Zusammenfassung des Urteils IV 2016/193: Versicherungsgericht
Der Text handelt von einem Rechtsstreit zwischen A. und der IV-Stelle des Kantons St. Gallen bezüglich medizinischer Massnahmen für eine Versicherte mit Geburtsgebrechen. Die IV-Stelle hatte die Kosten für die Behandlung zunächst zugesichert, später jedoch abgelehnt. Nach mehreren Anmeldungen und Verordnungen durch den Schweizerischen Kinderspitex Verein wurde die Beschwerde der Versicherten gegen die Nichteintretensverfügung der IV-Stelle gutgeheissen. Das Gericht entschied, dass das Leistungsbegehren materiell geprüft werden muss und wies die Gerichtskosten der unterliegenden IV-Stelle zu.
Kanton: | SG |
Fallnummer: | IV 2016/193 |
Instanz: | Versicherungsgericht |
Abteilung: | IV - Invalidenversicherung |
Datum: | 14.12.2017 |
Rechtskraft: | - |
Leitsatz/Stichwort: | Entscheid Art. 29 ATSG. Art. 87 Abs. 3 IVV. Neuanmeldung. Medizinische Massnahmen. Die Eintretenshürde des Art. 87 Abs. 3 IVV gilt nur für die in jener Bestimmung explizit aufgeführten Leistungsarten (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 14. Dezember 2017, IV 2016/193). |
Schlagwörter : | IV-act; Leistung; Woche; Massnahmen; Minuten; Pflege; IV-Stelle; Begehren; Sachverhalt; Eltern; Geburtsgebrechen; Entscheid; Leistungen; Neuanmeldung; Kantons; Behandlung; Verabreichung; Spitex; Prüfung; Recht; Kinderspitex; Verein; Gallen; Nichteintreten; Bezug; Vergütung; Schweizerische; Hilflosenentschädigung |
Rechtsnorm: | Art. 29 ATSG ;Art. 43 ATSG ; |
Referenz BGE: | - |
Kommentar: | - |
Besetzung
Präsident Ralph Jöhl, Versicherungsrichterinnen Monika Gehrer-Hug und Karin HuberStuderus; Gerichtsschreiber Tobias Bolt
Geschäftsnr.
IV 2016/193
Parteien
A. ,
Beschwerdeführerin,
vertreten durch den Schweizerischen Kinderspitex Verein,
Bahnhofstrasse 17, 9326 Horn,
gegen
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Postfach 368, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin,
Gegenstand
medizinische Massnahmen (pflegerische Massnahmen; Nichteintreten) Sachverhalt
A.
A. wurde im Januar 2013 unter Hinweis auf ein Geburtsgebrechen zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung angemeldet (IV-act. 1). Die Kinderklinik des Kantonsspitals B. berichtete im Mai 2013 (IV-act. 8), die Versicherte leide an einer Neugeborenenepilepsie und an einem Vorhofseptumdefekt beziehungsweise an den Geburtsgebrechen Ziff. 313 und 387 Anh. GgV. Mit zwei Mitteilungen vom 13. Juni 2013 (IV-act. 13 f.) sicherte die IV-Stelle den Eltern der Versicherten die Vergütung der zur Behandlung der Geburtsgebrechen Ziff. 313 und 387 Anh. GgV notwendigen medizinischen Massnahmen für die Zeit bis Ende Dezember 2017 zu. Am 22. Juni 2013 wurde die Versicherte erneut zum Leistungsbezug angemeldet (IV-act. 15). Die Kinderklinik des Kantonsspitals B. teilte am 8. Juli 2013 mit, dass zwischenzeitlich auch eine cerebrale Bewegungsstörung festgestellt worden sei (IV-act. 20). Am selben Tag berichtete die Hals-Nasen-Ohrenklinik des Kantonsspitals St. Gallen, dass die Versicherte an einer einseitigen Schwerhörigkeit leide (IV-act. 21). Am 25. Juli 2013 teilte die IV-Stelle den Eltern der Versicherten mit, dass sie auch die bis Ende Mai 2023 anfallenden Kosten der zur Behandlung des Geburtsgebrechens Ziff. 446 Anh. GgV (angeborene Schwerhörigkeit) notwendigen medizinischen Massnahmen vergüten werde (IV-act. 27). Am 11. August 2013 wurde die Versicherte zum dritten Mal zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung angemeldet (IV-act. 30). Mit einer Mitteilung vom 11. September 2013 sicherte die IV-Stelle den Eltern der Versicherten die Vergütung der bis Ende Dezember 2014 anfallenden Kosten für die zur Behandlung des Geburtsgebrechens Ziff. 395 Anh. GgV (leichte cerebrale Bewegungsstörungen) notwendigen medizinischen Massnahmen zu (IV-act. 38). Im Oktober 2013 berichtete Dr. med. C. vom Kantonsspital St. Gallen, die Versicherte leide „eventuell“ am
Geburtsgebrechen Ziff. 427 Anh. GgV (Strabismus bzw. Mikrostrabismus; IV-act. 48). Im Dezember 2013 notierte Prof. Dr. med. D. vom IV-internen regionalen ärztlichen Dienst (RAD), für die nächsten zwei Jahre könne eine „Zusprache“ des Geburtsgebrechens Ziff. 427 Anh. GgV erfolgen (IV-act. 50). Am 11. Dezember 2013 teilte die IV-Stelle den Eltern der Versicherten mit, dass sie die bis Ende August 2015 anfallenden Kosten der zur Behandlung des Geburtsgebrechens Ziff. 427 Anh. GgV notwendigen medizinischen Massnahmen vergüten werde (IV-act. 51).
Am 11. April 2014 ging der IV-Stelle eine Verordnung für Spitex-Leistungen zu (IVact. 66). Der behandelnde Kinderarzt Dr. med. E. und der Schweizerische Kinderspitex Verein beantragten die Vergütung der Kosten der folgenden medizinischen Pflegemassnahmen: Fünf Stunden pro Jahr für die Evaluation des Pflegebedarfs, 35 Stunden pro Jahr für die Beratung und die Instruktion der Eltern, 7 × 5 Minuten pro Woche für die Beurteilung des Allgemeinzustandes, 21 × 10 Minuten pro Woche für die Unterstützung beim Abhusten von Sekret, 28 × 30 Minuten pro Woche für medizinische Massnahmen im Zusammenhang mit der Ernährung („hohe Aspirationsgefahr“), 14 × 15 Minuten pro Woche für die Verabreichung von Antiepileptika, 7 × 10 Minuten pro Woche für die Verabreichung eines zweiten Medikamentes und 1 × 10 Minuten pro Woche für die Verabreichung eines Reservemedikamentes sowie 7 × 480 Minuten pro Woche für eine dauernde intensive Überwachung mit einer überdurchschnittlich erhöhten Aufmerksamkeit und einer ständigen Interventionsbereitschaft. Im Mai 2014 gab die Mutter der Versicherten telefonisch an (IV-act. 70), die Spitex führe einen Einsatz pro Woche durch, der in der Regel von 16 Uhr bis 19 Uhr dauere. Die Medikamente würden hauptsächlich von den Eltern verabreicht. Die Unterstützung beim Abhusten sei vor allem in den Wintermonaten notwendig gewesen. Das Eingeben der Nahrung sei an und für sich problemlos. Nur verschlucke sich die Versicherte ab und zu beim Trinken. Die Spitex kümmere sich auch um das Eingeben des Essens, um das Wickeln und gegebenenfalls um die Körperpflege. Zudem spiele sie während der Abwesenheit der Eltern mit dem Mädchen. Die Mutter der Versicherten bemerkte nachträglich, man müsse ihre Tochter genau beobachten, damit man bei einem Anfall intervenieren könne. Beim Trinken müsse man ebenfalls kontinuierlich aufpassen. Der RAD-Arzt Prof. Dr. D. notierte im Juni 2014, Spitexeinsätze seien bei dieser Sachlage nicht indiziert, da keine medizinischen Pflegeleistungen erbracht würden, sondern nur eine Grundpflege
durchgeführt werde, deren Kosten durch die Hilflosenentschädigung allenfalls durch einen Intensivpflegezuschlag zu decken seien (IV-act. 71). Mit einem Vorbescheid vom 30. Juni 2014 teilte die IV-Stelle den Eltern der Versicherten mit, dass sie die Abweisung des Leistungsbegehrens vorsehe (IV-act. 74). Am 15. September 2014 verfügte sie entsprechend (IV-act. 84). Diese Verfügung erwuchs unangefochten in formelle Rechtskraft.
Am 22. Februar 2016 reichte der Schweizerische Kinderspitex Verein eine neue Verordnung für medizinische Pflegeleistungen ein (IV-act. 167). Der vorgesehene Pflegeaufwand belief sich auf fünf Stunden pro Jahr für die Evaluation des Pflegebedarfs, auf 35 Stunden pro Jahr für die Beratung und die Instruktion, auf 7 × 12 Minuten pro Woche für die Beurteilung des Allgemeinzustandes, auf 7 × 10 Minuten pro Woche für eine Atemtherapie, auf 21 × 25 Minuten pro Woche im Zusammenhang mit der Ernährung („Aspirationsgefahr“), auf 14 × 8 Minuten pro Woche für die Verabreichung der Antiepileptika, auf 7 × 10 Minuten pro Woche für die Verabreichung eines zweiten Medikamentes, auf 1 × 10 Minuten pro Woche für die Verabreichung eines Reservemedikamentes, auf 7 × 10 Minuten pro Woche für medizinische Massnahmen bei der Darmentleerung (Obstipation) und auf 7 × 480 Minuten pro Woche für eine dauernde intensive Überwachung mit einer überdurchschnittlich erhöhten Aufmerksamkeit und einer ständigen Interventionsbereitschaft. Eine Sachbearbeiterin der IV-Stelle notierte am 7. März 2016 (IV-act. 172), die Angaben der Mutter zum Pflegeaufwand hätten sich mit jenen aus dem Jahr 2014 gedeckt. Die Spitex leiste immer noch einen Einsatz pro Woche, nun aber jeweils von 9 Uhr bis
11.15 Uhr. Sie kümmere sich um das Baden, mache physiotherapeutische Übungen und achte währenddessen darauf, dass die Versicherte die eingenommenen Medikamente nicht wieder erbreche. Diese Notiz liess die IV-Stelle (anders als jene aus dem Jahr 2014) nicht unterzeichnen. Mit einem Vorbescheid vom 7. März 2016 teilte sie den Eltern der Versicherten mit, dass sie nicht auf das neue Leistungsbegehren eintreten werde, weil sich der massgebende Sachverhalt seit der letzten Leistungsverweigerung nicht wesentlich verändert habe (IV-act. 174). Am 9. Mai 2016 erliess sie eine entsprechende Nichteintretensverfügung (IV-act. 185).
B.
Dagegen liess die nun durch den Schweizerischen Kinderspitex Verein vertretene Versicherte (nachfolgend: die Beschwerdeführerin) am 13. Juni 2016 eine Beschwerde erheben (act. G 1). Der Rechtsvertreter beantragte die Feststellung, dass die medizinischen Massnahmen für die Zeit ab dem 1. Januar 2012 „im vollen Umfang“ geschuldet seien. Am 13. Juli 2016 (act. G 3) beantragte er - „entgegen dem in der Beschwerde gestellten Rechtsbegehren“ - die Vergütung des ärztlich angeordneten Pflegeaufwandes für die Zeit ab dem 2. Februar 2016, die Berücksichtigung der
„Verordnung 325.11“ und den Ersatz der effektiven Kosten anstelle des anhand eines Tarifs ermittelten Betrages. Zur Begründung führte er aus, die IV-Stelle (nachfolgend: die Beschwerdegegnerin) müsse den anlässlich einer Abklärung vor Ort ermittelten Bedarf berücksichtigen und dürfe nicht ohne jede Abklärung davon abweichen. Bereits die Abweisung des Leistungsbegehrens im Jahr 2014 sei ohne eine hinreichende Sachverhaltsabklärung verfügt worden.
Die Beschwerdegegnerin beantragte am 20. September 2016 die Abweisung der Beschwerde (act. G 5). Zur Begründung führte sie an, gestützt auf die Verordnung vom Februar 2016 und auf die telefonischen Angaben der Mutter der Beschwerdeführerin stehe fest, dass sich der massgebende Sachverhalt seit der Abweisung des Leistungsbegehrens im Jahr 2014 nicht wesentlich verändert habe. Folglich seien die Eintretens¬voraussetzungen in Bezug auf die Neuanmeldung nicht erfüllt.
Die Beschwerdeführerin verzichtete auf eine Replik (vgl. act. G 6 f.).
Erwägungen
1.
Bei der angefochtenen Verfügung vom 9. Mai 2016 handelt es sich um eine Nichteintretensverfügung. Das bedeutet, dass sich ihr Dispositiv auf den Entscheid beschränkt, das Begehren der Beschwerdeführerin um die Vergütung von medizinischen Massnahmen nicht materiell zu behandeln. Weil dieses Beschwerdeverfahren darauf abzielt, die angefochtene Verfügung auf ihre Rechtmässigkeit zu überprüfen, kann das Gericht nur der Frage nachgehen, ob es rechtmässig gewesen ist, nicht auf das Begehren der Beschwerdeführerin einzutreten.
Da die Beschwerdegegnerin jenes Begehren nicht materiell behandelt hat, verbietet sich auch im gerichtlichen Beschwerdeverfahren dessen materielle Prüfung. Das muss der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin übersehen haben, denn er hat nicht das Eintreten auf das Begehren beantragt, sondern materielle Anträge gestellt, die nicht vom Gegenstand dieses Beschwerdeverfahrens erfasst sein können. In diesen materiellen Anträgen muss allerdings notwendigerweise der (sinngemässe) Antrag enthalten sein, der angefochtene Nichteintretensentscheid sei durch einen verfahrensleitenden Eintretensentscheid zu ersetzen. Das vorliegende Beschwerdeverfahren hat sich auf die Prüfung dieses (sinngemässen) Antrags zu beschränken.
2.
Der Art. 29 ATSG sieht ein jederzeitiges Anmelderecht in Bezug auf Sozialversicherungsleistungen und damit notwendigerweise auch einen Anspruch auf eine materielle Behandlung einer entsprechenden Anmeldung vor. Da im Art. 29 ATSG nicht zwischen erstmaligen Anmeldungen und sogenannten Neuoder Wiederanmeldungen (erneuten Anmeldungen nach einer formell rechtskräftigen Gesuchsabweisung) unterschieden wird, muss das jederzeitige Anmelderecht auch für Neuanmeldungen gelten. Dieses Recht wird vom Art. 87 Abs. 2 und 3 IVV für bestimmte Leistungen der Invalidenversicherung eingeschränkt, nämlich für die Rente, für die Hilflosenentschädigung und für den Assistenzbeitrag. Die ratio legis des Art. 87 Abs. 2 und 3 IVV besteht darin, die IV-Stellen vor jenem Aufwand zu schützen, mit dem diese konfrontiert wären, wenn Versicherte immer wieder Anmeldungen zum Leistungsbezug einreichen könnten, die von den IV-Stellen umfassend materiell geprüft werden müssten. Ein solcher, rein verfahrensökonomisch begründeter Schutzbedarf besteht in Bezug auf die im Art. 87 IVV namentlich erwähnten Leistungen - Rente, Hilflosenentschädigung und Assistenzbeitrag -, da die Sachverhaltsabklärung diesbezüglich oft äusserst aufwendig ist. Über andere Leistungsansprüche kann dagegen regelmässig mit einem eher geringen Abklärungsaufwand entschieden werden. Auch wenn sich der Art. 87 IVV nicht auf eine explizite gesetzliche Grundlage stützen kann, die eine Einschränkung des im Art. 29 ATSG verankerten jederzeitigen Anmelderechtes erlauben würde, trägt er doch offenkundig einem wesentlichen praktischen Interesse Rechnung, ohne dafür die gesetzliche Regelung im Art. 29 ATSG
in einem unverhältnismässig hohen Mass einzuschränken. Also ist er vom Vollzugsverordnungsauftrag im Art. 86 Abs. 2 Satz 1 IVG abgedeckt. Die Anwendung des Art. 87 Abs. 2 und 3 IVV führt auch nicht zu einer rechtsungleichen Behandlung der Versicherten, denn die Eintretenshürde für Neuanmeldungen stützt sich auf einen sachlichen Grund, nämlich auf die Vermeidung eines unnötigen Verfahrensaufwandes (Verfahrensökonomie). Aus diesen Gründen kann der Art. 87 Abs. 2 und 3 IVV trotz der fehlenden expliziten gesetzlichen Grundlage als gesetzmässig qualifiziert werden. Eine Ausweitung des Anwendungsbereichs des sich nicht auf eine explizite gesetzliche Grundlage stützenden Art. 87 Abs. 2 und 3 IVV ist dagegen nicht zu rechtfertigen, weil damit die Gefahr einer eigentlichen Untergrabung des im Art. 29 ATSG verankerten Grundsatzes verbunden wäre. Eine Anwendung des Art. 87 Abs. 2 und 3 IVV auf von diesem nicht namentlich erwähnte Leistungen könnte nämlich nur in Betracht kommen, wenn deren Prüfung eine ebenso aufwendige Sachverhaltsabklärung wie die Prüfung eines Rentenbegehrens, eines Begehrens um eine Hilflosenentschädigung eines Begehrens um einen Assistenzbeitrag erfordern würde, das heisst wenn unterstellt werden müsste, dass eine Leistung versehentlich nicht in die im Art. 87 IVV enthaltene Aufzählung aufgenommen worden sei. An der früheren Praxis des Versicherungsgerichtes des Kantons St. Gallen, mit der die im Art. 87 Abs. 3 IVV enthaltene Aufzählung (vermeintlich) lückenfüllend auf sämtliche Leistungen der Invalidenversicherung ausgedehnt worden war (vgl. etwa den Entscheid IV 2008/293 des St. Galler Versicherungsgerichtes vom 14. Dezember 2009, E. 3 in fine), kann deshalb nicht länger festgehalten werden. Auf Neuanmeldungen betreffend medizinische Massnahmen kann der Art. 87 Abs. 2 und 3 IVV folglich offensichtlich nicht angewendet werden, denn die Prüfung einer entsprechenden Neuanmeldung erfordert in aller Regel keinen Sachverhaltsabklärungsaufwand, der mit jenem betreffend eine Rente, eine Hilflosenentschädigung einen Assistenzbeitrag verglichen werden könnte. Folglich rechtfertigt es sich nicht, die IV-Stellen in Abweichung vom Wortlaut des Art. 29 ATSG vor jenem Aufwand zu schützen, der für die Prüfung eines (erneuten) Begehrens um medizinische Massnahmen notwendig ist. Mit anderen Worten muss bei einer Neuanmeldung betreffend medizinische Massnahmen nicht erst glaubhaft gemacht werden, dass sich der anspruchsbegründende Sachverhalt seit der letzten Leistungsverweigerung wesentlich verändert hat. Jede Neuanmeldung für medizinische Massnahmen ist materiell zu
prüfen. Die Beschwerdegegnerin hätte folglich auf das Begehren vom 22. Februar 2016 eintreten müssen.
Angesichts der Akten besteht zwar Anlass zur Annahme, dass sich hinsichtlich des massgebenden medizinischen Pflegebedarfs nichts geändert haben könnte respektive dass die Beschwerdeführerin nach wie vor keine medizinische Pflege benötigt habe. Das Versicherungsgericht würde aber den Gegenstand dieses Beschwerdeverfahrens in unzulässiger Weise ausdehnen, wenn es sich - direkt mit der Frage nach dem massgebenden medizinischen Pflegebedarf befassen würde, bevor die Beschwerdegegnerin überhaupt auf das entsprechende Begehren eingetreten ist. Deshalb muss sich das Versicherungsgericht damit begnügen, den Nichteintretensentscheid aufzuheben und durch den verfahrensleitenden Entscheid zu ersetzen, dass das Leistungsbegehren materiell zu prüfen sei. Die Beschwerdegegnerin wird den massgebenden Sachverhalt umfassend abklären. Dabei wird sie berücksichtigen, dass jener Aufwand, den sie im Zusammenhang mit dem ersten Begehren vom April 2014 betrieben hat, nicht als ausreichend für die Erfüllung der Untersuchungspflicht (Art. 43 Abs. 1 ATSG) qualifiziert werden kann. Sie wird wohl nicht um eine Abklärung an Ort und Stelle herumkommen. Zudem wird sie berücksichtigen, dass für die Festsetzung eines „Kostendachs“ nicht der Umfang der tatsächlich von medizinischen Fachpersonen erbrachten medizinischen Pflege, sondern vielmehr jener Bedarf massgebend ist, der maximal notwendig ist, um den medizinischen Pflegebedarf abzudecken (vgl. etwa den Entscheid IV 2015/352 des St. Galler Versicherungsgerichtes vom 29. November 2016, E. 3.1). Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass die Qualifikation der meisten hier geltend gemachten Spitexleistungen als medizinische Pflegemassnahmen gemäss Art. 13 IVG fraglich ist.
3.
Die Gerichtskosten von 600 Franken sind der unterliegenden Beschwerdegegnerin aufzuerlegen. Der Beschwerdeführerin wird der von ihr geleistete Kostenvorschuss von 600 Franken zurückerstattet. Da die für den Schweizerischen Kinderspitex Verein handelnde Juristin nicht im kantonalen Anwaltsregister eingetragen ist, besteht kein Anspruch auf eine Parteientschädigung.
Entscheid
im Zirkulationsverfahren gemäss Art. 39 VRP
1.
Soweit auf die Beschwerde eingetreten kann, wird diese gutgeheissen; die angefochtene Verfügung vom 9. Mai 2016 wird aufgehoben und durch den verfahrensleitenden Entscheid ersetzt, dass das Begehren um medizinische Massnahmen vom 22. Februar 2016 im Sinne der Erwägungen materiell zu prüfen sei; dazu wird die Sache der Beschwerdegegnerin überwiesen.
2.
Die Beschwerdegegnerin hat die Gerichtskosten von Fr. 600.-zu bezahlen; der Beschwerdeführerin wird der von ihr geleistete Kostenvorschuss von Fr. 600.-zurückerstattet.
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