Zusammenfassung des Urteils AK.2017.192: Kantonsgericht
Die Staatsanwaltschaft hat Beschwerde gegen die Abweisung ihres Antrags auf Ersatzmassnahmen durch den regionalen Zwangsmassnahmenrichter erhoben. Die Legitimation zur Anfechtung solcher Entscheide wurde ihr zugesprochen, und die Beschwerde wurde fristgerecht eingereicht. Die Anordnung von Ersatzmassnahmen erfordert einen dringenden Tatverdacht sowie einen besonderen Haftgrund. Im vorliegenden Fall besteht ein dringender Tatverdacht im Zusammenhang mit sexuellen Übergriffen. Die Vorinstanz kam jedoch zu dem Schluss, dass die Aussagen der Beschwerdegegnerin glaubhafter seien als die des Beschwerdegegners. Die Anordnung von Ersatzmassnahmen, wie einem Rayon- und Kontaktverbot, wurde als angemessen erachtet und bis zum 31. August 2017 befristet.
Kanton: | SG |
Fallnummer: | AK.2017.192 |
Instanz: | Kantonsgericht |
Abteilung: | Strafkammer und Anklagekammer |
Datum: | 21.12.2017 |
Rechtskraft: | - |
Leitsatz/Stichwort: | Entscheid Art. 237, Art. 221 Abs. 1 und Art. 222 StPO (SR 312.0). Anordnung von Ersatzmassnahmen. In einem Strafverfahren wegen des Verdachts der Vergewaltigung wurde der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Anordnung eines Kontakt- und Rayonverbots durch den regionalen Zwangsmassnahmenrichter abgewiesen. Gutheissung der dagegen von der der Staatsanwaltschaft erhobenen Beschwerde durch die Anklagekammer (Anklagekammer, 13. Juli 2017, AK.2017.192). |
Schlagwörter : | Ersatzmassnahmen; Beschwerdegegner; Tatverdacht; Haftgr; Kollusionsgefahr; Person; Aussagen; Anordnung; Beschwerdegegners; Kontakt; Verfahren; Entscheid; Untersuchungs; Umstände; Quot; Verfahrens; Beschuldigte; Entscheide; Staatsanwaltschaft; Rechtsprechung; Sicherheitshaft; Personen; Zwangsmassnahmengericht; Anhaltspunkte; Tatverdachts |
Rechtsnorm: | Art. 221 StPO ;Art. 222 StPO ;Art. 237 StPO ;Art. 396 StPO ;Art. 397 StPO ; |
Referenz BGE: | 124 I 208; 132 I 21; 137 IV 122; 137 IV 22; 137 IV 230; 137 IV 87; 138 IV 148; 140 IV 19; 140 IV 74; 141 IV 190; |
Kommentar: | - |
II. 1. Gegen Entscheide des Zwangsmassnahmengerichts betreffend Ersatzmassnahmen nach Art. 237 StPO ist die Beschwerde zulässig und die Anklagekammer für deren Beurteilung zuständig (vgl. Art. 20 Abs. 1 lit. c und Art. 393 Abs. 1 lit. c StPO, Art. 237 Abs. 4 i.V.m. Art. 222 StPO, Art. 17 EG-StPO; Schmid, StPO Praxiskommentar, Art. 222 N 2, Art. 237 N 17). Im vorliegend zu beurteilenden Fall erhob die Staatsanwaltschaft Beschwerde gegen einen Entscheid des regionalen Zwangsmassnahmenrichters, mit welchem der von der Staatsanwaltschaft gestellte Antrag auf Anordnung von Ersatzmassnahmen abgewiesen wurde. Entsprechend der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zum Beschwerderecht bei haftaufhebenden Entscheiden des Zwangsmassnahmengerichts (BGE 138 IV 148 E. 3.1; BGE 137 IV 230
E. 1; BGE 137 IV 87 E. 3; BGE 137 IV 22 E. 1.3) ist der Staatsanwaltschaft die Legitimation zur Anfechtung (auch) solcher Entscheide zuzuerkennen. Die Beschwerde wurde sodann fristund formgerecht eingereicht (Art. 396 Abs. 1 StPO). Damit sind die von Amtes wegen zu prüfenden Eintretensvoraussetzungen erfüllt.
2.a) Gemäss Art. 237 Abs. 1 StPO ordnet das zuständige Gericht an Stelle der
Untersuchungsoder der Sicherheitshaft eine mehrere mildere Massnahmen an,
wenn sie den gleichen Zweck wie die Haft erfüllen. Mögliche Ersatzmassnahmen sind
u.a. die Auflage, sich nur sich nicht an einem bestimmten Ort in einem bestimmten Haus aufzuhalten (Art. 237 Abs. 2 lit. c StPO) das Verbot, mit bestimmten Personen Kontakte zu pflegen (Art. 237 Abs. 2 lit. g StPO). Die Anordnung von Ersatzmassnahmen richtet sich sinngemäss nach den Vorschriften der Untersuchungsund Sicherheitshaft (Art. 237 Abs. 4 StPO). Damit setzt die Anordnung von Ersatzmassnahmen einen dringenden Tatverdacht sowie einen besonderen Haftgrund (Flucht-, Kollusions-, Wiederholungsgefahr) voraus (vgl. Art. 221 StPO). Fehlt es an einem besonderen Haftgrund, so sind auch Ersatzmassnahmen unzulässig (BGE 140 IV 19 E. 2.1.2). Das im Vorverfahren zuständige Zwangsmassnahmengericht kann die Ersatzmassnahmen jederzeit widerrufen, andere Ersatzmassnahmen die Untersuchungsoder die Sicherheitshaft anordnen, wenn neue Umstände dies erfordern die beschuldigte Person die ihr gemachten Auflagen nicht erfüllt (Art. 237 Abs. 5 StPO).
b/aa) In Bezug auf den allgemeinen Haftgrund des dringenden Tatverdachtes müssen genügend konkrete Anhaltspunkte für eine Straftat (i.S.v. Art. 221 Abs. 1 Ingress StPO) und eine Beteiligung der beschuldigten Person an dieser Tat vorliegen. Im Haftprüfungsverfahren genügt dabei der Nachweis von konkreten Verdachtsmomenten, wonach das inkriminierte Verhalten mit erheblicher Wahrscheinlichkeit die fraglichen Tatbestandsmerkmale erfüllen könnte. Zur Frage des dringenden Tatverdachts hat das Haftgericht weder ein eigentliches Beweisverfahren durchzuführen noch dem erkennenden Sachgericht vorzugreifen. Vorbehalten bleibt allenfalls die Abnahme eines liquiden Alibibeweises (BGE 137 IV 122 E. 3.2; BGE 124 I 208 E. 3; BSK StPO - Forster, Art. 221 N 3 m.w.H.). Bei Beginn der Strafuntersuchung sind die Anforderungen an den dringenden Tatverdacht noch geringer. Im Laufe des Strafverfahrens ist ein immer strengerer Massstab an die Erheblichkeit und Konkretheit des Tatverdachts zu stellen (BGE 137 IV 122 E. 3.1 und 3.3). "Aussage-gegenAussage-Konstellationen", in welchen sich belastende Aussagen des mutmasslichen Opfers und bestreitende Aussagen der beschuldigten Person gegenüberstehen, müssen keineswegs zwingend auch nur höchstwahrscheinlich gestützt auf den Grundsatz "in dubio pro reo" zu einem Freispruch führen. Die einlässliche Würdigung der Aussagen der Beteiligten wird Sache des urteilenden Gerichts sein. Stuft die Vorinstanz gestützt auf eine summarische Beweiswürdigung die Aussagen des
mutmasslichen Opfers als glaubhafter als jene des Beschuldigten ein und folgert sie gestützt darauf, eine Verurteilung erscheine wahrscheinlich, verletzt dies kein Bundesrecht (BGE 137 IV 122 E. 3.3).
bb) Vorliegend gelangte die Vorinstanz im angefochtenen Entscheid zum Schluss, dass die Aussagen von X. zumindest bei vorläufiger Betrachtung - nicht glaubhafter als jene des Beschwerdegegners erscheinen würden. Unter den gegebenen Umständen sei angesichts der Aussage-gegen-Aussage-Konstellation nicht nur eine Verurteilung des Beschuldigten mehr als fraglich zumal bis heute keine weiteren, ausreichend konkreten Anhaltspunkte für die behauptete Straftat vorlägen sondern es sei im derzeitigen Verfahrensstadium auch das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts zu verneinen.
cc) Unbestritten ist vorliegend, dass der Beschwerdegegner und X. sexuelle Kontakte pflegten und insbesondere auch Geschlechtsverkehr miteinander hatten. Der Beschwerdegegner bestreitet jedoch im Wesentlichen, mit X. gegen deren Willen Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. In Bezug auf den angezeigten Übergriff von Anfang August 2016 liegt somit eine Aussage-gegen-Aussage-Situation vor. Entgegen der Auffassung der Vorinstanz sind die Aussagen von X. beim derzeitigen (frühen) Verfahrensstand jedoch nicht als weniger glaubhaft als jene des Beschwerdegegners einzustufen. Vielmehr ist nach der aktuellen Aktenlage ein dringender Tatverdacht gegeben. Diesbezüglich fällt in Betracht, dass hinsichtlich des Kerngeschehens grundsätzlich konsistente Schilderungen von X. vorliegen. Zwar können gewisse Darstellungen von X. bezüglich des Vorfalls (Verbleiben des Beschwerdegegners in der Wohnung nach dem angeblichen Übergriff; Aufrechterhaltung von regelmässigem Kontakt nach dem Vorfall) sowie auch die Umstände der (spät erfolgten) Anzeigeerstattung (Verdrängen des Vorfalls bis zum positiven Schwangerschaftstest; Anzeigeerstattung auf Einwirkung durch Mutter und Ex-Freund hin) durchaus als eher ungewöhnlich bezeichnet werden. Diese Umstände lassen ihre Angaben jedoch nicht als derart unglaubhaft erscheinen, dass bereits in diesem frühen Verfahrensstadium und mit Blick auf den konkreten Vorwurf ein dringender Tatverdacht zu verneinen wäre. Dies gilt insbesondere auch in Anbetracht der (grösstenteils wenig aussagekräftigen) Angaben des Beschwerdegegners, welcher in wesentlichen Teilen angibt, sich nicht erinnern zu können und ansonsten die Vergewaltigungsvorwürfe relativ unsubstantiiert
bestreitet. Ein dringender Tatverdacht ist damit aktuell zu bejahen. Ob dieser sich erhärten verflüchtigen wird, werden die weiteren Untersuchungen zu zeigen haben.
c/aa) Gemäss Art. 221 Abs. 1 lit. b i.V.m. Art. 237 Abs. 1 StPO sind Untersuchungshaft die Anordnung von Ersatzmassnahmen zulässig, wenn ernsthaft zu befürchten ist, die beschuldigte Person könnte Personen beeinflussen auf Beweismittel einwirken, um so die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen. Die strafprozessuale Haft wegen Kollusionsgefahr soll verhindern, dass die beschuldigte Person die Freiheit dazu missbrauchen würde, die wahrheitsgetreue Abklärung des Sachverhalts zu vereiteln zu gefährden. Die theoretische Möglichkeit, dass der Beschuldigte kolludieren könnte, genügt indessen nicht, um Untersuchungshaft unter diesem Titel zu rechtfertigen. Es müssen vielmehr konkrete Indizien für die Annahme von Verdunkelungsgefahr sprechen. Das Vorliegen des Haftgrundes ist nach Massgabe der Umstände des jeweiligen Einzelfalles zu prüfen. Konkrete Anhaltspunkte für Kollusionsgefahr können sich nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts namentlich ergeben aus dem bisherigen Verhalten des Beschuldigten im Strafprozess, aus seinen persönlichen Merkmalen, aus seiner Stellung und seinen Tatbeiträgen im Rahmen des untersuchten Sachverhaltes sowie aus den persönlichen Beziehungen zwischen ihm und den ihn belastenden Personen. Bei der Frage, ob im konkreten Fall eine massgebliche Beeinträchtigung des Strafverfahrens wegen Verdunkelung droht, ist auch der Art und Bedeutung der von Beeinflussung bedrohten Aussagen bzw. Beweismittel, der Schwere der untersuchten Straftaten sowie dem Stand des Verfahrens Rechnung zu tragen. Nach Abschluss der Strafuntersuchung bedarf der Haftgrund der Kollusionsgefahr einer besonders sorgfältigen Prüfung. Je weiter das Strafverfahren vorangeschritten ist und je präziser der Sachverhalt bereits abgeklärt werden konnte, desto höhere Anforderungen sind an den Nachweis von Verdunkelungsgefahr zu stellen (BGE 137 IV 122 E. 4.2; BGE 132 I 21 E. 3.2 ff.; BGer.
1B_219/2010 E. 5.1).
bb) Für Kollusionsgefahr spricht vorliegend, dass der Beschwerdegegner sich gemäss den Angaben von X. bereits während ihrer Beziehung befehlerisch, aggressiv und besitzergreifend verhalten und einen bestimmenden Einfluss auf X. ausgeübt haben soll, welche ihm wohl auch aufgrund ihrer psychischen Verfassung -
unterlegen war. Die eigenen Angaben des Beschwerdegegners vermitteln ebenfalls den Eindruck, dass dieser insbesondere auch in sexueller Hinsicht seine eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund stellte und wenig Rücksicht auf X. nahm. Sodann fällt in Betracht, dass der Tatvorwurf der Vergewaltigung schwer wiegt und ausser den Aussagen von X. keine direkten Beweismittel vorhanden sind. Das Strafverfahren befindet sich noch in einem wenig fortgeschrittenen Stadium und es sind noch weitere Untersuchungshandlungen vorzunehmen. Des Weiteren räumte der Beschwerdegegner ein, während der Schwangerschaft von X. viele Kontaktversuche per Telefon/SMS unternommen und sie damit "bedrängt" zu haben. Diese Umstände lassen die Kollusionsgefahr beim gegenwärtigen Stand des Verfahrens insgesamt nicht nur als theoretisch möglich, sondern als ernsthaft und konkret erscheinen, womit die Voraussetzungen des besonderen Haftgrundes gegeben sind. Daran vermag der lediglich vage Hinweis des Beschwerdegegners darauf, dass der Vergewaltigungsvorwurf ihm gegenüber bereits vor Erstattung der Strafanzeige durch den
(Ex-)Freund X.s geäussert worden sei, nichts zu ändern.
d) Gesamthaft ergibt sich somit, dass sowohl ein dringender Tatverdacht als auch der besondere Haftgrund der Kollusionsgefahr gegeben ist und damit die Voraussetzungen für die Anordnung von Ersatzmassnahmen erfüllt sind.
3.a) Die Ersatzmassnahmen müssen ihrerseits verhältnismässig sein. Dies gilt insbesondere in zeitlicher Hinsicht (BGE 140 IV 74 E. 2.2). Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung sind Ersatzmassnahmen nach Art. 237 Abs. 2 lit. c-g StPO sodann zeitlich zu befristen (BGE 141 IV 190 Regeste).
b) Das beantragte Rayonverbot im Umkreis von 100 Meter um den derzeitigen Wohnort von X. [Adresse], sowie das Kontaktverbot zu X. sind ohne weiteres tauglich, um der dargelegten Kollusionsgefahr zu begegnen. Die Anordnung dieser Ersatzmassnahmen ist sodann unter dem Aspekt der Verhältnismässigkeit auch zulässig und angemessen, zumal der Beschwerdegegner in [Ort] wohnhaft ist und für ihn keine (ersichtliche geltend gemachte) Notwendigkeit besteht, sich in der Nähe des Wohnortes von X. zu welcher keine Beziehung mehr besteht aufzuhalten bzw. mit dieser Kontakt aufzunehmen. Durch die Auferlegung der genannten
Ersatzmassnahmen werden die Rechte des Beschwerdegegners demzufolge nur leicht eingeschränkt. Mit Blick auf den aktuellen Verfahrensstand und die derzeit bestehenden Kollusionsrisiken rechtfertigt es sich sodann, die Ersatzmassnahmen bis vorläufig 31. August 2017 zu befristen. Bis dahin dürfte insbesondere ausreichend Gelegenheit bestehen, eine Konfrontations-Einvernahme mit dem Beschwerdegegner und X. durchzuführen.
4. Zusammenfassend ist damit festzuhalten, dass sowohl der allgemeine Haftgrund als auch der besondere Haftgrund der Kollusionsgefahr gegeben sind. Die Anordnung eines Rayonund Kontaktverbots erweist sich sodann als grundsätzlich geeignet, der Kollusionsgefahr zu begegnen und ist auch unter Verhältnismässigkeitsgesichtspunkten nicht zu beanstanden. Die Beschwerde ist demzufolge zu schützen, der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben und die beantragten (zeitlich befristeten) Ersatzmassnahmen im Sinne eines reformatorischen Beschwerdeentscheids nach Art. 397 Abs. 2 StPO anzuordnen.
Bitte beachten Sie, dass keinen Anspruch auf Aktualität/Richtigkeit/Formatierung und/oder Vollständigkeit besteht und somit jegliche Gewährleistung entfällt. Die Original-Entscheide können Sie unter dem jeweiligen Gericht bestellen oder entnehmen.
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