Art. 10 Abs. 2 und 31 Abs. 4 BV; Art. 5 Ziff. 4 EMRK; Art. 2 Abs. 2 ZGB. Unabhängig von einer gesetzlichen Grundlage in der StPO kann der Haftrichter gestützt auf das allgemeine Rechtsmissbrauchsverbot gegen missbräuchliche Haftentlassungsgesuche eine Haftprüfungssperre anordnen. Dauer der Sperrfrist.
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4.4. Der Amtsstatthalter auferlegte dem Angeschuldigten eine Sperrfrist von zwei Monaten ab Rechtskraft des angefochtenen Entscheids gegen die Einreichung persönlicher Haftentlassungsgesuche. Der Angeschuldigte rügte sinngemäss, die angeordnete Haftprüfungssperre sei unverhältnismässig und damit nicht zulässig.
4.4.1. Jede Person, der die Freiheit nicht von einem Gericht entzogen wird, hat gemäss Art. 31 Abs. 4 BV das Recht, "jederzeit ein Gericht anzurufen"; dieses entscheidet "so rasch wie möglich" über die Rechtmässigkeit des Freiheitsentzugs. Das Recht des ohne gerichtliches Urteil Inhaftierten jederzeit bzw. in vernünftigen Abständen eine richterliche Haftprüfung zu verlangen, gewährleistet einen spezifischen Aspekt der in Art. 10 Abs. 2 BV garantierten persönlichen Freiheit (Urteil des Bundesgerichts 1P.547/2005 vom 10.10.2005 E. 4 mit weiteren Hinweisen insbes. auf BGE 126 I 28 f. E. 2).
Die Untersuchungshaft stellt einen schweren Eingriff in die persönliche Freiheit dar, die ein unverjährbares und unverzichtbares Grundrecht ist. Daher können Haftentlassungsgesuche, die in Abständen von mehr als einem Monat gestellt werden, grundsätzlich auch nicht bloss deswegen als missbräuchlich angesehen werden, weil sie materiell keine Aussicht auf Erfolg haben. Die Anordnung einer Sperrfrist ist auch dann nicht gerechtfertigt und damit unverhältnismässig, solange sich das trölerische missbräuchliche Verhalten nicht in Haftentlassungsgesuchen äussert. D.h. ein solches Verhalten im übrigen Strafverfahren vermag die Anordnung einer Sperrfrist nicht zu rechtfertigen. Die Sperrfrist ist keine Sanktion für das Verhalten in der Strafuntersuchung, sondern kann einzig dazu dienen, die Behörden von missbräuchlichen Haftentlassungsgesuchen zu entlasten. Einschränkungen der in Art. 31 Abs. 4 BV bzw. Art. 5 Ziff. 4 EMRK gewährleisteten prozessualen Grundrechte der Inhaftierten sind aber zulässig, wenn sie eine gesetzliche Grundlage haben, im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sind sowie nicht in den Kerngehalt des Grundrechts eingreifen (erwähntes Urteil des Bundesgerichts vom 10.10.2005 mit zahlreichen Hinweisen). In diesem Zusammenhang äussern sich die vom Amtsstatthalter im angefochtenen Entscheid zitierten Robert Hauser, Erhard Schweri und Karl Hartmann in ihrem Lehrbuch insofern irritierend, als sie das Erfordernis der gesetzlichen Grundlage stillschweigend, nämlich gestützt auf BGE 126 I 26 ff., voraussetzen (erwähnte Autoren, in: Schweizerisches Strafprozessrecht, 6. Aufl., Basel/Genf/München 2005, § 68 N 32 und N 32a). Gemäss dem zitierten Bundesgerichtsentscheid vom 10. Oktober 2005 bedarf eine Sperrfrist allein für Haftentlassungsgesuche, die der Untersuchungsgefangene selbst und nicht sein Verteidiger verfasst, eine gesetzliche Grundlage (S. 30 E. 4a zur StPO/ ZH). Unbesehen davon ist es dem Verteidiger unbenommen, jederzeit Haftentlassungsgesuche stellen zu können bzw. im Rahmen seiner Verteidigungspflichten solche unter Umständen auch stellen zu müssen.
4.4.2. Die Luzerner StPO regelt anders als beispielsweise die Zürcher StPO - die Möglichkeit einer Haftprüfungssperre nicht. Für eine solche Einschränkung fehlt somit in der StPO eine gesetzliche Grundlage. Der Amtsstatthalter kann also bei Abweisung eines Gesuchs um Aufhebung der Haft grundsätzlich keinen Zeitpunkt bestimmen, bis zu welchem ein neues Gesuch nicht zugelassen wird. Im Strafprozessrecht gilt allerdings auch das allgemeine Rechtsmissbrauchsverbot (Art. 2 Abs. 2 ZGB). Ein Angeschuldigter darf mit der Ausübung seiner Rechte keine verfahrensfremden verfahrenswidrigen Zwecke verfolgen. In einem solchen Fall darf der Richter auch ohne besondere gesetzliche Grundlage anordnen, dass ein Angeschuldigter bestimmte Rechte nur durch seinen Verteidiger ausüben kann (BGE 126 I 31). D.h. nach der Praxis des Bundesgerichts ist ein Nichtzulassen von rechtsmissbräuchlichen, trölerischen zum Vornherein unzulässigen Haftentlassungsgesuchen bzw. -eingaben im Interesse des Funktionierens der Strafjustiz und der Verfahrensökonomie mit Verfassung und EMRK grundsätzlich vereinbar (Urteil des Bundesgerichts 1P.547/2005 vom 10.10.2005 E. 6.3).
Nach der übereinstimmenden grundrechtlichen Praxis des Bundesgerichts und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte kommt es für die Frage, welche Abstände zwischen periodischen Haftprüfungen als vernünftig anzusehen sind, auf die Verhältnisse des konkreten Falls und auf die Besonderheiten der anwendbaren Prozessvorschriften an. Gemäss dieser Rechtsprechung ist die Ansetzung einer Sperrbzw. Ausschlussfrist von einem Monat für die Einreichung neuer Haftentlassungsgesuche grundsätzlich zulässig. Sperrfristen zwischen einem und drei Monaten sind nur ausnahmsweise zulässig, falls den sich wandelnden tatsächlichen Verhältnissen auch so ausreichend Rechnung getragen werden kann (Urteil des Bundesgerichts 1P.547/2005 vom 10.10.2005 E. 6.2 mit zahlreichen Hinweisen).
4.4.3. Der Angeschuldigte reichte anfangs Juli 2006 beim Amtsstatthalteramt ein Haftentlassungsgesuch ein, das der Amtsstatthalter mit Entscheid vom 7. Juli 2006 abwies. Diesen Entscheid schützte das Obergericht als Haftprüfungsinstanz mit Entscheid vom 28. Juli 2006. Das letztmals beim Amtsstatthalteramt Sursee eingereichte Haftentlassungsgesuch datierte vom 8. August 2006. In diesem Gesuch äusserte sich der Angeschuldigte zum allgemeinen und den besonderen Haftgründen mit keinem Wort. Vielmehr grenzen seine sachfremden Ausführungen an trölerisches Verhalten, zumal aus jenem Gesuch ersichtlich ist, dass der Angeschuldigte nicht eigentlich seine Freilassung ernsthaft erreichen, sondern bloss hauptsächlich das Verfahren behindern verzögern wollte. In diesem Zusammenhang kommt das Obergericht nicht um den Eindruck herum, dass der Angeschuldigte systematisch, d.h. unabhängig von neuen wesentlichen Gesichtspunkten, zumindest jeden Monat ein Haftentlassungsgesuch zu stellen beabsichtigt, worauf die Einleitung seines Gesuchs vom 8. August 2006 indirekt hinweist. Hinzu kommt, dass der Angeschuldigte bereits elf Tage nach dem Haftrekursentscheid des Obergerichts vom 28. Juli 2006, nämlich am 8. August 2006, das Gesuch verfasst hat. Im angefochtenen Entscheid unterliess es der Amtsstatthalter allerdings, die Verhältnismässigkeit der Dauer der Sperrfrist zu begründen (Urteil des Bundesgerichts 1P.547/2005 vom 10.10.2005 E. 6.3). Seine Begründung nimmt keinen konkreten Bezug zum Stand der Untersuchung. Auch lässt sich daraus nicht entnehmen, ob die weiteren noch erforderlichen Untersuchungshandlungen frühestens nach zwei Monaten abgeschlossen sein würden. Nach der dargelegten Lehre und Praxis ist eine Ausschlussfrist von mehr als einem Monat nur in besonderen Ausnahmefällen zulässig. Selbst in einem Fall, bei dem der Inhaftierte innerhalb eines Monats drei Haftentlassungsgesuche gestellt hatte, erachtete das Bundesgericht den Erlass einer zweimonatigen Prüfungssperre für unverhältnismässig (BGE 123 I 37 ff. E. 4). Ausschlussfristen zwischen einem und höchstenfalls drei Monaten können nur in Ausnahmefällen zulässig sein (BGE 126 I 28 E. 2). Unter Berücksichtigung der gesamten Umstände, insbesondere auch der noch ausstehenden Einvernahmen und Konfrontationen, rechtfertigt es sich hier, die Sperrfrist für Haftentlassungsgesuche des Angeschuldigten auf einen Monat ab der Zustellung dieses Entscheids festzulegen. (¿)
II. Kammer, 31. August 2006 (21 06 118)