§ 10 Abs. 1 AnwG; Art. 12 BGFA. Die Standesregeln des Luzerner Anwaltsverbandes sind auch unter der Herrschaft des neuen Anwaltsgesetzes zur Auslegung bzw. Konkretisierung einer bundesrechtlich statuierten Berufspflicht heranzuziehen. Edition von Vergleichskorrespondenz.
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Als Parteivertreter in einem Scheidungsverfahren berief sich der Beschwerdeführer in der Appellationsbegründung auf die unter den Ehegatten geführten aussergerichtlichen Ver-gleichsverhandlungen und legte Teile der einschlägigen Anwaltskorrespondenz als Bewei-surkunden auf. Mit Entscheid vom 29. Mai 2002 disziplinierte ihn die Aufsichtsbehörde über die Rechtsanwälte deshalb wegen Verletzung von Berufsund Standespflichten gemäss § 13 Abs. 1 lit. a aAnwG mit einem Verweis und überband ihm die Verfahrenskosten. Gegen diesen Entscheid reichte der Beschwerdeführer am 15. Juli 2002 beim Obergericht Verwal-tungsgerichtsbeschwerde ein. Die I. Kammer des Obergerichts erwog dazu Folgendes:
6.- Der Beschwerdeführer trägt vor, das Verbot zur Preisgabe vertraulich erklärter Ver-gleichsverhandlungen sei nach neuem Recht dem rein privatrechtlichen Standesrecht zuzu-zählen. Mit dem neuen Bundesgesetz über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte seien die Berufsregeln vereinheitlicht und in Art. 12 BGFA abschliessend aufgeführt worden. Für kantonale Besonderheiten bestehe kein Raum mehr. Art. 11 der Standesregeln lasse sich unter keine der in Art. 12 BGFA statuierten Berufsregeln subsumieren. Daher könne ein Verstoss gegen diese Bestimmung unter der Herrschaft des neuen Rechts nicht weiter diszi-plinarisch sanktioniert werden.
6.1. Die Vorinstanz hat sich eingehend mit dem bereits damals vorgebrachten Einwand des Beschwerdeführers (im erstinstanzlichen Verfahren Beschwerdegegner), mit einem all-fälligen Verstoss gegen Art. 11 der Standesregeln des LAV (Vertraulichkeit von Vergleichs-verhandlungen) sei kein disziplinarrechtlich relevanter Tatbestand erfüllt, befasst. Sie ist zum Schluss gekommen, dass die in Art. 11 statuierte Pflicht zur Vertraulichkeit von Vergleichs-verhandlungen nicht rein internes Verbandsrecht der Rechtsanwälte betreffe, sondern auch im öffentlichen Interesse liege, weshalb eine Verletzung derselben disziplinarrechtlich ge-ahndet werden könne. An diesen Ausführungen, die übrigens seitens des Beschwerdefüh-rers unangefochten geblieben sind, kann auch unter der Herrschaft des neuen Anwaltsrech-tes festgehalten werden. Es ist dem Beschwerdeführer zwar darin zuzustimmen, dass eines der Ziele des Bundesgesetzes über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte war, die zwischen den Kantonen bestehenden Unterschiede bei den Berufsregeln zu beseitigen, weshalb die Berufsregeln für den Anwaltsberuf auf Bundesebene vereinheitlicht und in Art. 12 BGFA abschliessend formuliert wurden (BBl 1999, VI, S: 6018, 6054). In der Botschaft zum Bundesgesetz über die Freizügigkeit der Anwältinnen und Anwälte vom 28. April 1999 wurde dazu ausgeführt, indem das vorliegende Gesetz die Berufsregeln für die Anwaltstätig-keit auf Bundesebene festlege, trage es zur Klärung der Beziehung zwischen den Berufsre-geln und den Standesregeln in der ganzen Schweiz bei. Die Standesregeln seien aber nach wie vor nützlich, um die eidgenössischen Berufsregeln und die Verpflichtungen der Anwältin-nen und Anwälte bei der Mandatsführung zu präzisieren (BBl 1999, VI, S: 6054). Die Stan-desregeln des Luzerner Anwaltsverbandes sind somit auch unter der Herrschaft des neuen Anwaltsgesetzes zur Auslegung bzw. Konkretisierung einer bundesrechtlich statuierten Be-rufspflicht heranzuziehen (Urteil des Bundesgerichts vom 18.8.2000 in Sachen A. gegen Anwaltskammer und Kantonsgericht des Kantons St. Gallen [2P.125/2000/leb] E. 2e).
6.2. Wie die Vorinstanz unwidersprochen festgehalten hat, ist Art. 11 der Standesre-geln systematisch nicht bei den Pflichten gegenüber den Kollegen bzw. der Gegenpartei, sondern bei den allgemeinen Pflichten des Anwaltes eingeordnet. Zu diesen allgemeinen Pflichten gehöre die Vermeidung unnötiger Prozesse. Die Verpflichtung zur Vertraulichkeit von Vergleichsverhandlungen verfolge das gleiche Ziel wie die Verpflichtung zur Vermeidung unnötiger Prozesse. Art. 11 der Standesregeln fördere demnach die gütliche Beilegung von Streitigkeiten, indem die Parteien auf Vergleichsofferten nicht behaftet werden dürften. Ein allfälliger Verstoss gegen die Pflicht zur vertraulichen Behandlung von Vergleichsverhand-lungen stellt demnach eine Verletzung der in der Generalklausel von Art. 12 lit. a BGFA ent-haltenen Pflicht zur Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit bei der Berufsausübung dar (vgl. auch BBl 1999, VI, S. 6054, wonach gemäss dieser Bestimmung von den Anwältinnen und An-wälten bei ihrer gesamten Anwaltstätigkeit ein korrektes Verhalten verlangt wird), die gemäss § 10 Abs. 1 AnwG zu ahnden ist.
7.- Der Beschwerdeführer bestreitet eine Verletzung von Art. 11 der Standesregeln. Die Anwendung dieser Regel mache Sinn, wenn eine Vereinbarung zwischen den Parteien nicht zustande komme. Die Bestimmung könne aber nicht zur Anwendung gelangen, wenn ein Vergleich zustande gekommen sei, sich daraus aber ein Auslegungsstreit entwickle. Die Anwendung von Art. 11 der Standesregeln habe in diesem Fall die Wirkung eines Beweis-mittelverbots im Streit um die Auslegung des abgeschlossenen Vergleichs. Es gebe keinen Grund, die Ermittlung des wirklichen übereinstimmenden Parteiwillens durch ein standes-rechtliches Beweismittelverbot zu erschweren. Dies lasse sich weder mit Art. 18 OR noch mit dem verfassungsmässigen Recht auf Beweis vereinbaren. Gestützt auf Treu und Glauben sei zudem davon auszugehen, dass jede Partei, die einen Vergleich unterzeichne, still-schweigend auch ihr Einverständnis dazu gebe, dass zur Ermittlung des übereinstimmenden Parteiwillens sämtliche vorhandenen Beweismittel zugezogen werden könnten. Der Be-schwerdegegner habe sich im erstinstanzlichen Scheidungsverfahren wider besseres Wis-sen auf eine Leseart des Vergleichs berufen, die im diametralen Gegensatz zum überein-stimmenden Willen der Parteien gestanden habe. Im Rahmen des Appellationsverfahrens habe der Beschwerdeführer die als vertraulich bezeichnete Vergleichskorrespondenz aufge-legt, um den wirklichen Willen der Parteien im Zeitpunkt des Vertragsschlusses zu beweisen. Es könne nicht Sinn und Zweck von Art. 11 der Standesregeln entsprechen, treuwidrig han-delnde Parteien in Schutz zu nehmen.
7.1. Dieser Argumentation des Beschwerdeführers kann nicht gefolgt werden. Insbe-sondere ist nicht einzusehen, inwiefern die Anwendung der Bestimmung von Art. 11 der Standesregeln davon abhängig sein sollte, ob ein Vergleich zustande gekommen ist nicht. In beiden Fällen geht es darum, die Parteien vor der Verwendung von vorprozessualen Vorbringen und Zugeständnissen in einem späteren Prozess zu schützen. Vergleichsver-handlungen würden erheblich erschwert wenn nicht verunmöglicht, wenn eine Partei damit rechnen muss, dass vertrauliche Mitteilungen später preisgegeben und gegen sie verwendet werden könnten. Das in Art. 11 der Standesregeln statuierte Verwertungsverbot von Ver-gleichsverhandlungen vor dem Richter bezweckt den Schutz der Vergleichsbereitschaft und muss sich somit auch auf Vergleichsverhandlungen erstrecken, die zwar zum Abschluss eines Vergleichs führten, dessen Inhalt aber streitig und durch Auslegung zu ermitteln ist. Auch bei einem Auslegungsstreit kann die richterliche Auslegung durch das Bekanntwerden von Positionen, die eine Partei im Verlauf von Vergleichsverhandlungen zu streitigen Fragen eingenommen hat, beeinflusst werden, so dass hier ebenfalls ein Interesse an Geheimhal-tung besteht. Dem erwähnten Schutz der Vergleichsbereitschaft trägt übrigens auch der Ge-setzgeber Rechnung, indem nach § 193 Abs. 2 ZPO beim Aussöhnungsversuch vor dem Friedensrichter weitere Vorbringen der Parteien (gemeint ist der Inhalt der Vergleichsgesprä-che) im Interesse einer möglichst grossen Offenheit der Beteiligten weder protokolliert noch im Prozess berücksichtigt werden dürfen (Eiholzer Heiner, Die Streitbeilegungsabrede, Diss. Freiburg 1998, S. 250, FN 688; Vogel, Grundriss des Zivilprozessrechts, Bern 2001, S. 308 N 18).
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers kann weiter nicht davon ausgegan-gen werden, dass jede Partei, die einen Vergleich unterzeichnet, stillschweigend mit einem Beizug sämtlicher Beweismittel zur Ermittlung des übereinstimmenden Parteiwillens einver-standen sei. Da Vergleichsverhandlungen gemäss Art. 11 der Standesregeln ausdrücklich nur dann als vertraulich anzusehen sind, wenn dies von der betroffenen Partei klar zum Aus-druck gebracht wurde (Fellmann/Sidler, Standesregeln des Luzerner Anwaltsverbandes, Bern 1996, N 1 zu Art. 11, S. 29), kann ein solches stillschweigendes Einverständnis gerade nicht vermutet werden.
7.2. Wie erwähnt, beinhaltet Art. 11 der Standesregeln insofern ein Verwertungsbzw. Beweisverbot, als die vorprozessuale Korrespondenz zwischen den Parteianwälten dem Gericht nicht unterbreitet werden darf, wenn sie ausdrücklich als vertraulich bezeichnet wur-de, was hier unbestritten der Fall ist. Dadurch kann die Beweisführung erschwert werden, sie wird aber nicht verunmöglicht, weshalb der verfassungsmässige Beweisanspruch gewahrt ist. Die Vorinstanz hat im angefochtenen Entscheid darauf hingewiesen, dem Beschwerde-führer seien prozessual mehrere Möglichkeiten offen gestanden, vor Obergericht die nach seiner Auffassung falschen Behauptungen der Gegenpartei zu widerlegen und die angebli-che erstinstanzliche Fehlinterpretation des Teilkonveniums zu korrigieren. So hätte er im Appellationsverfahren die Edition der Vergleichskorrespondenz beantragen und im Falle der Weigerung des Beschwerdegegners bei der Aufsichtsbehörde über die Rechtsanwälte ein Gesuch um Befreiung vom Offenbarungsverbot einreichen können. Weiter hätte er die Par-teibefragung beantragen können, die unter Hinweis auf ein mögliches Strafverfahren bei Fal-schaussage erfolge, in welchem die Korrespondenz ohnehin hätte offen gelegt werden müs-sen und dürfen. Schliesslich sei es auch nicht notwendig gewesen, die ganze Korrespon-denz bekannt zu geben. Diesen Ausführungen, mit denen sich der Beschwerdeführer im Übrigen nicht auseinandergesetzt hat, kann vollumfänglich zugestimmt werden.
Somit kann der Beschwerdeführer mit seinem Einwand, Art. 11 der Standesregeln nicht verletzt zu haben, nicht gehört werden.
I. Kammer, 5. November 2002 (11 02 100)