Zusammenfassung des Urteils IV 2010/253: Versicherungsgericht
Der Beschwerdeführer, ein Jugendlicher mit Geburtsgebrechen, kämpfte um die Übernahme der Kosten für Physiotherapie durch die IV-Stelle des Kantons St. Gallen. Die IV-Stelle hatte die Kostenübernahme abgelehnt, was zu Beschwerden und gerichtlichen Schritten führte. Die behandelnden Ärzte betonten die Notwendigkeit der Physiotherapie, um Folgeschäden zu vermeiden und die Eingliederungsfähigkeit des Beschwerdeführers zu verbessern. Das Gericht entschied zugunsten des Beschwerdeführers und verpflichtete die IV-Stelle zur Kostenübernahme der Physiotherapie. Der Richter, der die Entscheidung traf, war männlich. Die Gerichtskosten wurden auf CHF 600 festgelegt.
Kanton: | SG |
Fallnummer: | IV 2010/253 |
Instanz: | Versicherungsgericht |
Abteilung: | IV - Invalidenversicherung |
Datum: | 09.12.2010 |
Rechtskraft: | - |
Leitsatz/Stichwort: | Entscheid Art. 8 Abs. 3 lit. a IVG; Art. 12 IVG; Art. 13 IVG. Medizinische Massnahmen in Form von Physiotherapie bei einem Jugendlichen. Mit der im Rahmen der 5. IV-Revision in Kraft getretenen Änderung des Art. 12 Abs. 1 IVG (Beschränkung der medizinischen Eingliederungsmassnahmen auf Versicherte unter 20 Jahren) wollte der Gesetzgeber keine Verschärfung der bisherigen Rechtsprechung erreichen. Entgegen dem neuen Wortlaut der Bestimmung sollen medizinische Massnahmen bei Kindern und Jugendlichen selbst bei labilem Leidenscharakter bzw. bei Behandlung des Leidens an sich übernommen werden, wenn ohne diese Massnahmen eine Heilung mit Defekt oder ein sonstwie stabilisierter Zustand einträte, der die Berufsbildung oder Erwerbsfähigkeit voraussichtlich erheblich beeinträchtigen würde (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 9. Dezember 2010, IV 2010/253). |
Schlagwörter : | Physiotherapie; Massnahme; Geburtsgebrechen; Massnahmen; IV-act; Behandlung; Patella; Anspruch; Beschwerdeführers; Zusammenhang; Leiden; Eingliederung; Autismus; Erwerbsfähigkeit; Übernahme; Leidens; Alter; Beruf; Kinder; Verfügung; Patellaluxation; Defekt; Altersjahr; Rechtsprechung; Berufs; Kantons |
Rechtsnorm: | Art. 8 ATSG ; |
Referenz BGE: | 100 V 41; 105 V 20; |
Kommentar: | - |
Entscheid vom 9. Dezember 2010 in Sachen
W. ,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. iur. Michael Schöbi, Erlenweg 15, Postfach 538, 9450 Altstätten SG,
gegen
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Postfach 368, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin, betreffend
medizinische Massnahmen (Physiotherapie) Sachverhalt:
A.
A.a W. , Jahrgang 1994, leidet an mehreren Geburtsgebrechen (GG). Die Invalidenversicherung (IV) anerkannte die GG Ziff. 494 (Geburtsgewicht unter 2000 g bis zur Erreichung eines Gewichts von 3000 g; IV-act. 4), Ziff. 390 (angeborene cerebrale Lähmungen; IV-act. 13) und Ziff. 401 (frühkindliche primäre Psychosen und infantiler Autismus; IV-act. 58; seit 1. Januar 2010 im Anhang der Verordnung über Geburtsgebrechen [GgV; SR 831.232.21] kategorisiert unter Ziff. 405, AutismusSpektrum-Störungen) und erbrachte mit diesen in Zusammenhang stehende Leistungen.
A.b Am 31. Januar 2008 und 29. Oktober 2008 erlitt der Versicherte Patellaluxationen des rechten Knies (IV-act. 89-4). Seitens der Klinik für Orthopädische Chirurgie des Kantonsspitals St. Gallen wurde ihm am 6. Oktober 2009 zur Patellazentrierung und Stabilisation des Kniegelenks eine Langzeit-Physiotherapie verordnet (IV-act. 78-2). Die IV wurde am 15. Oktober 2009 um Übernahme der entsprechenden Kosten ersucht (IVact. 78-1). Nach Rückfrage beim IV-internen Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD; IV-
act. 82) kündigte die IV-Stelle dem Versicherten mit Vorbescheid vom 30. März 2010 ihre Absicht an, die Kostengutsprache für die Physiotherapie zu verweigern (IV-act. 83).
Trotz Einwands der Eltern des Versicherten vom 11. Mai 2010 (IV-act. 86-1) verfügte die IV-Stelle am 31. Mai 2010 gemäss Vorbescheid (act. G 1.1).
B.
Am 18. Juni 2010 erhob Dr. med. A. , Facharzt FMH für Kinderund Jugendmedizin, Beschwerde gegen diese Verfügung. Mit Hilfe von orthopädischen Hilfsmitteln und aufgrund der weiterhin konsequent vollzogenen Physiotherapie habe beim Versicherten insgesamt eine recht gute Beweglichkeit erreicht werden können. Die behandelnden Ärzte erachteten die Fortsetzung der Physiotherapie als unbedingt erforderlich, um eine bewegungsinduzierte Frühinvalidität zu verhindern (act. G 1). Die Eltern des Versicherten erhoben am 28. Juni 2010 ebenfalls Beschwerde gegen die abweisende Verfügung. Sie beantragten sinngemäss deren Aufhebung und Kostengutsprache für Physiotherapie und verwiesen zur Begründung auf ihre Ausführungen im Einwand an die Beschwerdegegnerin vom 11. Mai 2010 (act. G 3).
In der Beschwerdeantwort vom 6. September 2010 beantragte die Beschwerdegegnerin Abweisung der Beschwerde. Dem Arztbericht von Dr. med.
B. , Orthopädie/Traumatologie am Kantonsspital St. Gallen, vom 28. Dezember 2009 könne nicht entnommen werden, dass es sich bei der diagnostizierten Trochleadysplasie beidseits mit Patella alta beidseits mit Status nach Patellaluxation Knie rechts um ein Geburtsgebrechen handle diese mit einem solchen in Zusammenhang stehe. Die Übernahme der Physiotherapiekosten gestützt auf Art. 13 IVG komme daher nicht in Frage. Dies gelte auch gestützt auf Art. 12 IVG. Das Ziel der Physiotherapie sei die Stabilisierung der muskulären Defizite bzw. die Vermeidung von rezidivierenden Patellaluxationen mit nachfolgenden Problemen. Somit sei sie keine Massnahme, die später einem drohenden stabilen, nur schwer korrigierbaren Defekt vorbeuge, sondern es gehe um eine eigentliche Leidensbehandlung und auch um Prävention, die nicht in den Bereich der IV gehöre (act. G 5).
Mit Replik vom 16. November 2010 beantragte der von den Eltern des Beschwerdeführers unterdessen beigezogene Rechtsanwalt Dr. iur. Michael Schöbi unter Kostenund Entschädigungsfolgen die Aufhebung der Verfügung, die Gutheissung des Gesuchs um Übernahme der Physiotherapiekosten und eventualiter die Rückweisung der Sache zur Sachverhaltsabklärung. Die Berufsausbildung und die Erwerbsfähigkeit des Beschwerdeführers ständen bei den aktenkundigen Geburtsgebrechen und dem derzeitigen Gesundheitszustand unter schlechten Voraussetzungen. Der Beschwerdeführer sei allseitig auf Massnahmen angewiesen. Das Eingliederungspotential sei erstellt. Die Probleme des Beschwerdeführers mit
seiner Patella würden ihn im Zusammenhang und im Zusammenwirken mit seinen Geburtsgebrechen erheblich an seiner Ausbildung hindern. Die Physiotherapie werde die Fähigkeit des Beschwerdeführers, die in einem Büro anfallenden Tätigkeiten zu bewältigen, erheblich stärken. Die Defizit-Situation scheine heute soweit ein stabiler Defekt zu sein. Indes bewirke eine Verbesserung durch die beantragte Massnahme direkt die Berufsbildung des Beschwerdeführers und damit seine Eingliederungsfähigkeit. Letztlich dürfte GG Ziff. 405 überwiegen im Entscheid, welche Berufsbildung und Erwerbsfähigkeit dem Beschwerdeführer zugänglich seien. Untrennbar damit verknüpft seien indes die neuromuskulären Defizite sowie eben diejenigen des Bewegungsapparates (Knie). Diese Aspekte und Rz. 6 KSME seien in der bisherigen Beurteilung nicht berücksichtigt worden. Mit der Neufassung von GG Ziff. 405 würden die Störungen übrigens breiter erfasst. Sollten noch weitere Details zur beruflichen Notwendigkeit der Massnahme benötigt werden, dränge sich eine Rückweisung zur Sachverhaltsergänzung durch die Beschwerdegegnerin auf
(act. G 17).
Die Beschwerdegegnerin hielt am 23. November 2010 an ihrem Abweisungsantrag fest und verzichtete auf eine weitere Stellungnahme (act. G 19).
Erwägungen:
1.
Gemäss Art. 8 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung (IVG; SR 831.20) haben invalide von einer Invalidität bedrohte Versicherte einen Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen, soweit diese notwendig und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, wieder herzustellen, zu erhalten zu verbessern (lit. a), und die Voraussetzungen für den Anspruch auf die einzelnen Massnahmen erfüllt sind (lit. b). Zu diesen Eingliederungsmassnahmen gehören unter anderem die medizinischen Massnahmen (Art. 8 Abs. 3 lit. a IVG).
Zu prüfen ist vorliegend der Anspruch des Beschwerdeführers auf Übernahme der
Physiotherapiekosten durch die Beschwerdegegnerin, wobei diese Kostengutsprache
gestützt auf Art. 12 IVG (Anspruch im Allgemeinen) Art. 13 IVG (Anspruch bei
Geburtsgebrechen) in Frage kommt.
2.
Nach Art. 13 IVG haben Versicherte bis zum vollendeten 20. Altersjahr Anspruch auf die zur Behandlung von Geburtsgebrechen (Art. 3 Abs. 2 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG; SR 830.1]) notwendigen medizinischen Massnahmen (Abs. 1). Der Bundesrat bezeichnet die Gebrechen, für die diese Massnahmen gewährt werden. Er kann die Leistung ausschliessen, wenn das Gebrechen von geringfügiger Bedeutung ist (Abs. 2). Die Geburtsgebrechen sind in der Liste im Anhang der Verordnung über Geburtsgebrechen (GgV; SR 831.232.21) aufgeführt (Art. 1 Abs. 2 GgV). Als medizinische Massnahmen, die für die Behandlung eines Geburtsgebrechens notwendig sind, gelten sämtliche Vorkehren, die nach bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigt sind und den therapeutischen Erfolg in einfacher und zweckmässiger Weise anstreben (Art. 2 Abs. 3 GgV).
Nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung erstreckt sich der Anspruch auf medizinische Massnahmen ausnahmsweise auch auf die Behandlung sekundärer Gesundheitsschäden, die zwar nicht mehr zum Symptomenkreis des Geburtsgebrechens gehören, aber nach medizinischer Erfahrung dennoch häufig die Folge dieses Gebrechens sind. Zwischen dem Geburtsgebrechen und dem sekundären Leiden muss demnach ein qualifizierter adäquater Kausalzusammenhang bestehen. Nur wenn im Einzelfall dieser qualifizierte ursächliche Zusammenhang zwischen sekundärem Gesundheitsschaden und Geburtsgebrechen gegeben ist und sich die Behandlung überdies als notwendig erweist, hat die IV im Rahmen des Art. 13 IVG für die medizinischen Massnahmen aufzukommen. An die Erfüllung der Voraussetzungen des rechtserheblichen Kausalzusammenhanges sind strenge Anforderungen zu stellen, zumal der Wortlaut des Art. 13 IVG den Anspruch der versicherten minderjährigen Person auf die Behandlung des Geburtsgebrechens an sich beschränkt (BGE 100 V 41 mit Hinweisen; I 32/06 vom 9. August 2007, E. 5.1). Gemäss Bundesgericht muss das sekundäre Leiden eine unmittelbare Folge, eine fast zwangsläufige Konsequenz des Geburtsgebrechens sein (I 32/06, E. 5.1, 5.4).
Per 1. Januar 2010 wurde der Anhang der GgV dahingehend geändert, dass die ehemaligen Ziff. 401 (frühkindliche primäre Psychosen und infantiler Autismus) neu aufgeteilt wurde in Ziff. 405 (Autismus-Spektrum-Störungen) und Ziff. 406 (frühkindliche primäre Psychosen). Gemäss Rz. 405 des vom Bundesamt für Sozialversicherungen herausgegebenen Kreisschreibens über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen der IV (KSME, in der ab 1. Januar 2010 gültigen Fassung) sollte den AutismusSpektrum-Störungen damit ein eigenständiger Status unter den tiefgreifenden Entwicklungsstörungen eingeräumt werden. Für den vorliegenden Fall hat diese Änderung keine eigenständige Bedeutung. Nachfolgend wird auf die alte Fassung verwiesen.
Vorliegend wurde kein Arzt gefragt, ob die Trochleadysplasie beidseits in kausalem Zusammenhang mit einem Geburtsgebrechen stehe. Die Tatsache, dass Dr. B. die Frage nach dem Vorliegen eines Geburtsgebrechens ohne weitere Ausführungen verneinte, lässt keine Rückschlüsse auf einen Zusammenhang der Patella-Probleme mit den angeborenen cerebralen Lähmungen zu. Dr. B. hielt fest, dass eine selbständige Therapie insbesondere im Zusammenhang mit den Befunden und der neuen Diagnose eines Autismus höchstwahrscheinlich nicht von Erfolg gekrönt sei, sodass er eine physiotherapeutische Behandlung unterstütze und für unabdinglich halte. Eine selbständige Mobilisation des Patienten sei aufgrund des Autismus nicht möglich (IV-act. 81). Folglich ist nicht ausgeschlossen, dass die Physiotherapie auch insbesondere im Zusammenhang mit dem Geburtsgebrechen Ziff. 401 steht, dass also ohne den Autismus eine andere, selbständige Therapie der Knie möglich gewesen wäre.
Dr. med. C. , Neuropädiatrie des Kantonsspitals Graubünden, wies in seinem Bericht vom 25. Februar 2009 darauf hin, dass der Beschwerdeführer wegen der rezidivierenden Patellaluxationen rechts bei Dr. D. in Behandlung sei (IV-act. 55-2). Berichte von Dr. D. auch zum allfälligen Zusammenhang zwischen den Patellaluxationen und den Geburtsgebrechen bzw. einer allfälligen Notwendigkeit, die Knieprobleme wegen der Geburtsgebrechen mit Physiotherapie und nicht anders zu behandeln holte die Beschwerdegegnerin nicht ein. Bereits am 26. Mai 2006 hatte Dr. A. darauf hingewiesen, dass im Zusammenhang mit dem GG Ziff. 390 nach wie vor deutliche Defizite einerseits im Gleichgewicht und andererseits in der
Bewegungskoordination insgesamt, vor allem aber die Grobund Feinmotorik betreffend, bestünden. Dies falle besonders beim Hüpfen auf einem Bein auf. Daher sei eine Fortsetzung der physiotherapeutischen Massnahmen, insbesondere unter Einbezug der Verbesserung des Gleichgewichts, dringend erforderlich (IV-act. 43). Die zuständige Ärztin des RAD erachtete die medizinischen Voraussetzungen für eine Verlängerung des GG Ziff. 390 und für die Übernahme der Physiotherapiekosten gestützt auf diesen Bericht am 9. Juni 2006 als erfüllt, sodass mit Verfügung vom
12. Juni 2006 Kostengutsprache auch für Physiotherapie vom 1. September 2006 bis
31. August 2008 erteilt wurde (IV-act. 46). Die Aussage von Dr. med. E. vom RAD am 23. Juli 2010, für das GG Ziff. 390 sei bisher nie Antrag für Physiotherapie gestellt worden (IV-act. 97), ist daher aktenwidrig. Die Angaben von Dr. A. im Schreiben vom 26. Mai 2006 lassen darauf schliessen, dass das GG Ziff. 390 sogar bereits vor dem 1. September 2006 mit Physiotherapie behandelt wurde auch wenn eine entsprechende Kostengutsprache der IV nicht aktenkundig ist. Bei dieser Sachlage wäre es angezeigt gewesen, Dr. D. (wohl von der Pädiatrischen Klinik am Ostschweizer Kinderspital), Dr. B. , Dr. F. (vgl. IV-act. 66; 89-3) sowie gegebenenfalls Dr. A. die Physiotherapeutinnen G. (vgl. IV-act. 46-1) H. (IV-act. 89-4 f.) nach einem Kausalzusammenhang zwischen der mittels Physiotherapie behandlungsbedürftigen Trochleadysplasie und den GG Ziff. 390 und 401 zu befragen. Dr. A. machte zudem deutlich, dass die Fortsetzung der Physiotherapie auch zur Verbesserung der Wahrnehmungsfähigkeit, der Koordination im gesamten Bewegungsablauf und der muskulären Kräftigung insbesondere des Rückens angezeigt sei (act. G 1). Selbst wenn die Trochleadysplasie nicht Folge des GG Ziff. 390 sein sollte bzw. deren Behandlung mittels Physiotherapie nicht in Zusammenhang mit jenem dem GG Ziff. 401 stehen sollte, wäre zu prüfen, ob die Fortführung der Physiotherapie nicht ohnehin direkt wegen des GG Ziff. 390 nötig ist. Wie nachfolgend zu zeigen ist, kann auf weitere Abklärungen jedoch verzichtet werden. Es kann offen bleiben, ob die Kostengutsprache für Physiotherapie gestützt auf Art. 13 IVG zu gewähren ist.
3.
Nach Art. 12 IVG haben Versicherte bis zum vollendeten 20. Altersjahr Anspruch
auf medizinische Massnahmen, die nicht auf die Behandlung des Leidens an sich,
sondern unmittelbar auf die Eingliederung ins Erwerbsleben in den Aufgabenbereich gerichtet und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, dauernd und wesentlich zu verbessern vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren (Abs. 1).
Die Einschränkung "bis zum vollendeten 20. Altersjahr" wurde bei im Übrigen unverändertem Wortlaut mit der 5. IV-Revision ab 1. Januar 2008 in Art. 12 Abs. 1 IVG eingefügt. Unter der Geltung von Art. 12 IVG in der bis Ende 2007 gültig gewesenen Fassung durfte sich die medizinische Massnahme bei Erwachsenen nicht auf die Behandlung des Leidens an sich richten. Die Rechtsprechung kannte von dieser Regel jedoch eine Ausnahme für nichterwerbstätige Personen vor dem vollendeten
20. Altersjahr. Diese gelten als invalid, wenn die Beeinträchtigung ihrer körperlichen, geistigen psychischen Gesundheit voraussichtlich eine ganze teilweise Erwerbsunfähigkeit zur Folge haben wird (Art. 5 Abs. 2 IVG i.V.m. Art. 8 Abs. 2 ATSG). Nach der vor Inkrafttreten der 5. IV-Revision gültigen Rechtsprechung konnten medizinische Vorkehren bei Jugendlichen deshalb schon dann überwiegend der beruflichen Eingliederung dienen und trotz des einstweilen noch labilen Leidenscharakters von der IV übernommen werden, wenn ohne diese Vorkehren eine Heilung mit Defekt ein sonstwie stabilisierter Zustand einträte, wodurch die Berufsbildung die Erwerbsfähigkeit beide beeinträchtigt würden (AHI 2003
S. 104 E. 2; Entscheide des damaligen Eidg. Versicherungsgerichts I 484/02 vom
27. Oktober 2003 und I 16/03 vom 6. Mai 2003; BGE 105 V 20; ZAK 1963 S. 113; ZAK
1966 S. 97 ff., 100). Diese Praxis legte aArt. 12 Abs. 1 IVG also in Bezug auf unter 20Jährige gegen den Wortlaut aus. Die Kosten einer Behandlung von Versicherten vor dem vollendeten 20. Altersjahr wurden von der IV getragen, wenn das Leiden mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem schwer korrigierbaren, die spätere Ausbildung und Erwerbsfähigkeit erheblich behindernden gar verunmöglichenden stabilen pathologischen Zustand führte. Allerdings kamen medizinische Massnahmen der IV nach der Rechtsprechung auch bei Versicherten vor dem vollendeten
20. Altersjahr dann nicht in Betracht, wenn sich solche Vorkehren gegen Krankheiten richteten, die nach aktueller Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft ohne kontinuierliche Behandlung nicht dauerhaft gebessert (wohl: nicht geheilt, aber beispielsweise auf besserem Niveau gehalten) werden konnten (vgl. Entscheid I 334/03
des Eidg. Versicherungsgerichts vom 18. November 2003; BGE 105 V 20; AHI 2000 S.
64 E. 1).
Im Rahmen der 5. IV-Revision sollte Art. 12 IVG nach dem Willen des Bundesrats ersatzlos gestrichen und sämtliche medizinischen Massnahmen sollten bei der Krankenversicherung angesiedelt werden (vgl. Ziff. 1.6.3.2 der Botschaft des Bundesrats vom 22. Juni 2005 zur Änderung des IVG, BBl 2005 4459, 4540 ff.). Das Parlament folgte diesem Vorschlag nicht und sprach sich dafür aus, dass die IV weiterhin bis zum 20. Altersjahr der versicherten Person im Rahmen der beruflichen Eingliederung für die medizinischen Massnahmen aufkommen müsse. Bei den parlamentarischen Beratungen wurde festgehalten, wenn das Prinzip 'Eingliederung vor Rente' irgendwo Sinn machen sollte, dann sicher bei Kindern und Jugendlichen. Die Massnahmen, die für Minderjährige getroffen würden, müssten umfassend und differenziert sein. Sie dürften sich nicht ausschliesslich auf die Behandlung der Krankheit im engeren Sinn ausrichten, sondern müssten die Wiedereingliederung ins Zentrum setzen (Votum von Nationalrätin Jacqueline Fehr, Protokoll 05.052, S. 32). Seitens der zuständigen Kommission des Ständerats wurde grundsätzlich und ohne erkennbare Einschränkung beantragt, allfällige medizinische Massnahmen wie beispielsweise Psychotherapie für Kinder bis 20 Jahre sollten aus der IV finanziert werden (S. 106). Der Ständerat stimmte ohne weitere Diskussion zu, sodass keine Differenzbereinigung nötig war. Die Beratungen des Parlaments lassen daher darauf schliessen, dass der Gesetzgeber bei Jugendlichen bis 20 Jahren die Hürde für den Anspruch auf medizinische Massnahmen tief ansetzen wollte. Die vor der Änderung von Art. 12 Abs. 1 IVG geltende Rechtsprechung sollte für Kinder und Jugendliche jedenfalls klarerweise nicht verschärft werden. Die Praxis, wonach bei Kindern und Jugendlichen selbst bei labilem Leidenscharakter bzw. Behandlung des Leidens an sich medizinische Massnahmen übernommen wurden, wenn ohne diese eine Heilung mit Defekt ein sonstwie stabilisierter Zustand einträte, sollte beibehalten werden (vgl. dazu auch Ulrich Meyer, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum IVG, 2. A., Zürich/Basel/Genf 2010, S. 133 f.). Der seit 1. Januar 2008 in Kraft stehende Art. 12 Abs. 1 IVG ist daher nicht seinem Wortlaut getreu anzuwenden. Der dort festgeschriebene Grundsatz, dass die medizinische Massnahme nicht auf die Behandlung des Leidens an sich gerichtet sein darf, wie dies vor Inkrafttreten der 5. IVRevision praxisgemäss ausschliesslich bei über 20-Jährigen der Fall war, kann folglich
weiterhin nicht ohne weiteres auf unter 20-Jährige übertragen werden (vgl. auch den Entscheid IV 2009/443+457 des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 13. August 2010, E. 3).
Zur Beantwortung der Frage, ob bei labilen Gesundheitsverhältnissen mittels medizinischer Massnahmen einem Defektzustand vorgebeugt werden kann, welcher die Berufsbildung Erwerbsfähigkeit voraussichtlich erheblich beeinträchtigen würde, bedarf es im Allgemeinen eines fachärztlichen Berichts, der sich nicht mit einem pauschalen Hinweis auf die mögliche Verbesserung Erhaltung von Berufsund Erwerbsfähigkeit begnügen darf, sondern sich auch ausdrücklich zur Prognose zu äussern hat. Ein stabiler Defektzustand kann bereits dann zu befürchten sein, wenn das Gebrechen den Verlauf einer prägenden Phase der Kindesentwicklung derart nachhaltig stört, dass letztlich ein uneinholbarer Entwicklungsrückstand eintritt, welcher wiederum die Bildungsund mittelbar auch die Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt (Urteil I 302/05 des Eidg. Versicherungsgerichts vom 31. Oktober 2005 E. 3.2.3; bzw. 8C_269/2010 des Bundesgerichts vom 12. August 2010).
Aus den Akten ergibt sich, dass die Physiotherapie zur Behandlung der Trochleadysplasie indiziert ist, was auch die Beschwerdegegnerin explizit anerkennt. Dr. med. F. , Klinik für Orthopädische Chirurgie am Kantonsspital St. Gallen, hielt am
22. Juli 2009 fest, im Moment sei es noch zu früh, die Trochleadysplasie operativ zu behandeln. Deshalb müsse der Beschwerdeführer unbedingt mit einer Therapie und einer Bandagierung gehfähig erhalten werden, was momentan lediglich über die Physiotherapie möglich sei (IV-act. 89-3). Diese Einschätzung bestätigte Dr. B. am
28. Dezember 2009. Er empfahl die Weiterführung der physiotherapeutischen Behandlungen, um Folgeschäden, bedingt durch rezidivierende Instabilitäten bzw. Patellaluxationen mit entsprechenden Knorpelschäden, zu vermeiden. Die Physiotherapie sollte intensiviert werden. Aufgrund der psychiatrischen Nebendiagnose des Autismus sei eine selbständige Mobilisation des Beschwerdeführers nicht möglich (IV-act. 81-3 f.). Ohne Physiotherapie ist die Gefahr weiterer Patellaluxationen, die sich langfristig nachteilig auf die Gehfähigkeit des Beschwerdeführers auswirken könnten, nach Ansicht der behandelnden Ärzte also erheblich. Dr. A. wies am 18. Juni 2010 nicht nur auf den neuromuskulären, sondern auch auf den mentalen Entwicklungsrückstand des Beschwerdeführers hin. Mit der Physiotherapie könne in
Zukunft eine zu erwartende muskuläre und gelenksbedingte Frühinvalidität wohl am ehesten verhindert werden (act. G 1). Insgesamt wurde die Prognose hinreichend deutlich und bestimmt zum Ausdruck gebracht, auch wenn keine explizite Stellungnahme bei den Akten ist, ob durch die Physiotherapie eine spätere Knieoperation verhindert werden könne. Dies ist in Bezug auf die berufliche Eingliederung nicht zentral; offenkundig ist eine Stabilisierung der Patella beidseits notwendig und ist es beim aktuellen Alter und den übrigen gesundheitlichen Einschränkungen (insbesondere des noch immer bestehenden Entwicklungsrückstands) des Beschwerdeführers wesentlich, dass er ohne grössere weitere Verzögerungen einer Berufsausbildung nachgehen kann. Ein allfälliger Verlust der Gehfähigkeit würde die ohnehin schon erheblich eingeschränkten beruflichen Möglichkeiten des Beschwerdeführers (vgl. etwa den Bericht der Fachstelle für Neuropsychologie des Kinderund Jugendpsychiatrischen Dienstes I. vom 7. Mai 2009, IV-act. 60-4 f.) nochmals deutlich reduzieren. Zu beachten ist zusätzlich, dass mit der Physiotherapie nicht nur den Patella-Problemen begegnet wird, sondern dass
sie auch wegen des psychischen Geburtsgebrechens Ziff. 401 (infantiler Autismus), der Schwierigkeiten in Grobund Feinmotorik und wegen des Entwicklungsrückstands angezeigt ist. Ohne diese Behandlung droht in absehbarer Zeit im Sinn der Rechtsprechung ein Defektzustand mit Auswirkung auf Beruf und Ausbildung. Der IVrechtliche Eingliederungscharakter ist folglich gegeben. Somit ist entgegen der von
Dr. E. vom RAD am 23. Juli 2010 und vom Rechtsdienst der Beschwerdegegnerin in der Beschwerdeantwort geäusserten Ansicht nicht entscheidend, ob die Physiotherapie eine Leidensbehandlung darstellt.
4.
Gemäss den vorstehenden Erwägungen erübrigen sich weitere Abklärungen zum Kausalzusammenhang zwischen der Knieproblematik und einem der diagnostizierten Geburtsgebrechen. Da die Voraussetzungen für die Übernahme der Physiotherapiekosten gemäss Art. 12 IVG gegeben sind, muss der Anspruch gemäss Art. 13 IVG nicht weiter geprüft werden. Die Beschwerde ist unter Aufhebung der angefochtenen Verfügung vom 31. Mai 2010 gutzuheissen. Dr. B. gab am
28. Dezember 2009 an, er halte die Physiotherapie mindestens zweibis dreimal wöchentlich für indiziert (IV-act. 81-4). Ob und wenn ja, für wie lange es zu derart
häufigen Behandlungen kam und diese weiterhin nötig sind, hat die Beschwerdegegnerin abzuklären.
Das Beschwerdeverfahren ist kostenpflichtig. Die Kosten werden nach dem Verfahrensaufwand und unabhängig vom Streitwert im Rahmen von Fr. 200.bis
Fr. 1000.festgelegt (Art. 69 Abs. 1bis IVG). Eine Gerichtsgebühr von Fr. 600.erscheint
als angemessen. Die Beschwerdegegnerin unterliegt vollumfänglich, sodass ihr als nicht von der Pflicht zur Übernahme amtlicher Kosten befreiter selbstständiger öffentlich-rechtlicher Anstalt die ganze Gerichtsgebühr aufzuerlegen ist. Dem Beschwerdeführer ist der geleistete Kostenvorschuss von Fr. 600.zurückzuerstatten.
Bei diesem Verfahrensausgang hat der Beschwerdeführer Anspruch auf eine Parteientschädigung, die vom Gericht ohne Rücksicht auf den Streitwert nach der Bedeutung der Streitsache und nach der Schwierigkeit des Prozesses bemessen wird (Art. 61 lit. g ATSG; vgl. auch Art. 98 ff. VRP/SG, sGS 951.1). Der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers wurde erst im Rahmen des zweiten Schriftenwechsels beigezogen. Daher erscheint eine Parteientschädigung von pauschal Fr. 2'000.- (einschliesslich Bar auslagen und Mehrwertsteuer) dem mutmasslichen Aufwand angemessen.
Demgemäss hat das Versicherungsgericht im Zirkulationsverfahren gemäss Art. 53 GerG entschieden:
Die Beschwerde wird unter Aufhebung der Verfügung vom 31. Mai 2010 gutgeheissen. Der Beschwerdeführer hat im Sinn der Erwägungen Anspruch auf Übernahme der Physiotherapiekosten. Die Sache wird zur Verfügung über Dauer und Häufigkeit der Kostenübernahme an die Beschwerdegegnerin zurückgewiesen.
Die Beschwerdegegnerin hat die Gerichtskosten von Fr. 600.zu bezahlen. Dem Beschwerdeführer wird der geleistete Kostenvorschuss von Fr. 600.zurückerstattet.
3. Die Beschwerdegegnerin hat dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung von
Fr. 2'000.- (inkl. Barauslagen und Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.
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