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Urteil Versicherungsgericht (SG)

Zusammenfassung des Urteils IV 2010/344: Versicherungsgericht

Der Beschwerdeführer leidet an einer kongenitalen Erkrankung und hat seit seiner Geburt gesundheitliche Probleme. Er beantragte eine Hilflosenentschädigung, die jedoch von der IV-Stelle abgelehnt wurde. Nach einer erneuten Anmeldung wurde erneut auf das Leistungsbegehren nicht eingetreten. Der Beschwerdeführer focht diese Entscheidung an, da sich sein Gesundheitszustand verschlechtert habe. Es wurde festgestellt, dass die IV-Stelle eine geänderte Praxis bei der Beurteilung von Leistungsansprüchen anwenden muss. Die Beschwerde wurde daher gutgeheissen, die Verfugung aufgehoben und die Sache zur weiteren Prüfung an die Beschwerdegegnerin zurückverwiesen.

Urteilsdetails des Kantongerichts IV 2010/344

Kanton:SG
Fallnummer:IV 2010/344
Instanz:Versicherungsgericht
Abteilung:IV - Invalidenversicherung
Versicherungsgericht Entscheid IV 2010/344 vom 27.12.2011 (SG)
Datum:27.12.2011
Rechtskraft:-
Leitsatz/Stichwort:Entscheid Auf eine Anmeldung nach vorgängiger formell rechtskräftiger Leistungsabweisung muss eingetreten werden, wenn aufgrund einer zwischenzeitlich geänderten Rechtslage (Gesetzesänderung oder Rechtsänderung) neu ein Leistungsanspruch in Frage kommt. In diesen Fällen ist die Glaubhaftmachung einer erheblichen Sachverhaltsveränderung gemäss Art. 87 Abs. 4 i.V.m. Art. 87 Abs. 3 IVV nicht notwendig. (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 27. Dezember 2011, IV 2010/344).
Schlagwörter : Recht; Begleitung; IV-act; Dritt; Anspruch; Verfügung; Leistungs; Hilflosen; Hilflosenentschädigung; Hilfe; IV-Stelle; Dritthilfe; Person; Entscheid; Gallen; Hilflosigkeit; Sachverhalt; Neuanmeldung; Praxis; Drittperson; Kontakte; Rechtslage
Rechtsnorm:Art. 17 ATSG ;Art. 53 ATSG ;Art. 8 BV ;
Referenz BGE:112 V 387; 127 V 10; 133 V 450;
Kommentar:
-

Entscheid des Kantongerichts IV 2010/344

Entscheid Versicherungsgericht, 27.12.2011

Präsidentin Karin Huber-Studerus, Versicherungsrichterinnen Monika Gehrer-Hug und Lisbeth Mattle Frei; Gerichtsschreiber Matthias Burri

Entscheid vom 27. Dezember 2011

in Sachen

A. ,

Beschwerdeführer,

vertreten durch Rechtsanwältin Dr. iur. Monika Brenner, Paradiesstrasse 4, 9030 Abtwil SG,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Postfach 368, 9016 St. Gallen,

Beschwerdegegnerin,

betreffend

Nichteintreten auf neues Leistungsgesuch (Hilflosenentschädigung)

Sachverhalt:

A.

    1. A. leidet seit Geburt an einer kongenitalen Erkrankung des Bindegewebes und der Muskeln (Marfan-ähnliches Syndrom) sowie St. n. dreimaliger lateraler Bandplastik OSG re, mit persistierenden invalidisierenden Fussschmerzen; St. n. SkolioseOperation 1995 und einer somatoformen Störung im Rahmen der Entwicklungsstörung (IV-act. 127-3). Er ist Bezüger einer ganzen Rente der Invalidenversicherung (IV; IV-act 48). Im Rahmen der Hilfsmittelversorgung wurden u.a. Unterschenkelorthesen sowie ein Handrollstuhl mit Elektrohilfsantrieb abgegeben (IV-act 78 f.).

    2. Am 16. März 2005 meldete sich der Versicherte erstmals bei der IV-Stelle der Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen (SVA) zum Bezug einer Hilflosenentschädigung an (IV-act. 129-1 ff.). Mit Verfügung vom 5. September 2005 verneinte die IV-Stelle einen Anspruch auf Hilflosenentschädigung (IV-act. 107-41 ff.). Die gegen diese Verfügung erhobene Einsprache des Versicherten wies der Rechtsdienst der SVA in Vertretung der IV-Stelle mit Einspracheentscheid vom 5. Dezember 2005 ab (IV-act. 99-1 ff.). Dieser Entscheid erwuchs unangefochten in Rechtskraft.

    3. Am 23. Juni 2009 (Eingang SVA) meldete sich der Versicherte erneut zum Bezug einer Hilflosenentschädigung an (IV-act. 44-1 ff.). Seit 18 Monaten sei er vermehrt auf Hilfeleistungen angewiesen. Er benötige Hilfe beim Ankleiden/Auskleiden (Bekleidung

      d. Extremitäten - Socken, Hosen); bei der Körperpflege (in den Teilbereichen Waschen, Baden/Duschen, Rasieren); bei der Fortbewegung im Freien und der Pflege gesell schaftlicher Kontakte (Hilfe beim Schieben des Rollstuhls, Einkaufen, Organisation von Begleitung) sowie dauernde medizinisch-pflegerische Hilfe (beim Salben der Gelenke, Anlegen und Wechseln der Orthesen sowie Bandagen). Darüber hinaus sei er auf lebenspraktische Begleitung angewiesen (44-3 ff.).

    4. Mit Vorbescheid vom 22. Februar 2010 stellte die IV-Stelle dem Versicherten das

      Nichteintreten auf das neue Leistungsgesuch in Aussicht (IV-act. 35-1).

    5. Gegen den Vorbescheid liess der Versicherte, vertreten durch Rechtsanwältin Dr. iur. M. Brenner, Einwand erheben (IV-act. 14-1 ff.; 25-1 f.; 28-1 ff.). Mit Verfügung vom 6. Juli 2010 trat die IV-Stelle auf das neue Leistungsbegehren, wie angekündigt, nicht ein (IV-act. 15-1 f.).

B.

    1. Gegen diese Verfügung richtet sich die Beschwerde des Versicherten vom

      13. September 2010. Die Verfügung sei unter Kostenund Entschädigungsfolgen zu Lasten der Beschwerdegegnerin aufzuheben. Es sei auf das Leistungsgesuch einzu treten und ihm die beantragte Hilflosenentschädigung zu gewähren. Weiter wird die un entgeltliche Prozessführung und Rechtsverbeiständung beantragt (act. G 1; 4). Nach mehrmals erstreckter Frist reicht die Vertreterin des Beschwerdeführers am 15. März 2011 die Beschwerdebegründung ein. Neben den bereits in der summarisch be gründeten Beschwerde gestellten Rechtsbegehren lässt der Beschwerdeführer eventualiter die Zusprache lebenspraktischer Begleitung beantragen. Der Beschwerde führer lässt im Wesentlichen geltend machen, sein Gesundheitszustand habe sich seit der erstmaligen Anmeldung progredient verschlechtert. Er sei mindestens während der Hälfte des Jahres in den folgenden Bereichen täglich hilfsbedürftig: Ankleiden/ Auskleiden, Körperund Gesundheitspflege, Fortbewegung, Haushaltsführung und der Pflege gesellschaftlicher Kontakte. Aufgrund dessen sei die leichte, allenfalls sogar mittlere Hilflosigkeit offensichtlich ausgewiesen. Sollte die Verschlechterung des Gesundheitszustands wider Erwarten verneint werden, sei ihm zumindest lebens praktische Begleitung zuzusprechen (act. G 12).

    2. Mit Beschwerdeantwort vom 18. April 2011 beantragt die Beschwerdegegnerin die Abweisung der Beschwerde. Der Sachverhalt stelle sich immer noch gleich dar, wie im Zeitpunkt der ursprünglich ablehnenden Verfügung. Der Beschwerdeführer habe nicht dargetan, dass sich die Hilflosigkeit bzw. der Grad der Hilflosigkeit ein allfälliger Anspruch auf Hilflosenentschädigung bei einem Bedarf an lebenspraktischer Begleitung in einer anspruchsbegründenden Weise verändert habe (act. G 14).

    3. Mit Replik vom 6. September 2011 lässt der Beschwerdeführer an seinen

      Anträgen festhalten (act. G 26).

    4. Die Beschwerdegegnerin verzichtet am 12. September 2011 auf eine Duplik und verweist auf die Beschwerdeantwort (act. G 28).

    5. Bereits am 19. April 2011 hatte die Gerichtsleitung dem Beschwerdeführer die

unentgeltliche Rechtspflege bewilligt (act. G 16).

Erwägungen:

1.

Strittig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdegegnerin auf das Leistungsgesuch vom

23. Juni 2009 zu Recht nicht eingetreten ist. Nicht Streitgegenstand ist hingegen ein allfälliger Leistungsanspruch des Beschwerdeführers. Soweit dieser beantragen lässt, es sei ihm eine Hilflosenentschädigung zuzusprechen, ist auf die Beschwerde nicht ein zutreten.

2.

    1. Der Beschwerdeführer leidet an einem Marfan-ähnlichem Syndrom. Dieses wirkt sich dahingehend aus, dass seine sensomotorische Unabhängigkeit beeinträchtigt ist. Die Symptomatik des Syndroms wird kontinuierlich und saisonal durch Exazerbationen, Schmerzen sowie schwere Bewegungsbehinderungen charakterisiert (IV-act 103-1; 127-3; 157-5). Anlässlich des erstmaligen Leistungsgesuchs im Jahr 2005 führte

      Dr. med. B. , damalige Oberärztin am Inselspital Bern, Departement Frau, Kind und Endokrinologie, aus, der Beschwerdeführer sei aufgrund seiner Krankheit im Alltag während mehr als 8 Monaten pro Jahr auf Drittpersonen angewiesen. Während der Wintermonate (bei Temperaturen unter 20°) verlange die Abhängigkeit von Dritt personen eine Betreuung von 3 - 4 Stunden pro Tag. In der wärmeren Zeit seien es 1 - 2 Stunden pro Tag ausnahmsweise keine (IV-act. 103-1).

    2. Im Zeitpunkt der Neuanmeldung lagen der Beschwerdegegnerin insbesondere die Berichte von Dr. B. vom 14. April 2009 und 15. Juli 2009 vor. Darin führte sie aus, der Beschwerdeführer sei je nach Jahreszeit und Exazerbation der Schmerzen auf Hilfe von Drittpersonen angewiesen, nämlich bei der Begleitung (gemeint wohl: Be kleidung) der unteren Extremitäten, bei der Körperpflege (Extremitäten/Rücken), beim Einstieg bei höheren Hindernissen (40-80 cm), Heben, Schieben usw. von schweren Gegenständen, bei der lokalen Pflege und dem Anlegen von Hilfsmitteln. Dazu bestehe die Notwendigkeit einer Haushalthilfe mit sozialer Kompetenz sowie eine regelmässige psychosomatische-psychiatrische Begleitung (IV-act. 40). Im Bericht vom 14. April 2009 führte sie aus, die Selbständigkeit des Beschwerdeführers sei stark von den Temperaturexkursionen (warm-kalt versus kalt-warm), d.h. bei Temperaturänderung und bei extremer Kälte extremer Wärme abhängig. Bei solchen Zuständen, welche vermehrt während der Wintermonate aber auch während des Sommers auftreten könnten, sei der Beschwerdeführer auf Hilfe von Drittpersonen angewiesen. Die Häufigkeit erstrecke sich zwischen 3 - 4 mal pro Monat auf tägliche Situationen bei extremen Temperaturen. Der Beschwerdeführer erhalte häufig Hilfe aus seinem Freundeskreis, könne jedoch nicht immer mit "Goodwill-Aktionen" rechnen. In den komplexen Schmerzphasen, welche Tage dauerten, könnten sich Situationen entwickeln, in denen er erschöpft und daher zu 100% auf Hilfe von Drittpersonen angewiesen sei (IV-act. 45-3). Sodann liegen Tagebuchaufzeichnungen des Beschwerdeführers aus dem Zeitraum vom 4. September 2007 bis 4. März 2008 im Recht. Darin beschreibt er seine Einschränkungen und den je nach Gesundheitszustand variierenden Bedarf an Dritthilfe (IV-act. 19-1 ff.).

    3. Die Beschwerdegegnerin hat ein erstes Begehren um Ausrichtung einer Hilflosen entschädigung rechtskräftig abgewiesen. Im Einspracheentscheid vom 5. Dezember 2005 brachte sie zur Begründung vor, der Beschwerdeführer benötige während Krank heitsschüben zwar Dritthilfe bei den Lebensverrichtungen Ankleiden/Auskleiden, Aufstehen/Absitzen/Abliegen sowie der Fortbewegung, allerdings falle die Hilfe gemäss Auskunft einer Hilfsperson nicht regelmässig an (IV-act. 99-1 ff.). Diese hatte am 14. Juli 2005 angegeben, sie kenne den Beschwerdeführer seit Juni 2004. In dieser Zeit bis zum Winter habe er 5 Krankheitsschübe erlitten, bei welchen sie ihn einige Tage unter stützt hätte (Hilfestellungen, Kochen, Einkaufen). Im Januar (2005) sei ein nächster Schub erfolgt und dann wieder im Juni (praktisch den ganzen Monat lang). Während

      den Schüben habe der Beschwerdeführer an starken Schmerzen gelitten, welche ihn in einigen Verrichtungen eingeschränkt hätten (IV-act. 111-1).

    4. Auf die Neuanmeldung ist die Beschwerdeführerin nicht eingetreten mit dem Argument, der Beschwerdeführer habe nicht glaubhaft dargelegt, dass sich die tat sächlichen Verhältnisse seit der Verfügung in einer für den Anspruch erheblichen Weise verändert hätten. Unabhängig von einer Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse stellt sich vorliegend jedoch die Frage, ob die Beschwerdegegnerin aufgrund einer seit dem ersten Leistungsbegehren erfolgten Rechtsänderung auf die Neuanmeldung hätte eintreten müssen.

    5. Gemäss Art. 87 Abs. 4 der Verordnung über die Invalidenversicherung (IVV;

      SR 831.201) i.V.m. Art. 87 Abs. 3 IVV kann eine neue Anmeldung zum Leistungsbezug nur geprüft werden, wenn eine erhebliche Sachverhaltsveränderung glaubhaft gemacht wird. Diese Bestimmungen sind jedoch nicht für alle Rückkommensgründe anwendbar. Neben der prozessualen Revision (Art. 53 Abs. 1 des Bundesgesetztes über den All gemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG; SR 830.1), der Wiedererwägung (Art. 53 Abs. 2 ATSG) und der Anpassung gemäss Art. 17 ATSG kennt die Recht sprechung ein weiteres Korrekturinstrument: Eine formell rechtskräftige Verfügung muss abgeändert werden, wenn seit deren Erlass eine Rechtsänderung eingetreten ist, die die Verfügung als rechtswidrig erscheinen lässt. Insbesondere zeitlich unbefristet fortwirkende Anordnungen sind zu ändern, wenn sie dadurch einer nachträglich ver wirklichten Änderung des objektiven Rechts anzupassen sind; die Rechtsänderung erlaubt nicht nur eine Anpassung, sie verlangt diese (m.w.H. BGE 112 V 387 Erw. 3c). Nicht nur eine neue Gesetzgebung, sondern auch eine neue Gerichtsoder Ver waltungspraxis rechtfertigt eine Anpassung einer ursprünglich fehlerfreien Verfügung, wenn die neue Praxis in einem solchen Mass allgemeine Verbreitung erhält, dass deren Nichtbefolgung im Einzelfall als Verstoss gegen das verfassungsrechtliche Gleich behandlungsgebot erschiene (Art. 8 Abs. 1 BV; m.w.H. BGE 112 V 387 Erw. 3c;

      vgl. auch BGE 127 V 10 Erw. 4c; 121 V 157 Erw. 4).

    6. Bewirkt eine Praxisänderung grundsätzlich eine Besserstellung der versicherten Person, etwa dadurch, dass die Anspruchsvoraussetzungen bei korrekter Interpretation der Gesetzeslage weiter gefasst werden, so geht es nicht an, einige wenige Personen,

      deren Anspruch unter der alten Rechtslage bereits einmal rechtskräftig abgewiesen wurde, von dieser präzisierten Rechtsprechung bzw. geänderten Praxis (oder Gesetzeslage) auch für die Zukunft auszuschliessen. Auch dieser Kategorie von Personen muss die Möglichkeit offenstehen, durch eine Neuanmeldung ebenso wie Personen, deren Anspruch noch nie beurteilt wurde, die ihnen unter der geltenden Rechtslage zustehenden Leistungen zu erhalten. Andernfalls käme es zum stossenden Ergebnis, dass der Leistungsanspruch für ein und denselben Sachverhalt von der Zu fälligkeit abhängig wäre, ob bereits unter der alten Rechtslage ein Gesuch beurteilt wurde. Weiter käme es innerhalb der Kategorie von Personen mit vorgängiger rechts kräftiger Gesuchsabweisung zu einer Ungleichbehandlung jener, bei denen sich zu fälligerweise der Sachverhalt verändert hat, gegenüber jenen, bei denen der Sach verhalt unverändert blieb. Erstere hätten nämlich nicht nur einen Eintretensanspruch, sondern auch einen Anspruch auf Beurteilung nach der geltenden, im Vergleich zu früher besseren Rechtslage, während die anderen an der Eintretenshürde scheitern würden und von der Besserstellung nicht profitieren könnten. Solche Ergebnisse sind nicht nur stossend, sondern lassen sich auch mit dem Gebot der Rechtsgleichheit nicht vereinbaren. Versicherten Personen eine Anspruchsprüfung unter der geltenden Rechtslage auf diese Weise zu vereiteln, wäre auch aus sachlichen Gründen nicht zu rechtfertigen. Die Eintretenshürde des Art. 87 Abs. 4 i.V.m. Abs. 3 IVV hat ihren Grund nämlich darin, die Verwaltung davor zu bewahren, wiederholt ein unverändertes Gesuch gestützt auf eine unveränderte Tatsachenlage behandeln zu müssen. Solche verfahrensökonomischen Überlegungen können jedoch bei einer Änderung der Rechtslage klarerweise nicht gelten (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen IV 2008/374 vom 20. Januar 2009 Erw. 1).

    7. Art. 87 Abs. 4 IVV umfasst somit nicht sämtliche Fälle der Neuanmeldungen nach vorgängiger rechtskräftiger Abweisung. Der Grossteil der Fälle wird selbstredend durch die Glaubhaftmachung einer nachträglichen erheblichen Sachverhaltsveränderung ab gedeckt. Gelingt diese Glaubhaftmachung nicht, hat die Verwaltung vor Erlass eines Nichteintretensentscheids jedoch immerhin von Amtes wegen zu prüfen, ob allenfalls ein Leistungsanspruch aufgrund einer kürzlichen Rechtsänderung (Praxis Gesetz) in Frage kommt. Diesbezüglich ist eine "Glaubhaftmachung" der Änderung im Grunde nicht notwendig. Ein Nichteintreten auf die Neuanmeldung ist daher nur möglich, wenn sich seit der letztmaligen Abweisung soweit die Voraussetzungen des Art. 87 Abs. 4

IVV nicht erfüllt sind auch keine Rechtsänderung ergeben hat. Andernfalls ist auf das Gesuch einzutreten und dieses ist materiell zu prüfen (Entscheid des Versicherungs gerichts des Kantons St. Gallen IV 2008/374 vom 20. Januar 2009 Erw. 1).

3.

    1. Nach Art. 38 Abs. 1 IVV liegt ein Bedarf an lebenspraktischer Begleitung im Sinne

      von Art. 42 Abs. 3 des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IVG,

      SR 831.20) vor, wenn eine volljährige versicherte Person ausserhalb eines Heimes lebt und infolge Beeinträchtigung der Gesundheit ohne Begleitung einer Drittperson nicht selbständig wohnen kann (lit. a), für Verrichtungen und Kontakte ausserhalb der Wohnung auf Begleitung einer Drittperson angewiesen ist (lit. b) ernsthaft ge fährdet ist, sich dauernd von der Aussenwelt zu isolieren (lit.c). Der Anspruch ist nicht auf Menschen mit Beeinträchtigungen der psychischen geistigen Gesundheit be schränkt; es ist durchaus möglich, dass auch andere Behinderte einen Bedarf an lebenspraktischer Begleitung geltend machen können (Rz 8042 des Kreisschreibens über Invalidität und Hilflosigkeit [KSIH]).

    2. Im Zeitpunkt des Entscheids über das erste Leistungsbegehren (2005) unterschied die IV-Stelle der SVA bei einem Anspruch auf Hilflosenentschädigung in Form der lebenspraktischer Begleitung noch zwischen direkter und indirekter Dritthilfe und berücksichtigte nur zweitere (vgl. etwa BGE 133 V 450 Erw. 7.2; Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen IV 2008/374 vom 20. Januar 2009). Diese Praxis hat das Bundesgericht im BGE 133 V 450 unter eingehender Würdigung der Materialien zur lebenspraktischen Begleitung verworfen und festgehalten, dass neben der indirekten auch die direkte Dritthilfe zu berücksichtigen sei. Die Begleitperson könne die notwendigerweise anfallenden Tätigkeiten also auch selber ausführen, wenn die versicherte Person dazu gesundheitsbedingt trotz Anleitung Überwachung/Kontrolle nicht in der Lage sei. Zur direkten Dritthilfe sind etwa das Kochen, das Aufräumen des Zimmers und das Besorgen der Wäsche zu zählen. Ob die Drittperson die Arbeit überwacht sie gleich selbst ausführt, ist nicht von Belang (vgl. a.a.O., Erw. 4.3).

Die anderslautende Verwaltungspraxis der IV-Stelle der SVA hat das Bundesgericht in genanntem BGE 133 V 450 nicht bestehen lassen, sodass die IV-Stelle seither nicht nur indirekte, sondern auch direkte Dritthilfe bei der Prüfung eines Anspruchs auf lebens praktische Begleitung anerkennen muss. Entsprechend präzisierte das Bundesamt für Sozialversicherung sein Kreisschreiben über Invalidität und Hilflosigkeit (KSIH) in

Rz. 8047.1 f. Diese Praxisänderung ist geeignet, sich auf den Leistungsanspruch des Beschwerdeführers auszuwirken. Er beantragte bereits anlässlich des ersten Leistungs begehrens Hilflosenentschädigung in Form von lebenspraktischer Begleitung nach

Art. 37 Abs. 3 lit. e i.V.m. Art. 38 IVV. Im Einspracheentscheid vom 5. Dezember 2005 führte die Beschwerdegegnerin diesbezüglich aus, der Beschwerdeführer erfülle keine der in Art. 37 Abs. 3 lit. b bis e aufgeführten Voraussetzungen zum Bezug einer Hilf losenentschädigung (IV-act. 99-3). Anlässlich der Neuanmeldung machte der Beschwerdeführer neben dem Bedarf an Dritthilfe in alltäglichen Lebensverrichtungen wiederum geltend, er sei dauernd und regelmässig auf lebenspraktische Begleitung angewiesen. Diese bestehe bei der Führung des Haushalts, der Begleitung für das Knüpfen sozialer Kontakte sowie für Erledigungen und Kontakte ausserhalb der Wohnung (IV-act. 44-1 ff.). In seinen Tagebuchaufzeichnungen schildert er u.a., er benötige direkte Dritthilfe bei der Führung des Haushalts, so insbesondere bei der Zubereitung des Essens, bei der Erledigung der Wäsche und beim Einkaufen. Er könne das Haus, manchmal auch das Bett, an schlechten Tagen kaum noch verlassen. Seine Therapietermine müsse er dann wegen der Schmerzen und Einschränkungen absagen. Ohne Begleitung sei es ihm nicht möglich, gesellschaftliche Kontakte ausser Haus zu knüpfen am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Ohne Hilfe sei er auch psychisch überfordert (IV-act. 19-1 ff.). In den Tagebuchaufzeichnungen lassen sich Anhaltspunkte dafür finden, dass während den saisonal auftretenden Krankheits schüben ein möglicher Anspruch auf lebenspraktische Begleitung im Sinn von direkter Dritthilfe bestehen könnte. Mithin geht auch Dr. B. von der Notwendigkeit einer Haushalthilfe aus (IV-act. 40). Unter diesen Umständen hätte die Beschwerdegegnerin aufgrund der geänderten Praxis unabhängig von einer allfälligen Veränderung des anspruchsrelevanten Sachverhalts auf das Gesuch um Hilflosenentschädigung eintreten und weitere Abklärungen an die Hand nehmen müssen. Die Nichteintretensverfügung vom 6. Juli 2010 ist daher aufzuheben. Die Beschwerdegegnerin wird eine materielle Prüfung vorzunehmen haben, wobei eine

umfassende Abklärung der Hilflosigkeit angebracht erscheint, welche - neben dem Bedarf nach lebenspraktischer Begleitung auch die Hilfsbedürftigkeit in den alltäglichen Lebensverrichtungen einschliesst. Sinnvollerweise ist eine Abklärung vor Ort durchzuführen und deren Ergebnisse sowie die vorhandenen Akten sind fachmedizinisch plausibilisieren zu lassen. Betreffend die Regelmässigkeit einer lebenspraktischen Begleitung ist auf Rz 8053 KSIH hinzuweisen; danach ist die Regel mässigkeit zu bejahen, wenn die lebenspraktische Begleitung über eine Periode von drei Monaten gerechnet im Durchschnitt mindestens während 2 Stunden pro Woche nötig ist. Bei den alltäglichen Lebensverrichtungen wiederum könnte eine Hilflosigkeit auch dann zu berücksichtigen sein, wenn sie zwar nicht dauernd, aber regelmässig während eines erheblichen Teils des Jahres in hohem Grad vorliegt (EVGE 1961 S. 348, I 114/61 vom 5. Oktober 1961).

4.

    1. Die Beschwerde ist gemäss den vorstehenden Erwägungen gutzuheissen, soweit darauf einzutreten ist. Unter Aufhebung der Verfügung vom 6. Juli 2010 ist die Sache zur materiellen Prüfung des Anspruchs auf Hilflosenentschädigung und zur an schliessenden Verfügung an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen.

    2. Das Beschwerdeverfahren ist kostenpflichtig. Die Kosten werden nach dem Verfahrensaufwand und unabhängig vom Streitwert im Rahmen von Fr. 200.-bis Fr. 1'000.-festgelegt (Art. 69 Abs. 1bis IVG). Eine Gerichtsgebühr von Fr. 400.-erscheint angemessen. Die Beschwerdegegnerin unterliegt. Da sie gemäss Art. 3

      Abs. 1 lit. b des st. gallischen Einführungsgesetzes zur Bundesgesetzgebung über die Alters-, Hinterlassenenund Invalidenversicherung (sGS 350.1) Teil der Sozialversicherungsanstalt und damit Teil einer selbständigen öffentlich-rechtlichen Anstalt ist, kommt Art. 95 Abs. 3 VRP (Befreiung von der Pflicht zur Übernahme amtlicher Kosten) nicht zur Anwendung (vgl. Urs Peter Cavelti/Thomas Vögeli, Verwaltungsgerichtsbarkeit im Kanton St. Gallen - dargestellt an den Verfahren vor dem Verwaltungsgericht, 2. Aufl., 2003, Rz 792). Die Beschwerdegegnerin hat deshalb die Gerichtsgebühr von Fr. 400.-zu bezahlen.

    3. Die obsiegende beschwerdeführende Partei hat bei diesem Verfahrensausgang Anspruch auf eine Parteientschädigung. Die Parteientschädigung bemisst sich gemäss Art. 61 lit. g ATSG nach der Bedeutung der Streitsache und der Schwierigkeit des Prozesses. Da lediglich das Eintreten zu überprüfen war, erweist sich eine Partei entschädigung von Fr. 2'000.-- (inklusive Barauslagen und Mehrwertsteuer) als ange messen.

Demgemäss hat das Versicherungsgericht im Zirkulationsverfahren gemäss Art. 39 VRP entschieden:

  1. Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf eingetreten wird. Die Verfügung vom 6. Juli 2010 wird aufgehoben und die Sache zur materiellen Anspruchsprüfung und anschliessenden Verfügung an die Beschwerdegegnerin zurückgewiesen.

  2. Die Beschwerdegegnerin hat die Gerichtskosten von Fr. 400.-zu bezahlen.

  3. Die Beschwerdegegnerin hat dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung

von Fr. 2'000.-- (inkl. Barauslagen und Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.

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