Zusammenfassung des Urteils Nr. 50/2009/1B: Obergericht
In dem vorliegenden Fall wurde der Beschuldigte A. wegen verschiedener Vergehen gegen das Betäubungsmittelgesetz und das Ausländergesetz schuldig gesprochen. Er wurde zu einer Freiheitsstrafe von 4½ Jahren verurteilt, wovon bereits 350 Tage durch Haft und vorzeitigen Strafvollzug verbüsst wurden. Die Gerichtskosten belaufen sich auf CHF 3'600.-, zusätzlich fallen weitere Auslagen an. Die Kosten der amtlichen Verteidigung werden dem Beschuldigten auferlegt, aber sofort und endgültig abgeschrieben. Der Richter, der das Urteil gefällt hat, ist männlich. Die unterlegene Partei, die Staatsanwaltschaft II des Kantons Zürich, wird vertreten durch den Leitenden Staatsanwalt lic. iur. Chr. Winkler. (männlich
Kanton: | SH |
Fallnummer: | Nr. 50/2009/1B |
Instanz: | Obergericht |
Abteilung: | - |
Datum: | 13.02.2009 |
Rechtskraft: | - |
Leitsatz/Stichwort: | Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK; Art. 101 StPO Wiederherstellung der Berufungsfrist bei Säumnis des amtlichen Verteidigers des Angeklagten |
Schlagwörter : | Verteidiger; Berufung; Wiederherstellung; Frist; Verteidigung; Angeklagte; Verteidigers; Verschulden; Geldstrafe; Angeklagten; Berufungsfrist; Säumnis; Freiheitsstrafe; Tagessätze; Fristversäumnis; Hinweisen; Fälle; Probezeit; Kanton; Fehler; Verfahren; Fällen; Praxis; Prozess; Tagessätzen; Obergericht; Verfahren; Person; Gesuch |
Rechtsnorm: | Art. 101 StPO ; |
Referenz BGE: | 119 II 87; 120 Ia 51; 124 I 189; 60 II 353; 76 I 356; |
Kommentar: | - |
Keine Veröffentlichung im Amtsbericht.
Art. 6 Ziff. 3 lit. c EMRK; Art. 101 StPO. Wiederherstellung der Berufungsfrist bei Säumnis des amtlichen Verteidigers des Angeklagten (OGE 50/2009/1 vom 13. Februar 2009)Versäumt der amtlich verteidigte Angeklagte zufolge groben Verschuldens seines Verteidigers die Berufungsfrist und steht keine Freiheitsstrafe in Frage, muss sich der Angeklagte dieses Verschulden bei der Prüfung seines Wiederherstellungsgesuchs anrechnen lassen; die Frist kann daher nicht wiederhergestellt werden.
Das Kantonsgericht verurteilte X. wegen mehrfacher Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz, mehrfacher Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes und Nichtanzeigens eines Funds zu einer ersten Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu Fr. 40.- und zu einer zweiten Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu Fr. 40.sowie zu einer Busse von Fr. 200.-; es schob die zweite Geldstrafe bedingt auf bei einer Probezeit von vier Jahren. Der amtliche Verteidiger von X. erhob Berufung ans Obergericht; diese richtete sich gegen Zahl und Höhe der Tagessätze, gegen die Nichtgewährung des bedingten Strafvollzugs für die erste Geldstrafe und gegen die Dauer der Probezeit. Nachdem der amtliche Verteidiger vom Kantonsgericht darauf hingewiesen worden war, dass die Berufung um mehrere Tage verspätet sei, beantragte er beim Obergericht, die Berufungsfrist wiederherzustellen. Das Obergericht wies das Wiederherstellungsgesuch ab und trat auf die Berufung nicht ein.
Aus den Erwägungen:
2.a) Erwächst einer am Verfahren beteiligten Person aus ihrer Säumnis ein erheblicher und endgültiger Rechtsverlust, so kann sie nach Art. 101 der Strafprozessordnung für den Kanton Schaffhausen vom 15. Dezember 1986 [StPO, SHR 320.100]) die Wiederherstellung der versäumten Frist verlangen, wenn sie nachweist, dass ihr ihrem Vertreter bezüglich der Säumnis kein grobes Verschulden zur Last fällt (Abs. 1). Das Gesuch um Wiederherstellung ist innert zehn Tagen seit Wegfall des Hindernisses schriftlich und mit genügender Bescheinigung bei der Behörde zu stellen, bei welcher die Frist zu wahren gewesen wäre (Abs. 2). Der Entscheid über die Wiederherstellung wird von derjenigen Behörde getroffen, welche im Fall der
Einhaltung der Frist zur Behandlung der Sache zuständig wäre (Abs. 3). Die Säumnis muss unverschuldet sein, z.B. auf plötzlicher Erkrankung, Zugverspätung, falscher Rechtsmittelbelehrung beruhen (Hauser/Schweri/Hartmann, Schweizerisches Strafprozessrecht, 6. A., Basel/Genf/München 2005,
§ 43 N. 31, S. 188).
Der amtliche Verteidiger des Angeklagten anerkennt vorliegend, dass er die Berufung erst nach Ablauf der Berufungsfrist eingereicht habe. Er sei in der irrigen Annahme gewesen, dass die Frist für die Erklärung wie im Kanton Zürich während der Gerichtsferien stillstehe. Er macht als Begründung geltend, da es sich vorliegend um einen Fall der notwendigen Verteidigung handle, dürfe ein offensichtlicher Fehler eines unsorgfältigen Verteidigers dem Angeschuldigten nicht zum Nachteil angerechnet werden.
Die Aussichten der angestrebten Berufung sind nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens und damit an sich nicht zu beurteilen. Im Hinblick auf das Fristwiederherstellungsgesuch ist jedoch zu prüfen, welches die Folgen der Fristversäumnis durch den amtlichen Verteidiger des Angeklagten sind, bzw. ob ein darauf bezogenes Verschulden des amtlichen Verteidigers dem Angeklagten anzurechnen ist. Vorliegend drängt sich zur Beantwortung dieser Frage ein Blick auf die Rechtsprechung bezüglich der Institute der Verteidigung, insbesondere der amtlichen Verteidigung auf.
Das Institut der notwendigen Verteidigung beruht auf dem Gedanken, dass bei Vorliegen bestimmter Konstellationen im Strafverfahren (vgl. Art. 47
f. StPO) die Durchführung des Prozesses ohne Verteidigung des Beschuldigten durch eine rechtskundige Person verhindert werden soll (Titus Graf, Effiziente Verteidigung im Rechtsmittelverfahren, Dargestellt anhand zürcherischer Berufung und Nichtigkeitsbeschwerde, Zürich 2000, S. 42 mit weiteren Hinweisen). Damit dieser Grundgedanke auch tatsächlich verwirklicht wird, ist gemäss Rechtsprechung erforderlich, dass in diesen Fällen eine genügende anwaltliche Verteidigung gewährleistet sein muss, was zur Folge hat, dass von den staatlichen Behörden nicht geduldet werden darf, wenn ein Verteidiger seine Aufgabe in schwerwiegender Weise vernachlässigt. Mithin trifft die Justizbehörden insoweit eine Fürsorgepflicht (Graf, S. 47 f. und S. 62 ff.; BGE 1P.1/2005 vom 31. März 2005 E. 4.3; BGE 1P.674/2002 vom 9. April
2003 E. 2.1 mit Hinweisen; BGE 124 I 189 f. E. 3b; BGE 120 Ia 51 E. 2b).
Nach einem Teil der Lehre und der kantonalen Praxis besteht bei Fällen notwendiger Verteidigung deshalb im Zusammenhang mit Fristversäumnissen der Grundsatz, dass die durch den (amtlichen erbetenen) Verteidiger versäumte Rechtsmittelfrist wiederherzustellen ist, weil sonst keine effiziente Verteidigung gegeben wäre. Es wird weiter erwogen, die unbesehene Übernahme obligationenrechtlicher Grundsätze im Strafprozess sei nicht an-
gebracht und eine Wiederherstellung zugunsten von Angeklagten bzw. Verurteilten solle auch bei Verschulden der Verteidigung möglich sein. Dies wird teils für die Fälle notwendiger Verteidigung angenommen, teils dann, wenn die Verbüssung einer Freiheitsstrafe von einigem Gewicht in Frage steht. Der Anspruch auf eine konkrete und wirksame Verteidigung gemäss Art. 6 Abs. 3 lit. c der europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (EMRK, SR 0.101) verbiete es in diesen Fällen, das Verschulden der Verteidigung der angeklagten Person zuzurechnen (Hauser/Schweri/Hartmann, § 43 N. 31, S. 188; Niklaus Oberholzer, Grundzüge des Strafprozessrechts, 2. A., Bern 2005, Rzn. 1695 ff.,
S. 702 f.; Graf, S. 205 ff.; KassGer ZH vom 16. September 2004 E. 4b, ZR 104 Nr. 33; OGE AG vom 12. Juni 1997 E. 2c, S. 120 f., AGVE 1997
S. 116-122; KassGer ZH vom 7. Dezember 1995 E. 4.2 ff., S. 26 ff., ZR 96
Nr. 6; KassGer ZH vom 2. Juli 1987 E. 3b ff., S. 217 ff., ZR 86 Nr. 90).
Nach ständiger Praxis des Bundesgerichts ist die Wiederherstellung bei einer vom Anwalt verschuldeten Säumnis ausgeschlossen (BGE 1P.380/2005 vom 8. September 2005 E. 3.1 mit Hinweisen; BGE 119 II 87 E. 2a; BGE
1P.1/2005 vom 31. März 2005 E. 4.3; BGE 1P.151/2002 vom 28. Mai 2002
E. 1.2). Ursprünglich ging das Bundesgericht davon aus, dass nur bei objektiver Unmöglichkeit des Handelns eine Wiederherstellung in Frage kommen könne (BGE 60 II 353 f.). Diese Rechtsprechung wurde zwar in BGE 76 I 356 ff. als zu eng bezeichnet, doch blieb der bei der Anwendung der Wieder-
herstellungsvorschriften angelegte Massstab weiterhin sehr streng (vgl. BGE
114 Ib 69 f. E. 2; BGE 1A.487/1987 vom 11. Januar 1988 E. 2, Praxis 77/1988 Nr. 152). Die Wiederherstellung ist auch nach heutiger bundesgerichtlicher Praxis nur bei klarer Schuldlosigkeit des Gesuchstellers und seines Vertreters zu gewähren (BGE 1P.380/2005 vom 8. September 2005 E. 3.1
f. mit Hinweisen; BGE 1P.151/2002 vom 28. Mai 2002 mit Hinweisen, BGE B 107/01 vom 23. Juli 2003 E. 2.2, SZS 2004 S. 470). Bei grobem Verschulden besteht damit selbst bei Zustimmung der Gegenseite kein Anspruch auf Wiederherstellung.
c) Das Verpassen der Berufungsfrist kann vorliegend als grobe Verletzung der Sorgfaltspflicht des amtlichen Verteidigers bezeichnet werden. Es steht zudem fest, dass der Angeklagte auf Grund des Fehlers seines Verteidigers der Möglichkeit der Überprüfung des erstinstanzlichen Entscheids mittels eines ordentlichen Rechtsmittels verlustig ging; ihn persönlich trifft an der Fristversäumnis keinerlei Verschulden. Der Angeklagte wurde jedoch nicht zu einer Freiheitsstrafe, sondern zu zwei Geldstrafen von je 90 Tagessätzen zu Fr. 40.- und zu einer Busse von Fr. 200.verurteilt, wobei die zweite Geldstrafe bedingt mit einer Probezeit von 4 Jahren aufgeschoben wurde. In der Berufung ist der Schuldspruch unangefochten; der Angeklagte rügt le-
diglich die Zahl und die Höhe der Tagessätze, die Nichtgewährung des bedingten Strafvollzugs für die erste Geldstrafe sowie die Dauer der Probezeit. Es ist damit davon auszugehen, dass der Ausschluss der Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils für den Angeklagten, der sich mit dem Urteil nicht einverstanden erklärt, nicht mit einschneidenden Folgen verbunden wäre. Weiter drängt sich hier ein Vergleich mit Fällen auf, in denen im Strafverfahren lediglich noch finanzielle Interessen zu beurteilen wären. Ein Fehler des Verteidigers im Verfahren betreffend Beurteilung der finanziellen Folgen kann gegebenenfalls die vermögensrechtliche Verantwortlichkeit des Verteidigers nach sich ziehen, während im Strafverfahren eine Schadloshaltung bei Verbüssung einer Freiheitsstrafe zufolge eines prozessualen Fehlers des Verteidigers nicht in adäquater Weise möglich ist. Unter diesen Umständen ist im vorliegenden Fall nicht gerechtfertigt, die Regel, wonach sich eine Partei ein grobes Verschulden ihres Rechtsvertreters anrechnen lassen muss, zu durchbrechen. Da es sich bei der Fristversäumnis des amtlichen Verteidigers um ein grobes Verschulden handelt und hier keine Freiheitsstrafe in Frage steht, ist selbst bei Zustimmung der Gegenseite eine Wiederherstellung der Frist ausgeschlossen.
Der Angeklagte muss sich damit die Fristversäumnis seines amtlichen Verteidigers anrechnen lassen. Sein Gesuch um Wiederherstellung der Frist zur Anmeldung der Berufung ist demzufolge abzuweisen. Auf die Berufung ist wegen Verspätung nicht einzutreten.
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