Zusammenfassung des Urteils AVI 2010/24: Versicherungsgericht
Die Beschwerdeführerin B. reichte eine Voranmeldung von Kurzarbeit ein, für die die Kantonale Arbeitslosenkasse Leistungen erbrachte. Die Arbeitslosenkasse forderte später einen Teil der Leistungen zurück, da ein Fehler bei der Abrechnung aufgetreten war. Die Beschwerdeführerin legte Einspruch ein, der jedoch abgewiesen wurde. Daraufhin reichte sie eine Beschwerde ein, in der sie die Aufhebung der Entscheidung beantragte. Nach Prüfung der Sachlage entschied das Gericht, dass die Rückerstattung der Leistungen für den Monat April 2009 nicht zulässig war, jedoch die Rückerstattung für den Monat Mai 2009 gerechtfertigt war. Die Beschwerde wurde somit gutgeheissen, und die Beschwerdegegnerin musste der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung von Fr. 3'000 zahlen.
Kanton: | SG |
Fallnummer: | AVI 2010/24 |
Instanz: | Versicherungsgericht |
Abteilung: | AVI - Arbeitslosenversicherung |
Datum: | 16.12.2010 |
Rechtskraft: | - |
Leitsatz/Stichwort: | Entscheid Art. 31 ff. AVIG; Art. 53 Abs. 1 und 2 ATSG. Rückerstattung von Kurzarbeitsentschädigung. Mangels Rückkommenstitels (Wiedererwägung, prozessuale Revision) ist das Zurückkommen auf bereits rechtskräftige Leistungsabrechnungen unzulässig (Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 16. Dezember 2010, AVI 2010/24). |
Schlagwörter : | Arbeit; Leistung; Quot; Kurzarbeit; Brücke; Kurzarbeitsentschädigung; Verfügung; Brückentag; Rückforderung; Recht; Einsprache; Einspracheentscheid; Ferien; Wiedererwägung; Arbeitslosenkasse; Parteien; Revision; Verfügungen; Unrichtigkeit; Arbeitszeit; Anordnung; Entscheid; Hinweis; Arbeitszeitreglement; Auffahrt; Überzeit; Gleitzeitguthaben |
Rechtsnorm: | Art. 53 ATSG ; |
Referenz BGE: | 125 V 476; |
Kommentar: | - |
Entscheid vom 16. Dezember 2010
in Sachen
B. ,
Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt lic. iur. Peter Bürki, Auerstrasse 2, Postfach 91, 9435 Heerbrugg,
gegen
Kantonale Arbeitslosenkasse, Davidstrasse 21, 9001 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin,
betreffend
Rückerstattung von Kurzarbeitsentschädigung
Sachverhalt:
A.
Am 19. März 2009 reichte die B. eine Voranmeldung von Kurzarbeit ein. Das Amt für Arbeit erhob gegen die Auszahlung von Kurzarbeitsentschädigung für die Zeit vom 1. April bis 30. September 2009 keinen Einspruch (Verfügung vom 1. April 2009; act. G 3.1). Die Kantonale Arbeitslosenkasse erbrachte in der Folge Kurzarbeitsentschädigungsleistungen. Die Leistungen für den Monat April 2009 in der Höhe von Fr. 175'158.45 zahlte sie am 20. August 2009 (vgl. act. G 3.15) und diejenigen für den Monat Mai 2009 in der Höhe von Fr. 109'243.50 am 1. September 2009 aus (act. G 3.9; irrtümlich als Abrechnungsperiode "Juli" 2009 deklariert).
Im Schreiben vom 12. November 2009 forderte die Arbeitslosenkasse von der B. für den Monat Mai 2009 Fr. 25'366.10 zurück, da der "Auffahrtsfreitag" fälschlicherweise als Kurzarbeit abgerechnet worden sei. Gemäss korrigierter
Abrechnung betrage der Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigungsleistungen für Mai 2009 Fr. 83'877.40 (vgl. act. G 3.11). Für den Monat April 2009 machte sie wegen falsch abgezogener Mehrstunden eine Rückforderung von Fr. 92.-geltend (act.
G 3.13). Am 21. Dezember 2009 verfügte die Arbeitslosenkasse entsprechend ihrem Schreiben vom 12. November 2009 eine Rückforderung gegenüber der B. von Fr. 25'458.10 (act. G 3.15).
B.
Dagegen erhob die B. am 19. Januar 2010 Einsprache (act. G 3.16), welche die Kantonale Arbeitslosenkasse mit Entscheid vom 9. Februar 2010 abwies (act. G 3.18).
C.
Gegen den Einspracheentscheid vom 9. Februar 2010 richtet sich die vorliegende Beschwerde vom 1. März 2010. Die Beschwerdeführerin beantragt darin unter Kostenund Entschädigungsfolge dessen Aufhebung. Zur Begründung führt sie unter Hinweis auf ihr Arbeitszeitreglement im Wesentlichen aus, dass für den Freitag nach Auffahrt (22. Mai 2009) kein Brückentag, der voroder nachgeholt bzw. mit Überzeit,
Gleitzeitguthaben Ferien habe verrechnet werden müssen, gewährt worden sei. Daher sei für den fraglichen Tag zu Recht Kurzarbeitsentschädigung ausbezahlt worden. Ergänzend macht die Beschwerdeführerin geltend, dass sie ohnehin im berechtigten Vertrauen auf eine konkrete behördliche Auskunft gehandelt habe und auch aus diesem Grund eine Rückforderung unzulässig sei (act. G 1).
Die Beschwerdegegnerin beantragt in der Beschwerdeantwort vom 29. März 2010 die Beschwerdeabweisung. Sie stellt sich auf den Standpunkt, dass die Kurzarbeitsentschädigung aufgrund der von der Beschwerdeführerin eingereichten Unterlagen abgerechnet und ausbezahlt worden sei. Im Betriebskalender des Jahres 2009 werde ausdrücklich festgehalten, dass der Freitag, 22. Mai 2009, als Brückentag gelte und dass je nach Auftragslage kompensiert werde nicht. Da die Auftragslage nicht gerade erfreulich gewesen sei, habe nicht gearbeitet werden können. Daher sei der Brückentag gemäss Arbeitszeitreglement mit Überzeit, Gleitzeitguthaben Ferien zu verrechnen. Den Brückentag über die Kurzarbeitsentschädigung abzurechnen käme daher einer Umgehung des Gesetzes gleich (act. G 3).
In der Replik vom 3. Mai 2010 hält die Beschwerdeführerin unverändert an ihrer Beschwerde fest (act. G 5).
Die Beschwerdegegnerin wiederholt in der Duplik vom 7. Mai 2010 den von ihr vertretenen Standpunkt, dass die Rückforderung zu Recht erfolgt sei (act. G 7).
Erwägungen:
1.
Zwischen den Parteien ist die Rückforderung von Kurzarbeitsentschädigungen streitig.
2.
Nach Art. 95 Abs. 1 des Bundesgesetzes über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und die Insolvenzentschädigung (AVIG; SR 837.0) in Verbindung mit Art. 25 Abs. 1 des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG; SR 830.1) sind unrechtmässig bezogene Leistungen
zurückzuerstatten. Eine Leistung in der Sozialversicherung ist nach ständiger bundesgerichtlicher Rechtsprechung nur zurückzuerstatten, wenn bei eingetretener Rechtskraft der Leistungsentrichtung in verfahrensrechtlicher Hinsicht entweder die für die (prozessuale) Revision die für die Wiedererwägung erforderlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Diese Voraussetzungen sind in Art. 53 Abs. 1 und 2 ATSG umschrieben. Gemäss Art. 53 Abs. 1 ATSG müssen formell rechtskräftige Verfügungen und Einspracheentscheide in Revision gezogen werden, wenn die versicherte Person der Versicherungsträger nach deren Erlass erhebliche neue Tatsachen entdeckt Beweismittel auffindet, deren Beibringung zuvor nicht möglich war. Nach Art. 53 Abs. 2 ATSG kann der Versicherungsträger auf formell rechtskräftige Verfügungen Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese zweifellos unrichtig sind und wenn ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist. Den formell rechtskräftigen Verfügungen gleichgestellt sind auch die im formlosen Verfahren ergangenen Entscheide, soweit sie eine mit dem Ablauf der Beschwerdefrist bei formellen Verfügungen vergleichbare Rechtsbeständigkeit erreicht haben (Ueli Kieser, ATSGKommentar, 2. Auflage, Art. 53 N 28b). Leistungsabrechnungen der Arbeitslosenversicherung, die wie im vorliegenden Fall - nicht in die Form einer formellen Verfügung gekleidet werden, weisen materiell Verfügungscharakter auf (Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts [EVG; seit dem 1. Januar 2007: Sozialrechtliche Abteilungen des Bundesgerichts] vom 14. Juli 2003, C 7/02, E. 3.1; BGE 125 V 476 E. 1 und 122 V 368 E. 2 mit Hinweisen). Sind formell formlos zugesprochene Leistungen noch nicht rechtskräftig geworden, kann die Verwaltung innert 30 Tagen darauf zurückkommen, ohne dass wie dies im Fall des Zurückkommens auf rechtskräftige Verfügungen der Fall ist - die Voraussetzungen für eine Wiedererwägung Revision erfüllt sein müssen. Die Frist von 30 Tagen läuft ab Erlass der zu berichtigenden Verfügung ab Leistungsausrichtung. Sie darf nicht mit der «angemessenen Frist» von 90 Tagen verwechselt werden, die den Versicherten eingeräumt wird, um eine formelle Verfügung zu verlangen (vgl. Kreisschreiben über Rückforderung, Verrechnung, Erlass und Inkasso [KS-RVEI], April 2008, Rz A2 ff.).
3.
Aus den Akten ergibt sich nicht, dass die Beschwerdegegnerin innerhalb von 30 Tagen
nach den Auszahlungen der Kurzarbeitsentschädigungen für die Monate April und Mai
2009 auf die Leistungsabrechnungen zurückgekommen wäre. Entsprechendes wird von der Beschwerdegegnerin auch nicht geltend gemacht. Vielmehr ergingen die korrigierten Abrechnungen erst am 4. November 2009 (act. G 5.11 und G 5.13). Zu prüfen ist damit, ob ein Rückkommenstitel in Form der prozessualen Revision der Wiedererwägung vorliegt. Die Beschwerdegegnerin legte weder im Verwaltungsnoch im Beschwerdeverfahren dar, auf welchen Rückkommenstitel sie die Rückforderung stützt.
4.
Die Voraussetzungen für eine prozessuale Revision sind nicht erfüllt. Denn es fehlt vorliegend an prozessual-revisionsrechtlich relevanten Tatsachen Beweismitteln, die zur Zeit der Leistungsauszahlung vom 20. August 2009 (für den Monat April 2009) und vom 1. September 2009 (für den Monat Mai 2009) schon bestanden haben und welche die Beschwerdegegnerin unverschuldeterweise nicht in das frühere Verfahren einbringen konnte (vgl. SVR 1997 EL Nr. 36 S. 108 E. 3b/bb). Insbesondere war die Beschwerdegegnerin spätestens am 12. August 2009 im Besitz des Betriebskalenders und des Arbeitszeitreglements (act. G 5.5 f.). Die übrigen für die Leistungsberechnung für den Monat Mai 2009 erforderlichen Unterlagen gingen noch vor dem 1. September 2009 bei der Beschwerdegegnerin ein (act. G 5.7 f.).
5.
Zu prüfen bleibt, ob die Beschwerdegegnerin die Leistungsabrechnungen für den Monat April und Mai 2009 in Wiedererwägung ziehen durfte, weil sie zweifellos unrichtig sind.
Ob die Unrichtigkeit im Sinn von Art. 53 Abs. 2 ATSG zweifellos ist, beurteilt sich nicht nach der Grobheit des Fehlers. Massgebend muss vielmehr das Ausmass der Überzeugung sein, dass die bisherige Entscheidung unrichtig war. Mit dem Kriterium der Zweifellosigkeit wird dabei ein hoher Grad umschrieben, Es darf kein vernünftiger Zweifel daran möglich sein, dass eine Unrichtigkeit vorliegt; es ist ein einziger Schluss eben derjenige auf eine Unrichtigkeit möglich (Kieser, a.a.O., Art. 53 N 31 mit Hinweisen). Eine Wiedererwägung kann des Weiteren nur dann vorgenommen werden,
wenn die infrage stehende Korrektur erheblich ist. Eine erhebliche Bedeutung ist insbesondere dann noch nicht anzunehmen, wenn ein Betrag von wenigen Hundert Franken auf dem Spiel steht (Kieser, a.a.O., Art. 53 N 33 f. mit Hinweisen auf die Rechtsprechung).
Was die Rückforderung für den Monat April 2009 im Betrag von Fr. 92.-anbelangt, so kann die Frage nach der zweifellosen Unrichtigkeit mangels erheblicher Bedeutung der Berichtigung offen gelassen werden. Eine Wiedererwägung der Leistungsabrechnung für den Monat April 2009 ist daher nicht zulässig.
Die Rückforderung für den Monat Mai 2009 begründete die Beschwerdegegnerin damit, sie habe nachträglich festgestellt, dass der Auffahrtsfreitag als Kurzarbeit abgerechnet worden sei. Gemäss dem Betriebsreglement werde dieser Tag jedoch mit der Überzeit, dem Gleitzeitguthaben mit den Ferien kompensiert (act. G 3.15).
Die für diesen Fall einschlägige Bestimmung des Arbeitszeitreglements der Beschwerdeführerin mit der Überschrift "Vorund Nachholzeit" lautet: "Die ordentliche Arbeitszeit, welche auf Anordnung der Geschäftsleitung voroder nachgeholt werden muss (z.B. ein Arbeitstag zwischen zwei Feiertagen = Brückentage), wird mit der Überzeit, dem Gleitzeitguthaben (+8 ½ Std.) mit den Ferien verrechnet" (act.
G 3.6). Im Betriebskalender "Produktion 2009" vom 18. Dezember 2008 wurde festgehalten, dass der Freitag, 22. Mai 2009, je nach Auftragslage kompensiert werde (act. G 3.5).
Die Parteien streiten sich um die korrekte Auslegung bzw. Würdigung der vorstehend genannten Anordnungen. Diese Beweiswürdigung trägt notwendigerweise Ermessenszüge. Vorliegend ist der von der Beschwerdeführerin geltend gemachte Standpunkt, dass der 22. Mai 2009 kein Brückentag gewesen sei, in Würdigung der gesamten Umstände als vertretbar zu bezeichnen, zumal im Monat vor Auffahrt anders als in den Jahren 2005 und 2008 (vgl. act. G 3.16) eine ausdrückliche Anordnung eines Brückentags offenbar nicht stattfand. Dabei erscheint die Auffassung der Beschwerdeführerin nachvollziehbar, dass aufgrund der schlechten Auftragslage für die Mitarbeitenden keine Möglichkeit bestand, den allfälligen Brückentag mit der Leistung von Überstunden voroder nachzuholen, weshalb von der Anordnung eines
Brückentags und des damit wohl verbundenen Zwangs zum Bezug eines Ferientags abgesehen wurde. Scheinbar wollte es die Beschwerdeführerin den Mitarbeitenden überlassen, ob sie "eine Brücke machen" bzw. einen Ferientag beziehen lieber (Kurz-)Arbeit verrichten möchten. Damit geht einher, dass sich dem Betriebskalender "Produktion 2009" (act. G 3.5) keine vorbehaltlose Anordnung eines Brückentags entnehmen lässt. Die von der Beschwerdegegnerin ausgerichteten Kurzarbeitsentschädigungsleistungen für den Monat Mai 2009 erscheinen somit insgesamt als vertretbar, weshalb die Annahme einer zweifellosen Unrichtigkeit im Zeitpunkt der rechtskräftigen Leistungszusprechung ausscheidet. Dies gilt umso mehr, als die ursprüngliche Leistungsentrichtung nicht auf Grund falscher unzutreffender Rechtsregeln erfolgte und dabei auch nicht massgebliche Bestimmungen unrichtig angewandt wurden. Unter diesen Umständen kann offen bleiben, ob die weiteren von der Beschwerdeführerin vorgebrachten Einwände gegen den angefochtenen Einspracheentscheid zutreffend sind.
6.
In Gutheissung der Beschwerde ist der Einspracheentscheid vom 9. Februar 2010 aufzuheben. Gerichtskosten sind keine zu erheben (Art. 61 lit. a ATSG). Gemäss Art.
61 lit. g ATSG hat die obsiegende beschwerdeführende Partei Anspruch auf Ersatz der Parteikosten. Die Parteientschädigung wird vom Versicherungsgericht festgesetzt und ohne Rücksicht auf den Streitwert nach der Bedeutung der Streitsache und nach der Schwierigkeit des Prozesses bemessen (Art. 61 lit. g ATSG). In der Verwaltungsrechtspflege beträgt das Honorar vor Versicherungsgericht nach Art. 22 Abs. 1 lit. b HonO (sGS 963.75) pauschal Fr. 1'000.-bis Fr. 12'000.--. Der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin verzichtete auf das Einreichen einer Kostennote. Im vorliegenden Fall erscheint eine pauschale Parteientschädigung von Fr. 3'000.-- (inklusive Barauslagen und Mehrwertsteuer) als angemessen.
Demgemäss hat das Versicherungsgericht im Zirkulationsverfahren gemäss Art. 53 GerG entschieden:
In Gutheissung der Beschwerde wird der Einspracheentscheid vom 9. Februar 2010
aufgehoben.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
Die Beschwerdegegnerin hat der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung von
Fr. 3'000.-- (einschliesslich Barauslagen und Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
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