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Urteil Obergericht (SH)

Zusammenfassung des Urteils Nr. 10/2012/19: Obergericht

Im Berufungsverfahren sind nur noch neue Tatsachen und Beweismittel zulässig, die ohne Verzug vorgebracht werden und trotz zumutbarer Sorgfalt nicht schon vor erster Instanz vorgebracht werden konnten. Es gibt Uneinigkeit darüber, ob dieses eingeschränkte Novenrecht auch gilt, wenn der Sachverhalt von Amtes wegen zu ermitteln ist. Das Obergericht des Kantons Schaffhausen hat bisher Noven im Berufungsverfahren bei Geltung des Untersuchungsgrundsatzes uneingeschränkt zugelassen. Die Gesetzesauslegung zeigt, dass die Beschränkung des Novenrechts auch in Verfahren mit geltendem Untersuchungsgrundsatz anwendbar ist. Das Bundesgericht hat dies ebenfalls bestätigt.

Urteilsdetails des Kantongerichts Nr. 10/2012/19

Kanton:SH
Fallnummer:Nr. 10/2012/19
Instanz:Obergericht
Abteilung:-
Obergericht Entscheid Nr. 10/2012/19 vom 23.10.2012 (SH)
Datum:23.10.2012
Rechtskraft:-
Leitsatz/Stichwort: Art. 272 und Art. 317 Abs. 1 ZPO. Novenrecht im Berufungsverfahren bei Geltung des Untersuchungsgrundsatzes
Schlagwörter : Noven; Novenrecht; Verfahren; Berufung; Berufungsverfahren; Sachverhalt; Amtes; Untersuchungs; Instanz; Untersuchungsgrundsatz; Tatsachen; Schweizerische; Zivilprozessordnung; Sorgfalt; Beweismittel; Verzug; Lehre; Geltung; Untersuchungsgrundsatzes; Rechtsprechung; Obergericht; Kantons; Sachverhaltsabklärung; Auslegung; Vorentwurf
Rechtsnorm:Art. 229 ZPO ;Art. 247 ZPO ;Art. 272 ZPO ;Art. 317 ZPO ;
Referenz BGE:137 III 470; 137 V 170;
Kommentar:
-

Entscheid des Kantongerichts Nr. 10/2012/19

Art. 272 und Art. 317 Abs. 1 ZPO. Novenrecht im Berufungsverfahren bei Geltung des Untersuchungsgrundsatzes (OGE 10/2012/19 vom 23. Oktober 2012)

Keine Veröffentlichung im Amtsbericht

Im Berufungsverfahren sind auch bei Geltung des Untersuchungsgrundsatzes nur noch Noven zu berücksichtigen, welche ohne Verzug vorgebracht werden und welche trotz zumutbarer Sorgfalt nicht schon vor erster Instanz vorgebracht werden konnten.

Aus den Erwägungen:

4.b) Gemäss Art. 317 Abs. 1 ZPO1 werden im Berufungsverfahren neue Tatsachen und Beweismittel nur noch berücksichtigt, wenn sie ohne Verzug vorgebracht werden (lit. a) und trotz zumutbarer Sorgfalt nicht schon vor erster Instanz vorgebracht werden konnten (lit. b). Nun gilt für das vorliegende Eheschutzverfahren der Untersuchungsgrundsatz (Art. 272 ZPO). In Rechtsprechung und Lehre ist umstritten, ob das eingeschränkte Novenrecht im Berufungsverfahren auch dann gilt, wenn der Sachverhalt von Amtes wegen zu ermitteln ist. Das Obergericht des Kantons Schaffhausen hat bisher Noven im Berufungsverfahren bei Geltung des Untersuchungsgrundsatzes unbeschränkt zugelassen. Die Rechtsprechung der Kantone ist uneinheitlich, soweit sie bis heute überhaupt diese Frage entschieden haben. So hat die

II. Zivilkammer des Zürcher Obergerichts festgehalten, dass neue Behauptungen im Berufungsverfahren unbeschränkt zulässig sind, wenn der Sachverhalt von Amtes wegen abzuklären ist.2 Die I. Zivilkammer des Zürcher Obergerichts hat hingegen unlängst ihre Praxis bestätigt, dass die in Art. 317 Abs. 1 ZPO vorgesehene Beschränkung des Novenrechts auch in Verfahren gilt, in denen der Sachverhalt von Amtes wegen festzustellen ist.3 In gleicher Weise hat sich das Kantonsgericht Basel-Landschaft ausgesprochen.4 Die Lehre ist in dieser Frage ebenfalls gespalten. Ein Teil der Lehre befürwortet

1 Schweizerische Zivilprozessordnung vom 19. Dezember 2008 (Zivilprozessordnung, ZPO,

SR 272).

2 ZR 110/2011 Nr. 111, S. 317 f.

3 ZR 111/2012 Nr. 35, S. 95.

  1. Entscheid des Kantonsgerichts Basel-Landschaft, Abteilung Zivilrecht, vom 24. Januar 2012, 410 11 264.

    in Fällen der Sachverhaltsabklärung von Amtes wegen das eingeschränkte Novenrecht gemäss Art. 317 Abs. 1 ZPO,5 während ein anderer Teil der Lehre Noven in analoger Anwendung von Art. 229 Abs. 3 ZPO zulassen will.6 Die Gesetzesauslegung hat zu beantworten, ob Art. 317 Abs. 1 ZPO auch in Verfahren mit geltendem Untersuchungsgrundsatz anwendbar ist.7

    Nach dem Gesetzeswortlaut von Art. 317 Abs. 1 ZPO findet das eingeschränkte Novenrecht auf alle Berufungsverfahren Anwendung. Eine Ausnahme für Verfahren mit geltendem Untersuchungsgrundsatz sieht Art. 317 Abs. 1 ZPO im Gegensatz zu Art. 229 Abs. 3 ZPO nicht vor.

    Die Berücksichtigung der Materialien führt zum gleichen Ergebnis. Nach ständiger Rechtsprechung stellen die Materialien, gerade bei jüngeren Gesetzen, ein wichtiges Erkenntnismittel dar, von dem im Rahmen der Auslegung Gebrauch zu machen ist.8 Im Vorentwurf der Expertenkommission sah der damalige Art. 297 Abs. 1 mit Verweis auf den damaligen Art. 215 Abs. 2 im Berufungsverfahren ein eingeschränktes Novenrecht vor.9 Neue Tatsachen und Beweismittel sollten nur berücksichtigt werden, wenn sie sofort vorgebracht werden und ihr Vorbringen auch bei zumutbarer Sorgfalt nicht vorher möglich war sie durch Ausübung des gerichtlichen Fragerechts veranlasst wurden. In Verfahren betreffend Kinderbelange sah er hingegen ein uneingeschränktes Novenrecht bis zur Appellationsantwort vor, nachher ein eingeschränktes Novenrecht. Dies geschah mit Blick auf den im Verfahren betreffend Kinderbelange geltenden Untersuchungsund Offizialgrundsatz, wonach der Sachverhalt nicht nur ermittelt wird, sondern auch erforscht.10 Der bundesrätliche Entwurf der ZPO sah schliesslich einen Verweis auf das erstinstanzliche Novenrecht vor (Art. 314 Abs. 1 EZPO11). Die Parteien können bis und mit den ersten Parteivorträgen neue Tatsachen und Beweismittel vorbringen (Art. 225 Abs. 1 EZPO). Danach werden neue Tatsachen und Beweismittel nur noch berücksichtigt, wenn sie ohne Verzug vorgebracht werden und erst nach den ersten Parteivorträgen entstanden gefunden worden sind (echte Noven; Abs. 2 lit. a) bereits vor den ersten Partei-

  2. Isaak Meier, Schweizerisches Zivilprozessrecht, Zürich 2010, S. 490.

  3. Reetz/Hilber in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger (Hrsg.), Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung, Zürich 2010, Art. 317 N. 14 und 20, S. 2032; Karl Spühler, Basler

    Kommentar, ZPO, Basel 2010, Art. 317 N. 7, S. 1498 f.

  4. Vgl. zur Methodik der Gesetzesauslegung BGE 137 III 470 E. 6.4.

8 BGE 137 V 170 E. 3.2.

  1. Vorentwurf der Expertenkommission, Juni 2003.

  2. Schweizerische Zivilprozessordnung, Bericht zum Vorentwurf der Expertenkommission, Juni 2003, S. 140 f.

  3. Entwurf Schweizerische Zivilprozessordnung vom 28. Juni 2006, BBl 2006 7413.

    vorträgen vorhanden waren, aber trotz zumutbarer Sorgfalt nicht vorher vorgebracht werden konnten (unechte Noven; Abs. 2 lit. b). Hat das Gericht den Sachverhalt von Amtes wegen abzuklären, so berücksichtigt es neue Tatsachen und Beweismittel bis zur Urteilsberatung (Abs. 3). Das Novenrecht war in den parlamentarischen Beratungen bis zuletzt umstritten. Der Mehrheitsantrag der nationalrätlichen Kommission sah vor, dass bei der Berufung neue Tatsachenbehauptungen, Beweisanträge, Bestreitungen und Einreden unbeschränkt vorgebracht werden können.12 Eine Minderheit wollte hingegen dem Ständerat folgen.13 Dieser hatte vorgesehen, dass in der zweiten Instanz nicht mehr der ganze Prozess wiederholbar sein soll. Dies zum einen im Interesse der Verfahrensdisziplin, zum andern zwecks Verfahrensbeschleunigung. Unterstützt wurde der Minderheitsantrag auch von Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf, mit dem Argument, dass ein unbeschränktes Novenrecht vor der oberen Instanz das erstinstanzliche Verfahren entwerten und unsorgfältiges Prozessieren belohnen würde. Äusserst knapp, mit 85 zu 83 Stimmen, setzte sich im Rat schliesslich der Minderheitsantrag durch.14 Auch die historische Auslegung steht somit klar einer sinngemässen Anwendung von Art. 229 Abs. 3 ZPO im Berufungsverfahren entgegen.

    Zum gleichen Ergebnis führt die Gesetzessystematik. Art. 229 Abs. 3 ZPO sieht für erstinstanzliche Verfahren mit Sachverhaltsabklärung von Amtes wegen ein uneingeschränktes Novenrecht bis zur Urteilsberatung vor, während für das Berufungsverfahren eine entsprechende Regelung fehlt. Auch Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung sind klar. Verfahren mit Sachverhaltsabklärung von Amtes wegen werden zum Teil als vereinfachte (Art. 247 Abs. 2 ZPO) und summarische Verfahren (Art. 255 und Art. 272 ZPO) geführt. Ein wichtiges Ziel beider Verfahren ist es, das Verfahren zu beschleunigen.15 Ein uneingeschränktes Novenrecht würde dies in Frage stel-

    len. Auch kann der Untersuchungsgrundsatz nicht zum Zweck haben, das Versäumte in der zweiten Instanz nachzuholen und so den Instanzenzug zu verkürzen.

    Als Auslegungsergebnis kann somit festgehalten werden, dass die in Art. 317 Abs. 1 ZPO vorgesehene Beschränkung des Novenrechts auch in Verfahren zu gelten hat, in denen der Sachverhalt von Amtes wegen festzustellen ist.

    Auch das Bundesgericht hat in einem neuesten zur Publikation in der amtlichen Sammlung vorgesehenen Entscheid in diesem Sinn festgehalten:

  4. Amtliches Bulletin des Nationalrats, AB 2008 N 971.

  5. AB 2008 N 1632, Art. 314 Abs. 1, Fluri Kurt (RL, SO).

  6. AB 2008 N 1632, 1634, Art. 314 Abs. 1, Widmer-Schlumpf Eveline.

  7. Botschaft zur Schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO), BBl 2006 7345 und 7349.

Il résulte clairement de la systématique de la loi que l'art. 229 al. 3 CPC ne s'applique qu'à la procédure de première instance. L'art. 317 CPC concerne la procédure d'appel et ne contient aucun renvoi, ni aucune règle speciale pour la procédure simplifiée ou pour les cas où le juge établit les faits d'office. Qu'un renvoi ait été prévu dans le projet du Conseil fédéral et qu'il ait été éliminé lors des traveaux parlementaires incite plutôt à penser que le législateur n'en a pas voulu.16

Es sind damit im Berufungsverfahren nur noch Noven zu berücksichtigen, welche ohne Verzug vorgebracht werden und welche trotz zumutbarer Sorgfalt nicht schon vor erster Instanz vorgebracht werden konnten (Art. 317 Abs. 1 ZPO).

16 BGer 4A_228/2012 vom 28. August 2012, E. 2.2.

Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.

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