Zusammenfassung des Urteils IV 2019/277: Versicherungsgericht
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hat beschlossen, ein polydisziplinäres Gerichtsgutachten in Auftrag zu geben, nachdem das Bundesgericht dies angeordnet hatte. Die Parteien wurden über die Auswahl der Gutachterstelle ABI GmbH informiert und hatten die Möglichkeit, dazu Stellung zu nehmen. Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers protestierte gegen die Auswahl der Gutachterstelle und äusserte Bedenken hinsichtlich deren Unparteilichkeit. Das Versicherungsgericht wies diese Bedenken jedoch zurück und beauftragte die ABI GmbH mit der Erstellung des Gutachtens. Der Beschluss kann beim Bundesgericht angefochten werden, wobei die Kosten- und Entschädigungsfolgen noch im Hauptentscheid geregelt werden.
Kanton: | SG |
Fallnummer: | IV 2019/277 |
Instanz: | Versicherungsgericht |
Abteilung: | IV - Invalidenversicherung |
Datum: | 17.03.2020 |
Rechtskraft: | - |
Leitsatz/Stichwort: | Entscheid Art. 61 lit. c ATSG. Gerichtsgutachten. Wahl der Gutachterstelle. Anschein der Befangenheit. Die oft vorgebrachte Argumentation, gewisse Gutachterstellen würden zu versichertenfeindlichen Gutachten tendieren, um weiterhin möglichst viele Aufträge von den IV-Stellen erhalten zu können, läuft nicht nur auf eine (Anscheins-) Befangenheit der Gutachterstellen, sondern auch auf eine (Anscheins-) Befangenheit der IV-Stellen und auf eine (Anscheins-) Befangenheit der Aufsichtsbehörde (BSV) hinaus. Würde man dieser Argumentation folgen, müsste der Vollzug des IVG wohl weitgehend zum Stillstand kommen (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 17. März 2019, IV 2019/277 Z). |
Schlagwörter : | Gutachten; Sachverständige; Sachverständigen; IV-Stelle; Abklärung; Arbeitsfähigkeit; IV-Stellen; Voreingenommenheit; Versicherungsgericht; Abklärungsstelle; Gallen; Abklärungsstellen; Parteien; Kantons; Bundesgericht; Fragen; Beurteilung; Beschwerdeführers; Erfahrung; Indiz; Auftrag; Diagnosen; Möglichkeit; Gutachterstelle; Befangenheit |
Rechtsnorm: | - |
Referenz BGE: | 141 V 281; 143 V 409; |
Kommentar: | - |
Besetzung
Präsident Ralph Jöhl, Versicherungsrichterinnen Monika Gehrer-Hug und Karin HuberStuderus; Gerichtsschreiber Tobias Bolt
Geschäftsnr. IV 2019/277 Z
Parteien
A. ,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. iur. Ronald Pedergnana, Rorschacher Strasse 21, Postfach 27, 9004 St. Gallen,
gegen
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Postfach 368, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin,
Gegenstand Rente Sachverhalt
Nachdem das Bundesgericht das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit
seinem Urteil 9C_463/2019 vom 25. September 2019 verpflichtet hatte, ein polydisziplinäres Gerichtsgutachten in Auftrag zu geben, hat das Versicherungsgericht die Parteien mit einem Schreiben vom 30. Oktober 2019 darüber informiert (act. G 2), dass es vorsehe, den Auftrag an die ABI GmbH zu vergeben. Zudem hat das Versicherungsgericht den Parteien mitgeteilt, dass es den Sachverständigen die folgenden Fragen unterbreiten werde: (1) Diagnosen (Verschlüsselung gemäss ICD-10) und Prognose (2) Beurteilung der Arbeitsfähigkeit in der angestammten Tätigkeit als Produktionsmitarbeiter (3) Beurteilung der Arbeitsfähigkeit in einer ideal leidensadaptierten Tätigkeit (mit Umschreibung des Anforderungsprofils) (4) Möglichkeiten zur Verbesserung der Arbeitsfähigkeit durch medizinische Massnahmen (5) Mutmasslicher Beginn und Verlauf einer allfälligen Arbeitsunfähigkeit (6) Weitere Bemerkungen Das Versicherungsgericht räumte den Parteien die Möglichkeit ein, Stellung zur vorgesehenen Gutachterstelle und zu den Fragen zu nehmen.
Die Beschwerdegegnerin beantragte am 8. November 2019 (act. G 3), dass der psychiatrische Sachverständige verpflichtet werde, sich zu den vom Bundesgericht im BGE 141 V 281 definierten „Standardindikatoren“ zu äussern. Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers machte am 18. November 2019 geltend (act. G 4), er protestiere gegen die Auswahl der Gutachterstelle. Seiner Erfahrung nach seien Gutachten der ABI GmbH meist zugunsten der IV-Stellen ausgefallen. Die ABI GmbH sei eine jener Gutachtensinstitute, die bekannt für ihren zynischen Umgang mit Menschen seien und
von denen angenommen werden müsse, dass sie profitorientiert und weniger im Sinne einer Dienstleistung am Menschen dem System geschäften würden. ABIGutachten seien überdurchschnittlich Gegenstand von Beschwerden. Es gebe haarsträubende Beispiele von ABI-Gutachten, bei denen auch offensichtlich sei, dass die internen Qualitätskontrollen versagen würden. Ein ABI-Gutachten sei nie unvoreingenommen.
Erwägungen
1.
Die ABI GmbH zeichnet sich generell durch eine überdurchschnittlich kurze Bearbeitungszeit bei der Erstellung von polydisziplinären Gutachten aus. Angesichts der langen Verfahrensdauer im vorliegenden Fall besteht ein grosses Interesse an einer möglichst beförderlichen Weiterführung, weshalb die Wahl der Gutachterstelle auf die ABI GmbH gefallen ist. Die langjährige Erfahrung der Abteilung II des Versicherungsgerichts des Kantons St.Gallen mit einer erheblichen Anzahl von Gutachten der ABI GmbH deckt sich nicht mit den Ausführungen des Beschwerdeführers in dessen Eingabe vom 18. November 2019 (act. G 4). Die ABIGutachten haben nie Indizien für eine versichertenfeindliche Anamneseerhebung und - darstellung, für eine versichertenfeindliche unvollständige nicht lege artis durchgeführte Untersuchung für eine generelle Voreingenommenheit der medizinischen Sachverständigen zulasten der untersuchten Versicherten enthalten. Dass ab und zu Rückfragen erforderlich gewesen sind, entspricht der Erfahrung mit den Gutachten anderer medizinischer Abklärungsstellen; darin kann offensichtlich kein Indiz für eine Voreingenommenheit zulasten der untersuchten Versicherten gesehen werden. Dass die von den medizinischen Sachverständigen der ABI GmbH erhobenen Diagnosen und insbesondere deren Arbeitsfähigkeitsschätzungen meist nicht mit denjenigen der behandelnden Ärzte übereingestimmt haben, entspricht der Erfahrung mit den MEDAS-Gutachten allgemein und kann deshalb kein Indiz für eine Voreingenommenheit der medizinischen Sachverständigen zulasten der Versicherten sein, sondern dürfte wohl eher ein Indiz für eine Voreingenommenheit der Behandler zugunsten ihrer Patienten sein. Der Vorwurf der generellen Befangenheit der medizinischen Sachverständigen der ABI GmbH zulasten der untersuchten Versicherten erweist sich deshalb als unberechtigt.
Das immer wieder auftauchende Argument, die medizinischen Sachverständigen der ABI-GmbH müssten schon deshalb zumindest dem objektiven Anschein nach befangen sein, weil die ABI GmbH sehr viele Gutachten zuhanden der IV-Stellen
produziere und deshalb von diesen wirtschaftlich abhängig sei, ist offensichtlich nicht stichhaltig, denn auch viele andere (kleinere) medizinische Abklärungsstellen erstellen die meisten ihrer Gutachten zuhanden der Invalidenversicherung. Wäre das Argument der wirtschaftlichen Abhängigkeit stichhaltig, wären wohl mindestens vier Fünftel aller Gutachten für die Invalidenversicherung von dem objektiven Anschein nach befangenen medizinischen Sachverständigen erstellt. Tatsächlich könnte nur dann von der wirtschaftlichen Abhängigkeit der medizinischen Abklärungsstellen auf deren Befangenheit zulasten der untersuchten Versicherten geschlossen werden, wenn den IV-Stellen unterstellt würde, sie seien ebenfalls voreingenommen zulasten der Versicherten. Die IV-Stellen hätten nämlich nur unter dieser Voraussetzung ein Interesse an einem versichertenfeindlichen Gutachten einer medizinischen Abklärungsstelle. Wer den medizinischen Abklärungsstellen also eine Voreingenommenheit zulasten der untersuchten Versicherten und damit zugunsten der IV-Stellen unterstellt, behauptet notwendigerweise eine Voreingenommenheit der IVStellen zulasten der Versicherten. Diese Unterstellung würde wiederum zur Schlussfolgerung zwingen, dass auch die Aufsichtsbehörde über die IV-Stellen zulasten der Versicherten voreingenommen sein müsse, weil sie die Voreingenommenheit der von ihr zugelassenen medizinischen Abklärungsstellen ignoriere und damit de facto absegne. Die mit einer solchen den gesamten Abklärungsapparat der Invalidenversicherung betreffenden Voreingenommenheit zulasten der Versicherten verbundene Missachtung des Untersuchungsgrundsatzes beziehungsweise der gesetzlichen Beweisführungsund Beweiswürdigungsregeln würde sowohl den Gleichbehandlungsgrundsatz als auch das Legalitätsprinzip aushebeln, so dass die IV-Stellen generell als objektiv „anscheinsbefangen“ zu betrachten wären, womit der Vollzug des IVG wohl zum Stillstand käme. Tatsächlich kann aus der wirtschaftlichen Abhängigkeit (was auch immer darunter zu verstehen ist) natürlich nicht auf eine Befangenheit der medizinischen Abklärungsstellen geschlossen werden, denn der Auftrag der IV-Stellen lautet immer, es sei eine streng objektive und unvoreingenommene Abklärung des Gesundheitszustandes und der Arbeitsfähigkeit der Versicherten vorzunehmen. Einem erkennbar zulasten der untersuchten versicherten Person voreingenommen abgefassten Gutachten wird jede IV-Stelle den Beweiswert absprechen. Das gilt natürlich auch für das Versicherungsgericht des Kantons St.Gallen. Daher können die medizinischen Sachverständigen der ABI GmbH zum Vornherein keinen Anlass haben, zulasten des Beschwerdeführers voreingenommen zu sein.
Einer Begutachtung des Beschwerdeführers durch die medizinischen Sachverständigen der ABI GmbH steht somit nichts im Wege. Die Fragen an die
medizinischen Sachverständigen lauten: (1) Diagnosen (Verschlüsselung gemäss ICD-10) und Prognose (2) Beurteilung der Arbeitsfähigkeit in der angestammten
Tätigkeit als Produktionsmitarbeiter (3) Beurteilung der Arbeitsfähigkeit in einer ideal leidensadaptierten Tätigkeit (mit Umschreibung des Anforderungsprofils) (4) Möglichkeiten zur Verbesserung der Arbeitsfähigkeit durch medizinische Massnahmen (5) Mutmasslicher Beginn und Verlauf einer allfälligen Arbeitsunfähigkeit (6) Weitere Bemerkungen
2.
Selbstverständlich wird das Versicherungsgericht die Sachverständigen der ABI GmbH verpflichten, die Begutachtung soweit notwendig auf der Grundlage der in den Urteilen des Bundesgerichtes BGE 141 V 281 und BGE 143 V 409 statuierten Vorgaben vorzunehmen.
3.
Dieser Zwischenentscheid dürfte mittels einer Beschwerde beim Bundesgericht angefochten werden können. Allerdings ist darauf hinzuweisen, dass dieses nur unter den Voraussetzungen der Art. 92 f. BGG auf eine entsprechende Beschwerde eintreten wird. Die Regelung der Kostenund Entschädigungsfolgen wird mit dem Entscheid in der Hauptsache erfolgen.
Entscheid
im Zirkulationsverfahren gemäss Art. 39 VRP
1.
Die ABI GmbH wird mit der Erstellung eines Gerichtsgutachtens zur Beantwortung der in der Erwägung 1.3 genannten Fragen beauftragt.
2.
Die Kostenund Entschädigungsfolgen werden im Entscheid in der Hauptsache geregelt werden.
Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.
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