einsprache entstandenen Untersuchungskosten könnten auch von der ersten Gerichtsinstanz auferlegt werden. Es bestehe also in prozessualer Hinsicht keine Notwendigkeit, die Staatsanwaltschaft vor der Überweisung ans Gericht nochmals verfügen zu lassen. Fussend auf dem Fehlverhalten der Staatsanwaltschaft offenbar Erlass eines ungültigen (ersten) Strafbefehls welcher zugestanden werde, dies im Verfahren zu korrigieren, werde einer beschuldigten Person zugemutet, erneut sich dazu zu äussern, ob sie (immer noch) einer gerichtliche Überprüfung der Erledigungsofferte der Staatsanwaltschaft wünsche. Das Bundesgericht habe insbesondere im Bereich der Zustellfiktion und Säumnisfolgen korrigierend eingegriffen. Praxisgemäss möge die Justiz der Staatsanwaltschaft zugestehen, als ungenügend empfundene Strafbefehle vor Überweisung an die Gerichte durch Erlass eines neuen Strafbefehls zu korrigieren. Folge dieser Praxis könne vor dem Hintergrund der höchstrichterlichen Rechtsprechung aber nicht sein, dass dem Beschuldigten neue prozessuale Pflichten auferlegt würden, obwohl er keine Anstalten gemachte habe, auf den formellen Richter zu verzichten.
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Der Strafbefehl muss gemäss Art. 353 Abs. 1 lit. c StPO den Sachverhalt enthalten, welcher der beschuldigten Person zur Last gelegt wird (vgl. dazu BGE 140 IV 188 und BGer 6B_968/2014 vom 24. Dezember 2014 E. 1.4). Der erste Strafbefehl enthielt lediglich die rechtliche Qualifikation (grobe Verletzung der Verkehrsregeln durch Nichtbeachten eines Lichtsignals), die Angaben zum Fahrzeug,
zum Ort, zum Tatzeitpunkt (Datum und Zeit), die angewendeten Gesetzesvorschriften, die ausgefällte Strafe, die Kostenentscheidung und die Rechtsmittelbelehrung. Ob er damit den dem Beschuldigten vorgeworfenen Sachverhalt enthielt, ist zumindest fraglich; das Kantonsgericht verneinte dies. Die Frage kann indes letztlich offenbleiben, wie sogleich zu zeigen ist.
Der Erlass eines neuen Strafbefehls ist nach Gesetzeswortlaut, Rechtsprechung und Lehre nur zulässig, wenn die Abnahme weiterer Beweise zu einer geänderten Sachoder Rechtslage mit einem anderem Strafmass einer anderen Sanktion bzw. einer anderen rechtlichen Qualifikation des Sachverhalts zur Entdeckung neuer Straftaten führt (vgl. Art. 355 Abs. 3 StPO; OGer ZH SU150078 vom 22. Februar 2016 E. II/2.2 mit Hinweisen; Frage offengelassen in BGer 6B_849/2017 vom 18. Januar 2018 E. 1 mit der Begründung, der Beschwerdeführer lege nicht dar, inwiefern ihm der Erlass eines zweiten Strafbefehls einen Nachteil bringe; Franz Riklin, in: Niggli/Heer/Wiprächtiger [Hrsg.], Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung/Jugendstrafprozessordnung, Art. 196-457 StPO, Art. 1-54 JStPO, 2. A., Basel 2014, Art. 355 N. 4, S. 2696 f.).
Vorliegend ist keine dieser Konstellationen erfüllt. Die beiden Strafbefehle vom
30. Juni 2016 und 13. Juli 2017 unterscheiden sich lediglich durch die als verletzt angegebene Bestimmung von Art. 69 der Signalisationsverordnung (SSV, SR 741.21; Besondere Lichtsignale) bzw. Art. 68 SSV (Art und Bedeutung der Lichtsignale), worin aber keine (erheblich) andere rechtliche Qualifikation gesehen werden kann (es waren damit auch keinerlei Auswirkungen auf die Sanktion verbunden), und insbesondere dadurch, dass der zweite Strafbefehl im Unterschied zum ersten eine Begründung enthält. Entgegen der Auffassung des Kantonsgerichts wäre die Frage der Ungültigkeit des ersten Strafbefehls demnach im ordentlichen Verfahren zu klären gewesen. Die Staatsanwaltschaft hätte zwingend die Überprüfung des ersten Strafbefehls durch das Kantonsgericht in die Wege leiten müssen, nachdem ihre Abklärungen weder rechtlich noch tatsächlich zu relevanten neuen Erkenntnissen geführt hatten. Der Erlass des zweiten Strafbefehls war unter diesen Umständen dagegen unzulässig. Dieser Verfahrensfehler wiegt allerdings nicht so schwer, dass der zweite Strafbefehl als nichtig zu qualifizieren wäre. Er ist vielmehr lediglich als anfechtbar anzusehen und wurde daher durch Nichtanfechtung innert Frist grundsätzlich rechtsgültig (vgl. BGer 6B_1346/2017 vom 20. September 2018 E. 1.4.3 [zur Publikation vorgesehen] und 6B_1095/2017 vom 2. März 2018 E. 1.2, je mit Hinweisen).
Es gilt der Grundsatz, dass dem Rechtsuchenden aus einem Fehler der Behörde kein Rechtsnachteil erwachsen soll. Dabei gilt es auch zu bedenken, dass die Anforderungen an eine Einsprache vom Gesetzgeber bewusst niedrig gehalten wurden (einfache Erklärung), da die Akzeptanz des Strafbefehls eine Verurteilung
aufgrund einer bloss summarischen Beurteilung von Tat und Täter bzw. ein vollständiger Rechtsverlust beim Verzicht auf die Einsprachemöglichkeit bedeutet und demnach für den Beschuldigten von grosser Tragweite ist. Ebenfalls vor diesem Hintergrund ist die Rechtsprechung zur Rückzugsfiktion (Art. 355 Abs. 2 StPO) zu sehen, die eine solche nur zulässt, wenn sich die beschuldigte Person der Konsequenzen ihrer Unterlassung bewusst ist und sie in Kenntnis der massgebenden Rechtslage auf die ihr zustehenden Rechte verzichtet (vgl. BGE 142 IV 158 E. 3.4
f. S. 161 f.). Gleichwohl ist der Rechtsuchende auch im Strafbefehlsverfahren gehalten, sich nach Treu und Glauben zu verhalten und das ihm Zumutbare zur Fehlerbehebung beizutragen (vgl. zum Ganzen Art. 5 Abs. 3 BV [und insb. für die Strafverfolgungsbehörden Art. 3 Abs. 2 lit. a StPO]; statt vieler BGer 2C_1004/2017 vom 29. Mai 2018 E. 4.2 f. und 6B_1366/2017 vom 27. April 2018 E. 1.6.2).
Im vorliegenden Fall hätte die Staatsanwaltschaft keinen zweiten Strafbefehl erlassen dürfen (vgl. E. 2.4.2). Aus diesem Fehler der Behörde darf dem Beschwerdeführer grundsätzlich kein Rechtsnachteil erwachsen (vgl. E. 2.4.3). Der Beschwerdeführer erklärte mit der fristgerecht erhobenen Einsprache gegen den ersten Strafbefehl, dass er sich dem Urteilsspruch nicht unterziehen will. Demgegenüber blieb er nach Zustellung des zweiten Strafbefehls (innert der Rechtsmittelfrist) untätig, obwohl ihm die Konsequenzen aufgrund der auch für einen Laien verständlichen - Rechtsmittelbelehrung und des Umstandes, dass er den ersten Strafbefehl noch fristgerecht angefochten hatte, hätten bewusst sein müssen. Nach Treu und Glauben wäre der Beschwerdeführer unabhängig vom vorangegangenen Behördenfehler verpflichtet gewesen, auch gegen den zweiten Strafbefehl innert Frist Einsprache zu erheben und kundzutun, dass er mit dem nunmehr begründeten Urteilsspruch nach wie vor nicht einverstanden ist. Dass er dies nicht tat, sondern die Einsprachefrist ungenutzt verstreichen liess und erst rund zehn Wochen nach Ablauf der Rechtsmittelfrist ein Rechtsmittel erhob, legt zudem den Schluss nahe, dass er sich zunächst mit der nun begründeten Verurteilung abgefunden und bewusst auf die ihm zustehenden Rechte verzichtet hatte. Er scheint sich erst im Zug der am 28. August 2017 angezeigten Einleitung eines Administrativverfahrens, in dessen Rahmen ihm mit Verfügung vom 25. September 2017 der ausländische Führerausweis aberkannt wurde, am 5. Oktober 2017 zur Ergreifung eines Rechtsmittels gegen den zweiten Strafbefehl entschlossen zu haben. Somit wurde der zweite Strafbefehl durch Nichtanfechtung rechtsgültig. Daran vermögen angesichts der tiefen Anforderungen an eine Einsprache (vgl. E. 2.4.3) auch der grosse zeitliche Druck und die schwierigen Lebensumstände des Beschwerdeführers im Sommer 2017 nichts zu ändern.
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